BGE 101 II 36 vom 23. Januar 1975

Datum: 23. Januar 1975

Artikelreferenzen:  Art. 562 ZGB, Art. 278 OR, Art. 284 OR , Art. 617 ZGB, Art. 522 Abs. 2 und Art. 608 Abs. 3 ZGB, Art. 562 Abs. 2 ZGB, Art. 278 und 284 OR

BGE referenzen:  116 II 117, 117 II 145, 125 III 219, 141 III 522, 144 III 277 , 100 II 445

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

101 II 36


10. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 23. Januar 1975 i.S. Borsa und Scardanzan gegen Palmer und Mitbeteiligte.

Regeste

Erbteilung; Entschädigung für die Nutzung einer Erbschaftssache durch einen Erben.
Wird einem Erben durch Teilungsvorschrift eine Sache zugewiesen, so hat er erst im Zeitpunkt der Erbteilung Anspruch auf Zuteilung. Kann er die Sache schon vorher nutzen, so hat er die übrigen Erben dafür zu entschädigen. Grundsätze für die Bemessung einer solchen Entschädigung, wenn die Sache zu einem bestimmten Anrechnungswert zugewiesen worden ist.

Sachverhalt ab Seite 37

BGE 101 II 36 S. 37
Aus dem Tatbestand:

A.- Die Eheleute Pietro Scardanzan, geb. am 18. Oktober 1886, und Anna Maria Scardanzan-Rossi, geb. am 21. Mai 1895, betrieben in Davos das Restaurant "Gemsli". Von 1945 an überliessen sie die Führung des Restaurants ihrer Tochter Emma, wohnten aber weiterhin dort. Pietro Scardanzan starb am 6. Mai 1959, seine Ehefrau am 20. Januar 1961. Erben der beiden Ehegatten sind zwei Kinder aus erster Ehe des Ehemannes (Maria Borsa-Scardanzan und Egidio Scardanzan), eine voreheliche Tochter der Ehefrau (Luise Palmer-Rossi) sowie vier gemeinsame Kinder (Emma Renner-Scardanzan, Ida Kindschi-Scardanzan, Alice Martell-Scardanzan und Anita Meier-Scardanzan). Das "Gemsli" wird seit dem Tod der Eltern weiterhin von Emma Renner betrieben.
Am 11. August 1950 hatten die Ehegatten Scardanzan-Rossi vor dem Kreisnotar Davos einen Erbvertrag abgeschlossen, in welchem sie unter anderem das "Gemsli" zu einem Anrechnungswert von Fr. 40'000.-- ihrer Tochter Emma zuwiesen.
In einem Nachtrag von 20. März 1959 erhöhten sie den Anrechnungswert auf Fr. 42'000.--.

B.- Als sich die Erben nach dem Tod der Eheleute Scardanzan über die Teilung des Nachlasses nicht verständigen konnten, erhoben Maria Borsa-Scardanzan und Egidio Scardanzan am 4. Juli 1966 beim Bezirksgericht Oberlandquart gegen die übrigen Erben Klage, mit der sie unter anderem verlangten, Emma Renner seien die seit dem Jahre 1945 nicht bezahlten Pachtzinse aus dem Betrieb des Restaurants "Gemsli" als Vorbezug anzurechnen. Das Bezirksgericht gab
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diesem Begehren teilweise statt und belastete Emma Renner für die Jahre 1966 bis 1973 mit einem jährlichen Pachtzins von Fr. 2'500.--. Demgegenüber verneinte das Kantonsgericht Graubünden in seinem Urteil vom 13. Dezember 1973, dass Emma Renner zur Bezahlung eines Pachtzinses zu verpflichten sei.

C.- Mit der vorliegenden Berufung ans Bundesgericht halten die Kläger daran fest, dass Emma Renner der Erbengemeinschaft für den Betrieb des "Gemsli" einen Pachtzins zu bezahlen habe.
Das Bundesgericht heisst die Berufung teilweise gut und weist die Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an das Kantonsgericht zurück.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3. In zweiter Linie verlangt die Berufung, Emma Renner sei mit einem für die Liegenschaft "Gemsli" zu entrichtenden Pachtzins zu belasten, der zu den Nachlassaktiven hinzuzurechnen sei. Dabei ist der Anspruch für die Zeit von 1945 bis zum Tode der Eltern Scardanzan an der Berufungsverhandlung fallen gelassen und nur noch für die Zeit ab 1961 bis zur Teilung der Erbschaft aufrechterhalten worden. Nur in diesem beschränkten Umfang ist das Begehren der Berufungskläger noch zu prüfen.
Die Zuweisung der Liegenschaft "Gemsli" an die Tochter Emma Renner-Scardanzan ist im Erbvertrag ausdrücklich als Teilungsvorschrift bezeichnet worden. Sie ist ohne jeden Zweifel, auch im Hinblick auf die Bestimmungen von Art. 522 Abs. 2 und Art. 608 Abs. 3 ZGB , als solche und nicht etwa als Vermächtnis zu betrachten. Ein Vermächtnis liegt lediglich in der Differenz zwischen dem im Erbvertrag festgesetzten Anrechnungspreis von Fr. 42'000.-- und dem in Wirklichkeit höheren Verkehrswert der Liegenschaft ( BGE 100 II 445 ). Handelt es sich aber um eine Teilungsvorschrift, so hat der Erbe erst im Augenblick der Erbteilung Anspruch auf Zuteilung der ihm zugewiesenen Erbschaftssache. Das ergibt sich für Grundstücke aus der Bestimmung von Art. 617 ZGB ( BGE 70 II 269 ), gilt aber auch als allgemeine Regel für sämtliche Erbschaftssachen (TUOR/PICENONI, N 11, ESCHER, N. 2 a.E. zu Art. 617 ZGB ). Eine Ausnahme hat das Bundesgericht im zitierten Entscheid BGE 70 II 267 ff. lediglich für den Fall gemacht,
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da der Erblasser ausdrücklich einen andern Zeitpunkt als jenen der Erbteilung für die Übernahme und für die Wertberechnung massgebend erklärt hat. Ein solche Anordnung wurde im erwähnten Fall darin erblickt, dass der Erblasser einer Erbin eine Liegenschaft zu einem bestimmten Anrechnungswert zugewiesen und bestimmt hatte, auf den Anrechnungswert sei die Hypothekarschuld mit Zins bis zum Todestag anzurechnen. In der Formulierung "Zins bis zum Todestag" erblickte das Bundesgericht die Festsetzung eines bestimmten Stichtages für die Abrechnung. Damit habe der Erblasser klargestellt, dass die Übernehmerin die Liegenschaft mit dem Todestag mit Nutzen und Schaden erhalten solle. Ganz anders verhält es sich hier, wo im Erbvertrag lediglich verfügt wird, die Liegenschaft solle "nach dem Ableben beider Ehegatten" an Emma Renner übergehen. Damit haben die Partner des Erbvertrages keineswegs einen bestimmten Stichtag festgesetzt. Da sie die Zuweisung der Liegenschaft ausdrücklich als Teilungsvorschrift bezeichneten, lässt sich die Formulierung "nach dem Ableben beider Ehegatten" zwangloser und zutreffender als gleichbedeutend etwa mit "bei der Erbteilung" auslegen.
Diese Betrachtungsweise entspricht auch dem Erfordernis von Billigkeit und Gerechtigkeit. Andernfalls ergäbe sich, dass Emma Renner eine Erbschaftssache, deren Nettowert ihren Erbteil weit übersteigt, während mehr als 10 Jahren nach dem Tode der Eltern unentgeltlich hätte nutzen dürfen, während alle übrigen Erben bis zur Erbteilung zuwarten mussten. Darin läge eine weitere ausserordentliche Begünstigung der Erbin Emma Renner, die nur zugelassen werden könnte, wenn sie sich ausdrücklich aus der Verfügung der Erblasser ergäbe. Das ist aber nicht der Fall.
Emma Renner kann daher die Zuweisung der Liegenschaft erst auf den Zeitpunkt der Erbteilung beanspruchen. Bis dahin steht diese im Gesamteigentum der Erbengemeinschaft, die die Lasten zu tragen hat und den Nutzen beanspruchen kann. Das bedeutet, dass sich Emma Renner für die Zeit vom Tode der Mutter bis zur Erbteilung einen Pachtzins belasten lassen muss. Bei der Bemessung dieses Pachtzinses ist allerdings weder auf den Verkehrswert der Liegenschaft noch auf den erzielten Umsatz, sondern auf den Anrechnungswert von Fr. 42'000.-- abzustellen. Die Differenz zwischen Anrechnungs-
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und Verkehrswert ist nämlich nach dem bereits Gesagten als Vorausvermächtnis zu betrachten. Nach Art. 562 Abs. 2 ZGB wird aber der Vermächtnisanspruch nicht erst bei der Erbteilung fällig, sondern sobald der Beschwerte die Erbschaft angenommen hat oder sie nicht mehr ausschlagen kann. Emma Renner hätte somit den Betrag, um den der Wert der Liegenschaft den Anrechnungspreis überstieg, schon im Jahre 1961 beanspruchen dürfen. Sie kann daher nicht verpflichtet werden, diesen Betrag zu verzinsen, wenn sie die Liegenschaft schon vom Todestag an nutzen konnte. Im übrigen haben die Eheleute Scardanzan mit der Festsetzung des Anrechnungswertes auf Fr. 42000.-- unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass dieser Wert für die gesamte Regelung des Nachlasses massgebend sein soll.
Ferner ist festzuhalten, dass die Argumentation des Bezirksgerichtes, die vor 1966 entstandenen Pachtzinsforderungen seien verjährt, unhaltbar ist. Abgesehen davon, dass die Verjährung nicht erst durch die Klageeinreichung im Jahre 1966, sondern schon am 4. August 1965 durch Betreibung unterbrochen worden war, wirkte sich diese Unterbrechung auf alle weniger als fünf Jahre vorher entstandenen Forderungen aus, so dass ab dem Todestag der Anna Scardanzan-Rossi (20. Januar 1961) keine Pachtzinsforderung verjähren konnte.
Im übrigen sind für die Bemessung des Pachtzinses eine ganze Anzahl von Tat- und Ermessensfragen ausschlaggebend, und es wird überdies auch der in Davos geltende Ortsgebrauch zu berücksichtigen sein. Es erweist sich daher als unerlässlich, die Sache zur Festsetzung eines angemessenen Pachtzinses an das Kantonsgericht zurückzuweisen. Dabei wird dieses auch die von Emma Renner zur Verrechnung gestellten Gegenforderungen zu prüfen haben. Es wird daher im einzelnen abklären müssen, wie weit die Lasten für die Liegenschaft seit dem Tod der Eltern tatsächlich durch Emma Renner einerseits bzw. durch den Nachlass anderseits getragen worden sind. Die von jener eingelegten Belege können jedenfalls nicht unbesehen übernommen werden. Teilweise beziehen sie sich auf Gegenstände, die Emma Renner ohnehin als ihr Eigentum beansprucht. Bei den übrigen Belegen wird zu untersuchen sein, wie weit es sich um Auslagen handelt, die gemäss Art. 278 und 284 OR vom Pächter einerseits bzw. vom Verpächter anderseits getragen werden müssen. Den Ersatz
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wertvermehrender Investitionen kann Emma Renner indessen nicht beanspruchen, es sei denn, der Anrechnungswert der Liegenschaft würde entsprechend erhöht. Was schliesslich die geltend gemachten Aufwendungen zu Lebzeiten der Eltern betrifft, so waren sie nach der Bestimmung des Erbvertrages wohl zum grössten Teil ohnehin von Emma Renner zu erbringen, so dass diese auch dafür keinen Ersatz verlangen kann.

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