BGE 101 IB 166 vom 7. Mai 1975

Datum: 7. Mai 1975

Artikelreferenzen:  Art. 5 EntG, Art. 19 EntG, Art. 20 EntG, Art. 684 ZGB , Art. 19 lit. c EntG, Art. 19 lit. a EntG, Art. 19 lit. b EntG, Art. 24septies BV

BGE referenzen:  94 I 286, 95 I 490, 108 IB 492, 109 IB 268, 111 IB 97, 112 IB 124 , 94 I 286, 95 I 490

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

101 Ib 166


31. Auszug aus dem Urteil vom 7. Mai 1975 i.S. Säurefabrik Schweizerhall und Chemische Fabrik Schweizerhall gegen Kanton Basel-Landschaft und Eidg. Schätzungskommission 7. Kreis

Regeste

Enteignung. Art. 19 EntG .
1. Bewertung von Waldboden unmittelbar neben einer Industriezone (E. 1).
2. Was der Enteignete aus eigenem Antrieb aufwendet, um eine Rechtspflicht zu erfüllen oder eine Haftpflicht zu vermeiden, ist weder nach lit. b noch lit. c von Art. 19 EntG zu entschädigen (E. 3).

Erwägungen ab Seite 166

BGE 101 Ib 166 S. 166
Aus den Erwägungen:

1. Die Bewertung des Waldbodens mit Fr. 2,50/m2 geht von der Annahme aus, dass die Möglichkeit einer besseren Verwendung praktisch auszuschliessen ist. Die Beschwerdeführerinnen bestreiten dies: bei den gegebenen Verhältnissen hätten sie eine Bewilligung zur Rodung und Abtragung der Böschung erhalten und das Fabrikareal für die Zwecke des Unternehmens entsprechend erweitern können.
a) Die ESchK legt eingehend und zutreffend dar, weshalb sie diese Auffassung nicht teilt: Für die Rodung und die Vergrösserung
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des Fabrikareals hätten nur private Interessen angeführt werden können, die nicht genügt hätten. Wohl wurde das ursprüngliche Waldgebiet zwischen Muttenz, Basel und dem Rhein schon mehrfach vermindert, im Gebiet von Schweizerhalle sogar für Zwecke der Industrie. In neuerer Zeit geschah dies aber nur noch zur Erfüllung wichtiger öffentlicher Aufgaben, so für den Bau des Auhafens und des Rangierbahnhofes Muttenz und zuletzt für die Anlage der Nationalstrasse N 2. Gerade mit Rücksicht auf solche unvermeidlichen Eingriffe darf dieser Wald nicht auch noch privaten Interessen geopfert werden, wenn er nicht ganz verschwinden soll, was angesichts seiner Bedeutung im hochindustrialisierten Raum östlich von Basel nicht zu verantworten wäre. Daher ist ohne jeden Zweifel die Feststellung der zuständigen Forstorgane, eine Verminderung des Waldes zu privaten Zwecken wäre nicht erlaubt worden, ernst gemeint und sie hätte auch den richterlichen Schutz gefunden.
b) Die Einwände der Beschwerdeführerinnen hiegegen vermögen nicht zu überzeugen. Insbesondere ist ohne Bedeutung, dass sie den kleinen Waldabschnitt, der durch die Autobahn vom übrigen Wald abgetrennt wurde, ohne vorgängige Erlaubnis gerodet und auf das Niveau des Fabrikareals abgesenkt haben. Mit der nachträglichen Bewilligung des selbstherrlichen Vorgehens haben die zuständigen Behörden keineswegs anerkannt, dass sie auch ohne die besondere durch das Werk entstandene Lage entsprechende Bewilligungen erteilt hätten. In der Tat wäre es nachträglich wenig sinnvoll gewesen, eine Wiederaufforstung zu verlangen, zumal ja das kleine isolierte Waldstück kaum mehr hätte vernünftig bewirtschaftet werden können. Zweifellos ist die so erreichte Vergrösserung des Fabrikareals dem Bau der Autobahn zu verdanken. Demnach hat die ESchK mit Recht von einer Anwendung des Art. 20 EntG abgesehen und den Wert des Waldbodens auf Grund der heutigen Nutzung bestimmt.
c) Erstmals in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde meldet die Säurefabrik einen Anspruch von Fr. 16'300.-- mit der Begründung an, der Enteigner habe rund 10 000 m3 des im Strassenareal abgebauten Kieses verwenden können. Sie sagt nicht, aus welcher Gesetzesbestimmung sie ihren Anspruch herleitet. Jedenfalls fallen weder Art. 19 lit. b (Minderwert der Restparzelle) noch Art. 19 lit. c EntG in Betracht; die zweite Bestimmung
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nicht, da aus der Wiederverwendung des im Strassentrasse abgebauten Materials der Beschwerdeführerin kein "weiterer Nachteil" entstanden sein kann. Der Anspruch kann sich aber offensichtlich auch nicht auf Art. 19 lit. a EntG stützen, wonach der Verkehrswert zu entschädigen ist, d.h. der Wert, den die Sache für einen beliebigen Käufer besitzt (HESS, N. 3 zu Art. 19 EntG ). Keinen Einfluss auf den Verkehrswert hat nämlich das Interesse, das der Enteigner selbst an der Sache hat. Es kommt daher nicht darauf an, welchen Vorteil ihm das Enteignungsobjekt verschafft. Das Kiesvorkommen im enteigneten Boden wäre im Verkehrswert, unabhängig vom Nutzen für den Enteigner, zu berücksichtigen gewesen, wenn ein allfälliger Käufer - oder die Säurefabrik selbst - das Kiesvorkommen hätte ausbeuten können. Dass dies indes nicht möglich gewesen wäre, wurde bereits dargelegt.

3. Die Säurefabrik Schweizerhall macht weiter geltend, mit Rücksicht auf die Nationalstrasse, die an der Grenze ihres Areals verläuft, habe sie an ihrer Betriebseinrichtung kostspielige Änderungen vornehmen, vor allem das Freiwerden von Schwefeltrioxyd (SO3) verhindern müssen, welches zwar nicht gesundheitsschädlich sei, aber Nebel bilden könne. Sie habe die Gefahr einer dadurch verursachten Eisbildung in der benachbarten Autobahngalerie nicht auf sich nehmen können. Die entsprechenden Schutzaufwendungen beziffert sie auf Fr. 532'000.--. Sie scheint ihren Anspruch mit der Bezeichnung Inkonvenienz auf Art. 19 lit. c EntG stützen zu wollen. Die Berufung auf BGE 94 I 286 und BGE 95 I 490 lässt allerdings vermuten, dass sie eher an eine Entschädigung nach Art. 19 lit. b EntG denkt, denn die beiden Urteile betreffen die Enteignung von Nachbarrechten.
a) Die Säurefabrik behauptet nicht, der Enteigner habe ihr zur Vermeidung schädlicher Einwirkungen auf die Nationalstrasse Auflagen gemacht. Vielmehr handelte sie aus eigenem Antrieb und ohne sich vorher zu vergewissern, ob der Enteigner bereit sei, für die entsprechenden Kosten gutzustehen. Ob dieser ihr später einmal hätte Auflagen machen oder sie für allfällige Schäden haftbar erklären müssen, oder ob gegebenenfalls mit Verantwortlichkeitsklagen Dritter zu rechnen gewesen wäre, ist nicht zu entscheiden, da es sich um reine Spekulationen handelt.
b) In der angerufenen Rechtsprechung ging es darum, auf
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Grund des Art. 5 EntG die Verletzung von Nachbarrechten aus Art. 684 ZGB enteignungsrechtlich abzugelten. Denn der Nachbar einer Autobahn kann sich gegen Eingriffe, die ihn in Form von Lärm, Staub und Abgasen in der ungestörten Eigentumsausübung übermässig beeinträchtigen, nicht negatorisch zur Wehr setzen; statt dessen hat er Anspruch auf Entschädigung. Die Säurefabrik beansprucht hingegen einen Schutz dafür, dass sie als Verursacherin von Einwirkungen auf die Nachbarschaft nicht gestört wird, d.h. dass sie wegen der Autobahn nicht erhöhten Anforderungen unterstellt wird. Die verlangte Entschädigung soll ausgleichen, dass sie sich dem aus dem Bestehen der Strasse folgenden Zwang auf Verminderung von schädlichen Emissionen anpassen muss.
Doch lässt sich ein solcher Anspruch weder aus Art. 684 ZGB noch aus der Rechtsprechung zu Art. 5 EntG zum Schutz der Nachbarrechte ableiten. Zwar untersagt Art. 684 ZGB nicht jede Einwirkung auf die Nachbarschaft. Verboten sind nur übermässige Einwirkungen; deren zulässiges Mass ergibt sich aus der Lage und dem Ortsgebrauch, die sich beide ändern können. Der auf andere Grundstücke einwirkende Eigentümer hat sich anzupassen. Zu seinen Gunsten entsteht kein wohlerworbenes Recht, auch nicht aus Priorität und Vorbestand (HAAB, N 19 zu Art. 684). Art. 684 ZGB verschafft dem Nachbar ein Recht auf Schutz vor Störung und nicht ein Recht darauf, stören zu dürfen. Daher ist auch die Anwendung des Art. 5 EntG zum Schutze des nachbarlichen Störers ausgeschlossen.
c) Bei der Betrachtung der polizeilichen Verpflichtungen des Störers ist das Ergebnis dasselbe: Die allgemeine polizeiliche Pflicht zum Nichtstören lässt sich nicht zu einem Recht, stören zu können, umbilden, nur weil zu Gunsten des Störers eine gewisse Toleranz besteht (OFTINGER, Lärmbekämpfung als Aufgabe des Rechts, S. 53). Eine Verschärfung der polizeilichen Vorschriften oder deren strengere Handhabung stellen keinen Eingriff in die Eigentumsfreiheit dar, welcher eine Enteignungsentschädigung auslöst.
aa) Der Industrie - nicht zuletzt der chemischen - wurde früher oft ein hohes Mass an Duldung zugebilligt. Es wurden Immissionen in Kauf genommen, die ganze Gebiete und nicht bloss die unmittelbaren Nachbarn trafen und die quantitativ weit über das hinausgingen, was unter Nachbarn zu dulden ist. Was man lange Zeit im Interesse der Volkswirtschaft hinnahm,
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duldet man aber heute offensichtlich weniger willig. Man ist sich bewusst geworden, dass die Unabänderlichkeit der von der Industrie ausgehenden Beeinträchtigungen relativ ist, denn mit einem erhöhten Aufwand lässt sich die Lage oft erheblich bessern. Soweit sich das ohne unzumutbare, untragbare Investitionen erreichen lässt, ist ein Unternehmen auch zu einem entsprechenden Tun polizeilich verpflichtet. Die Toleranz gegenüber dem Störer vermindert sich um das zumutbar Vermeidbare.
bb) Der Augenschein hat ergeben, dass die Säurefabrik Schweizerhall sich tatsächlich um einen saubern Betrieb bemüht. Lästige Dünste fehlen, weil die Fabrikationsprozesse sich in geschlossenen Kreisläufen abspielen und durch automatische Sicherheitsvorrichtungen überwacht werden. Die Verhinderung des Schwefeltrioxydaustritts und damit der Nebelbildung erscheint hier eher als Einzelproblem. Die Gesamtkonzeption, nach welcher die Säurefabrik ihren ganzen Betrieb gestaltete, hätte eine Ausklammerung gerade des SO3 wohl kaum erlaubt. Diese Feststellung soll das Verdienst des Unternehmens keinesfalls schmälern. Es hat beispielhaft bewiesen, dass Immissionen aus Industrieanlagen nicht als Schicksal hinzunehmen sind. Daraus ergibt sich aber auch eine dauernde Pflicht zu entsprechender Anstrengung. Ohnehin weiss man noch wenig über die Belastbarkeit der Atmosphäre selbst mit sogenannten harmlosen Stoffen; früherer Optimismus wurde jedenfalls schon stark gedämpft. Jede vermeidbare Luftverschmutzung ist im Zweifel grundsätzlich unrechtmässig ( Art. 24septies BV ).
d) Die Säurefabrik Schweizerhall beruft sich schliesslich auch auf Art. 19 lit. c EntG . An sich trifft zu, dass danach zur vollen Entschädigung auch die Vergütung aller weitern dem Enteigneten verursachten Nachteile, die sich nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge als Folge der Enteignung voraussehen lassen, gehört. Dabei ist gleichgültig, ob der Schaden eine Folge der Enteignung oder des Werkes ist. In jedem Falle muss es sich aber um einen Nachteil handeln, der dem Enteigneten zugefügt wurde und den er sich nicht selbst verursacht. Aufwendungen, die der Enteignete aus eigenem Antrieb auf sich nimmt, fallen keinesfalls darunter, auch solche nicht, die er in Erfüllung einer Rechtspflicht oder zur Vermeidung einer Haftpflicht vorsorglich macht.

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