BGE 101 II 375 vom 24. September 1975

Datum: 24. September 1975

Artikelreferenzen:  Art. 194 ZPO, Art. 131 SchKG , Art. 131 Abs. 2 SchKG, Art. 64 BV

BGE referenzen:  100 IV 227, 120 IB 474, 144 I 11 , 100 IV 227, 95 II 640, 97 II 396, 93 II 47

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

101 II 375


64. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 24. September 1975 i.S. A. gegen X.

Regeste

Einrede der beurteilten Sache.
1. Wiederholte Klage auf Zahlung einer Forderung, die auf einem Auftragsverhältnis beruht; Bundesrecht und kantonales Recht.
2. Der bundesrechtliche Anspruch auf ein Sachurteil ist verletzt, wenn der Richter die Beurteilung der Forderung im zweiten Verfahren ablehnt, obschon darüber im ersten nicht entschieden worden ist.

Sachverhalt ab Seite 376

BGE 101 II 375 S. 376

A.- M. beauftragte Fürsprecher X. mit der Führung von Prozessen und leistete ihm Fr. 20'000.-- Kostenvorschuss. Am 28. Februar 1972 pfändete das Betreibungsamt Arlesheim vom Guthaben des M. gegenüber X. zugunsten des A. Fr. 10'000.--. Auf die Aufforderung des Betreibungsamtes an X., zur Deckung der Forderung des A. nebst Zins und Kosten Fr. 8'749.95 zu zahlen oder sich über die Anerkennung oder Bestreitung der gepfändeten Forderung auszusprechen, schwieg X. Ein weiteres Schreiben des Betreibungsamtes beantwortete er am 18. August 1972 dahin, er habe inzwischen für M. derart umfangreiche Arbeit geleistet, dass er sich für seine Honorarforderung schadlos halten müsse; vorbehältlich der endgültigen Abrechnung lehne er daher die Forderung ab. Das Betreibungsamt ermächtigte deshalb A. im Sinne des Art. 131 Abs. 2 SchKG , sie auf eigene Rechnung und Gefahr geltend zu machen.
A. reichte hierauf gegen X. Strafanzeige wegen Verfügung über gepfändete Sachen ein und klagte im Strafverfahren auf Zahlung von Fr. 7'690.85 und Fr. 1'200.--, beide Beträge nebst Zins. Der Gerichtspräsident IX von Bern erklärte X. der Verfügung über gepfändete Sachen schuldig und hiess die Adhäsionsklage dem Grundsatze nach gut, wies jedoch die Parteien zur Festsetzung der Höhe des Anspruches an den Zivilrichter. Auf Appellation des X. sprach ihn die II. Strafkammer des Obergerichtes des Kantons Bern am 19. April 1974 des untauglichen Versuchs der Verfügung über gepfändete Sachen schuldig und erkannte: "Die Zivilklage des Privatklägers wird abgewiesen. Sie begründete den Entscheid im Zivilpunkt damit, nach Art. 3 des Gesetzes über das Strafverfahren des Kantons Bern (StrV) seien vor dem Strafrichter nur Zivilklagen aus einer strafbaren Handlung zulässig; der Zivilanspruch müsse aus dem gleichen Geschehen, das Gegenstand des Strafverfahrens sei, hergeleitet werden. Das treffe hier nicht zu, da die an A. abgetretene Forderung aus einem Hinterlegungsvertrag
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zwischen M. und dem Angeschuldigten entstanden sei. Aus diesem Grunde müsse die Zivilklage abgewiesen werden.
Das Bundesgericht hiess eine von X. im Strafpunkt geführte Nichtigkeitsbeschwerde am 11. Oktober 1974 gut und wies die Sache zur Freisprechung an die Vorinstanz zurück ( BGE 100 IV 227 ).

B.- Am 4. September 1974 klagte A. gegen X. beim Appellationshof des Kantons Bern auf Zahlung von Fr. 10'000.-- nebst Zins.
Der Appellationshof wies die Klage am 28. Mai 1975 "ohne Prüfung ihrer Begründetheit zurück". Er führte aus, die Formulierung im Dispositiv des Strafurteils vom 19. April 1974 könne nur bedeuten, dass der geltend gemachte Anspruch nicht bestehe. Es handle sich somit um ein Sachurteil. Hätte die Strafkammer auf die Zivilklage nicht eintreten wollen, so hätte sie diese ohne Prüfung der Begründetheit zurückweisen müssen ( Art. 194 ZPO ). In Rechtskraft erwachse nur die Urteilsformel. Die Erwägungen könnten nur bei Unklarheiten der Formel herangezogen werden. Dies sei aber beim Dispositiv der Strafkammer nicht nötig und deshalb auch nicht zulässig, denn es lasse nur eine Auslegung zu. Ein Dispositiv erlange auch Rechtskraft, wenn es falsch sei, aber nicht angefochten werde.

C.- Der Kläger hat die Berufung erklärt. Er beantragt, den Entscheid des Appellationshofes aufzuheben und die Sache zur materiellen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt, auf die Berufung nicht einzutreten, eventuell sie abzuweisen und das angefochtene Urteil zu bestätigen.

Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Der Beklagte macht geltend, die Einrede der beurteilten Sache sei prozessrechtlicher Natur, der Entscheid über sie ausschliesslich eine Frage des kantonalen Rechts und deshalb auf die Berufung nicht einzutreten.
Diese Auffassung hält nicht stand. Die Forderung, die dem Kläger gemäss Art. 131 Abs. 2 SchKG zur Eintreibung überwiesen wurde, beruht auf dem Auftragsverhältnis zwischen M. und dem Beklagten, untersteht also dem Bundesrecht. Der
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Kläger hat daher einen bundesrechtlichen Anspruch darauf, dass der Richter sie materiell beurteile. Nur das Verfahren, in dem sie geltend zu machen ist, wird vom kantonalen Recht beherrscht ( Art. 64 BV ).
Das Bundesgericht ist denn auch schon wiederholt auf Berufung hin auf die Einrede der beurteilten Sache eingetreten ( BGE 95 II 640 , BGE 97 II 396 ). Diese Entscheide betrafen allerdings Fälle, in denen streitig war, ob die eingeklagte Forderung mit einer schon rechtskräftig beurteilten identisch sei. Der bundesrechtliche Anspruch auf ein materielles Urteil ist jedoch auch dann verletzt, wenn der Richter die Beurteilung einer unbestrittenermassen zweimal eingeklagten Forderung mit der unzutreffenden Begründung ablehnt, es sei über sie schon im ersten Verfahren ein materielles Urteil ergangen. Ob diese Begründung standhält, hat das Bundesgericht auf Berufung hin zu prüfen. Dass die Verletzung des Anspruchs vom Sinn des auf die erste Klage hin ergangenen Entscheides abhängt, ändert nichts. Welches dessen Sinn sei, ist eine bundesrechtliche Frage. Das kantonale Prozessrecht kann zwar bestimmen, wie der Richter den Urteilsspruch abzufassen habe, wenn er die Forderung auf Grund materieller Beurteilung verneint. Dagegen kann es nicht vorschreiben, das für materielle Beurteilung sprechende Urteilsdispositiv sei auch dann allein massgebend, wenn sich aus den Urteilserwägungen ergibt, dass der Richter die Beurteilung in Wirklichkeit abgelehnt hat. Das Bundesgericht als Berufungsinstanz pflegt denn auch die Urteilsbegründung mit herbeizuziehen, um den Sinn der kantonalen Urteilssprüche zu ermitteln ( BGE 93 II 47 ).
Da auch die anderen Voraussetzungen der Berufung erfüllt sind - Anfechtung eines Endentscheides und Streitwert von wenigstens Fr. 8'000.-- - ist auf die Berufung einzutreten.

2. Aus den Erwägungen des Urteils vom 19. April 1974 ergibt sich, dass die II. Strafkammer des Obergerichtes des Kantons Bern die adhäsionsweise eingeklagte Forderung nicht materiell beurteilt hat, und zwar deshalb nicht, weil sie aus einem anderen tatsächlichen Geschehen abgeleitet werde als der Gegenstand des Strafverfahrens bildende Strafanspruch. Daran vermag weder der Schlusssatz der Erwägungen, dass die Zivilklage aus diesem Grunde abgewiesen werden müsse, noch die entsprechende Formulierung des Urteilsspruches etwas zu ändern. Ob nach bernischem Prozessrecht nur materiell beurteilte
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Zivilansprüche "abgewiesen" werden dürfen, ist unerheblich. Wenn dies zutrifft, ergibt sich daraus bloss, dass der II. Strafkammer bei der Abfassung des Urteilsspruches ein Versehen unterlaufen ist, nicht aber, dass sie über den Bestand der Forderung des Klägers, zu deren Begründetheit oder Unbegründetheit sie nicht Stellung nehmen wollte und nicht Stellung genommen hat, im Ergebnis doch geurteilt habe. Anders entscheiden, hiesse dem Kläger das Recht auf ein materielles Urteil verweigern.

Dispositiv

Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird gutgeheissen, das Urteil des Appellationshofes (III. Zivilkammer) des Kantons Bern vom 28. Mai 1975 aufgehoben und die Sache zur materiellen Beurteilung der Klage an die Vorinstanz zurückgewiesen.

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