BGE 101 IV 252 vom 6. August 1975

Datum: 6. August 1975

Artikelreferenzen:  Art. 5 EMRK, Art. 6 EMRK , Art. 216 BStP, Art. 5 Abs. 4 EMRK, Art. 6 Abs. 1 und 3 lit. c EMRK, Art. 35 Abs. 1 BStP, Art. 214 BStP, Art. 69 Abs. 3 BStP, Art. 52 Abs. 2 BStP, Art. 52 BStP

BGE referenzen:  101 IA 69

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

101 IV 252


57. Auszug aus dem Entscheid der Anklagekammer vom 6. August 1975 i.S. W. gegen Schweizerische Bundesanwaltschaft

Regeste

Europäische Menschenrechtskonvention; Beschwerde gegen den Bundesanwalt.
Die Anklagekammer ist in der Regel zur Behandlung von Beschwerden gegen den Bundesanwalt wegen Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht zuständig.

Sachverhalt ab Seite 252

BGE 101 IV 252 S. 252

A.- Im Laufe eines Ermittlungsverfahrens gegen eine Personengruppe, der Sprengstoffdelikte zur Last gelegt werden, wurde W. am 6. Mai 1975 auf Grund eines Haftbefehls der Bundesanwaltschaft vom 1. Mai 1975 verhaftet. Nach einer
BGE 101 IV 252 S. 253
ersten polizeilichen Befragung vom selben Tage wurde er am 7. Mai 1975 vom Bundesanwalt selbst einvernommen. Am 5. Juni 1975 wurde er aus der Haft entlassen.

B.- Mit einer an die Anklagekammer des Bundesgerichts adressierten Eingabe vom 9. Juni 1975 erhob W. Beschwerde gegen den Bundesanwalt. Er beantragte unter anderem, es sei festzustellen, dass im Verlaufe des gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahrens Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt worden seien.
Zur Begründung machte der Beschwerdeführer im wesentlichen geltend, er sei während seiner Untersuchungshaft nie einem Haftrichter vorgeführt und systematisch daran gehindert worden, von Beginn des Ermittlungsverfahrens an einen Rechtsanwalt seiner Wahl zu seiner Verteidigung zu bestellen, wodurch Art. 5 Abs. 3, Art. 6 Abs. 1 und 3 lit. c EMRK sowie Art. 35 Abs. 1 BStP verletzt worden seien. In formeller Hinsicht führte der Beschwerdeführer aus, das Bundesrecht sehe zwar keine Norm vor, welche die Anklagekammer zur Behandlung von Beschwerden gegen den Bundesanwalt wegen Verletzung der Menschenrechte als zuständig erkläre. Da die EMRK aber seit 28. November 1974 für die Schweiz in Kraft stehe, müsse sie auch durchgesetzt werden können. Es empfehle sich daher, auf Fälle wie den vorliegenden Art. 216 BStP analog anzuwenden.
Die Anklagekammer tritt auf die Beschwerde nicht ein.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. Die EMRK, die der Bundesanwalt nach der Behauptung des Beschwerdeführers verletzt haben soll, ist von der Schweiz am 28. November 1974 ratifiziert und in der eidg. Gesetzessammlung publiziert worden (AS 1974 S. 2148 ff.), womit sie in der internen Rechtsordnung zumindest Gesetzesrang erlangte (BBl 1974 I 1059, 1968 II 1070ff.). Die von ihr geschützten Rechte haben ihrer Natur nach einen verfassungsrechtlichen Inhalt. Der von der Konvention gebotene Schutz hat indessen nur insoweit selbständige Bedeutung, als er den von den Verfassungen und Gesetzen des Bundes und der Kantone gewährten Schutz übersteigt ( BGE 101 Ia 69 ). Ob die Bestimmungen der EMRK in der Schweiz direkt oder nur über entsprechende landesinterne Vorschriften anwendbar
BGE 101 IV 252 S. 254
seien, kann hier offen bleiben. Zu prüfen ist, ob und inwieweit gegen Anordnungen des Bundesanwalts, die dieser im polizeilichen Ermittlungsverfahren eines Bundesstrafprozesses getroffen hat, bei der Anklagekammer des Bundesgerichts wegen Verletzung der EMRK Beschwerde erhoben werden kann.
Nach Art. 214 in Verbindung mit Art. 216 BStP kann bei der Anklagekammer nur Beschwerde gegen Amtshandlungen und wegen Versäumnis des Untersuchungsrichters geführt werden. Der Bundesanwalt steht dagegen nicht unter der Aufsicht der Anklagekammer, sondern gemäss Art. 14 Abs. 1 und 17 Abs. 1 BStP unter derjenigen des Bundesrates ( BGE 74 IV 182 ; STÄMPFLI, Anmerkungen zu Art. 214 BStP ; PETER, Die Bundesanwaltschaft als Staatsanwaltschaft des Bundes, Diss. Bern 1972 S. 18). Im polizeilichen Ermittlungsverfahren eines Bundesstrafprozesses ist daher gegen Amtshandlungen des Bundesanwalts in der Regel nur die Aufsichtsbeschwerde an das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement und den Bundesrat, nicht auch eine Beschwerde an die Anklagekammer des Bundesgerichts zulässig.
Von dieser Regel sieht die geltende Rechtsordnung zwei Ausnahmen vor: - Erhebt ein Inhaber von Papieren gegen deren Durchsuchung Einsprache, so werden die Papiere versiegelt und verwahrt, wobei die Anklagekammer über die Zulässigkeit der Durchsuchung entscheidet ( Art. 69 Abs. 3 BStP ). - Bis 1. Januar 1975 konnte nur gegen die Abweisung eines Haftentlassungsgesuchs durch den Untersuchungsrichter, seither kann auch gegen die Abweisung eines Haftentlassungsgesuchs durch den Bundesanwalt bei der Anklagekammer Beschwerde geführt werden ( Art. 52 Abs. 2 BStP ). Diese Gesetzesänderung erfolgte gerade im Hinblick auf Art. 5 Abs. 4 EMRK , wonach der Beschuldigte schon während des Ermittlungsverfahrens die Möglichkeit haben soll, gegen die Abweisung eines Haftentlassungsgesuchs an eine Gerichtsbehörde zu gelangen (BBl 1971 I 1017, 1968 II 1092 und 1144). Sowohl Art. 5 Abs. 4 EMRK wie Art. 52 BStP setzen jedoch gemäss ihrem Sinn und Wortlaut einen aktuellen Freiheitsentzug voraus. Im vorliegenden Fall befindet sich der Beschwerdeführer seit dem 5. Juni 1975 auf freiem Fuss, weshalb er nicht mehr im Haftprüfungsverfahren an die Anklagekammer gelangen kann.
BGE 101 IV 252 S. 255
Andere Ausnahmen, welche die Anrufung der Anklagekammer ermöglichen würden, sieht das geltende Recht nicht vor. Die Erweiterung der Ausnahmefälle auf dem Wege der Analogie ist nicht zulässig. Die vom Beschwerdeführer behauptete Verletzung der EMRK durch den Bundesanwalt kann demnach bei der Anklagekammer nicht gerügt werden. Auf die Beschwerde ist mithin nicht einzutreten.

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