Urteilskopf
101 IV 292
67. Urteil des Kassationshofes vom 4. Juli 1975 i.S. Meier gegen Hubatka
Regeste
Art. 173 Ziff. 2 und 3 StGB
.
Ehrverletzung durch den Vorwurf, eine strafbare Handlung begangen zu haben. Der Umstand, dass über die angebliche Straftat eine Strafuntersuchung durchgeführt wurde, die zu einem Einstellungsbeschluss geführt hat, steht dem Entlastungsbeweis nicht entgegen.
A.-
a) In der Nacht vom 26./27. März 1963 wurden im Amtshaus 1 der Stadt Zürich 71 Zahltagstäschchen mit über Fr. 88'000.-- gestohlen. Die Täterschaft konnte nicht ermittelt werden. Am 1. Juli 1966 stellte die Staatsanwaltschaft die Untersuchung einstweilen ein.
b) Kurt Meier, der 1948 in das Korps der Stadtpolizei Zürich eingetreten, 1967 aber im Laufe einer Untersuchung gegen ihn wegen Verletzung des Amtsgeheimnisses im Dienst suspendiert worden war, richtete am 4. Januar 1968 eine Eingabe an die Staatsanwaltschaft, in der er geltend machte, Dr. Walter Hubatka, der als Chef der städtischen Kriminalpolizei die polizeilichen Ermittlungen wegen des Diebstahls geleitet hatte, sei selbst durch gewichtige Indizien der Tat verdächtig. Die Eingabe wurde an die Bezirksanwaltschaft Zürich geleitet, die beantragte, das Verfahren gegen Hubatka mangels Beweises endgültig einzustellen. Diesen Antrag folgte die Staatsanwaltschaft am 14. März 1968. Ein Wiederaufnahmebegehren Meiers wurde am 19. Oktober 1970 abgewiesen, nachdem schon am 20. August 1970 eine damit zusammenhängende
BGE 101 IV 292 S. 293
Strafanzeige gegen Hubatka wegen Urkundenunterdrückung eingestellt worden war.
c) Auch in einer vervielfältigten Schrift vom 15. September 1969 mit dem Titel "Ist Dr. Hubatka der Zahltagsdieb?" und in einem Begleitschreiben an alle Kantons- und Gemeinderäte in Zürich beschuldigte Meier (zusammen mit andern) Hubatka des Zahltagsdiebstahls. Eine Ehrverletzungsklage Hubatkas wurde wegen Verfolgungsverjährung eingestellt.
B.-
Im August 1972 wurde in Zürich ein von Meier verfasstes Flugblatt "Wir fragen schon lange: warum wird Dr. Hubatka gedeckt?" in einer Auflage von 30'000 Exemplaren verteilt. Darin wird Hubatka verdächtigt, der Zahltagsdieb zu sein.
Auf Klage Hubatkas verurteilte das Geschworenengericht des Kantons Zürich Meier am 21. Juni 1974 wegen übler Nachrede zu sechs Monaten Gefängnis und zu Fr. 4'000.-- Genugtuung.
C.-
Meier führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf Rückweisung der Sache an das Geschworenengericht zu Beweisergänzung und neuer Entscheidung. Hubatka beantragt Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Im eingeklagten Flugblatt wird Hubatka erneut des Zahltagsdiebstahls verdächtigt. Ihm wird auch vorgehalten, er, Leiter der polizeilichen Untersuchung, habe seinen Alibibogen so ausgefüllt, dass er mit Aussagen Dritter nicht übereinstimme; Polizeimann Wendel habe beobachtet, dass er in der von ihm ausgewiesenen Alibizeit zwei- oder dreimal zu den Tatbüros geschritten sei. Die Äusserung ist ehrverletzend. Der Beschwerdeführer war sich dessen auch bewusst, wie die Vorinstanz verbindlich feststellt (
Art. 277bis Abs. 1 BStP
;
BGE 98 IV 66
, 259 E. 4). Der Tatbestand der Ehrverletzung nach
Art. 173 Ziff. 1 StGB
steht damit fest. Es kann sich nur fragen, ob der Beschwerdeführer zu den Entlastungsbeweisen zuzulassen ist und ob sie allenfalls erbracht sind (
Art. 173 Ziff. 2 und 3 StGB
).
2.
Bei einer Anklage wegen übler Nachrede wird der Angeklagte zum Beweis der Wahrheit und des guten Glaubens nicht zugelassen und ist strafbar, wenn er sich ohne Wahrung
BGE 101 IV 292 S. 294
öffentlicher Interessen oder sonstwie ohne begründete Veranlassung vorwiegend in der Absicht geäussert hat, jemandem Übles vorzuwerfen, insbesondere wenn sich die Äusserung auf das Privat- oder Familienleben bezieht (
Art. 173 Ziff. 3 StGB
). Nach der Rechtsprechung des Kassationshofes (
BGE 82 IV 93
) werden die Entlastungsbeweise nur ausgeschlossen, wenn der Täter sowohl ohne Wahrung öffentlicher Interessen oder ohne sonstige begründete Veranlassung als auch mit Beleidigungsabsicht gehandelt hat.
3.
Die Vorinstanz stellt verbindlich fest, dass es dem Beschwerdeführer vorwiegend darum ging, den Kläger zu Fall zu bringen und ihn als Delinquenten zu schmähen. Damit steht eine Voraussetzung für den Ausschluss der Entlastungsbeweise fest.
Von der andern Voraussetzung (Wahrung öffentlicher Interessen oder sonstige begründete Veranlassung) steht, auch nach Auffassung des Beschwerdeführers, nur die erste Variante zur Diskussion. Der Beschwerdeführer bejaht sie, die Vorinstanz hat das öffentliche Interesse verneint.
4.
Zur Begründung ihres Standpunktes, der Beschwerdeführer habe keine öffentliche Interessen gewahrt, geht die Vorinstanz von den Verfügungen vom 14. März 1968 und 19. Oktober 1970 aus. Mit der ersten hat die Staatsanwaltschaft das Strafverfahren gegen Hubatka wegen des Zahltagsdiebstahls eingestellt und mit der zweiten ein Gesuch um Wiederaufnahme der Strafuntersuchung gegen den Kläger abgewiesen. Durch diese Verfügungen sei verbindlich eine Rechtslage geschaffen worden, die für eine relevante Verdächtigung keinen Raum mehr lasse. Einen Vorbehalt macht die Vorinstanz für neue Verdachtsgründe, die nicht Gegenstand der frühern Strafverfahren (Strafuntersuchung, Wiederaufnahme des sistierten Verfahrens) gebildet hätten. Solche Verdachtsgründe hätten aber in einem neuen Revisionsverfahren geltend gemacht werden müssen, nicht mit dem eingeklagten Flugblatt.
a) Die Wiederaufnahme der Untersuchung ist gemäss
§ 45 StPO
-ZH nur zulässig, wenn "sich neue Anhaltspunkte für die Täterschaft oder für die Schuld ergeben". Daraus folgt, dass selbst für den Fall, dass seinerzeit mit unrichtiger tatsächlicher oder rechtlicher Begründung das Verfahren eingestellt bzw. die Wiederaufnahme abgewiesen worden wäre, Hubatka mangels neuer Tatsachen nicht hätte verurteilt werden können.
BGE 101 IV 292 S. 295
Nur das Vorbringen neuer Verdachtsgründe war daher geeignet, das öffentliche Interesse an der strafrechtlichen Verfolgung der Zahltagsdiebe zu wahren, nicht aber die Diskussion von Indizien, die schon Gegenstand der beiden frühern Verfahren bildeten. Insoweit konnte die Vorinstanz ein öffentliches Interesse an der Wiederholung alter Verdachtsgründe gegen Hubatka verneinen. Zu prüfen bleibt indessen, ob damit jedes öffentliche Interesse an der Äusserung entfällt.
b) Das eingeklagte Flugblatt kritisiert auch die Art und Weise, wie die Strafuntersuchung gegen die Angehörigen des Polizeikorps geführt wurde. An sich liegt Kritik an einer unkorrekt geführten amtlichen oder strafrechtlichen Untersuchung in einer Angelegenheit wie der vorliegenden im öffentlichen Interesse. Diese Untersuchung als solche bildet aber nicht Gegenstand der Ehrverletzungsklage, sondern nur die Verdächtigung, der Kläger könnte den Zahltagsdiebstahl verübt haben. Feststellungen über die Untersuchung könnten daher den Beschwerdeführer von der gegen ihn erhobenen Anklage nicht entlasten.
c) Hubatka ist Chef der städtischen Kriminalpolizei. Er hat damit eine verantwortungsvolle Stelle inne, die nur einer integern und vertrauenswürdigen Person übertragen werden soll. Selbst wenn aus formellen Gründen eine Wiederaufnahme des Verfahrens gestützt auf den alten Beweisstand und damit eine Verurteilung des Klägers wegen dieses Diebstahls nicht mehr möglich ist, bleibt ein eminentes öffentliches Interesse bestehen, einen eines solchen Diebstahls schuldigen Chef einer Kriminalpolizei disziplinarisch oder sonst auf dem Verwaltungsweg aus dem Amt zu entfernen.
d) Da dem Beschwerdeführer hinsichtlich alter angeblicher Verdachtsgründe der Weg des Wiederaufnahmeverfahrens verschlossen ist und auch Vorstellungen bei den dem Kläger vorgesetzten Stellen keinen Erfolg hatten, kann das öffentlich Interesse am Flugblatt auch nicht mit der Begründung verneint werden, dem Beschwerdeführer wären andere Mittel zur Verfügung gestanden, den Kläger aus dem Amt zu entfernen.
5.
Das Geschworenengericht verneint ein öffentliches Interesse an einer weitern Verdächtigung des Klägers im wesentlichen mit der Begründung, durch die Einstellungsbeschlüsse der Staatsanwaltschaft vom 14. März 1968 und 19. Oktober 1970 sei verbindlich eine Rechtslage festgestellt
BGE 101 IV 292 S. 296
worden, die für eine relevante Verdächtigung des Klägers keinen Raum mehr lasse. Durch diese Beschlüsse stehe der Kläger im Selbst- und Fremdurteil als Ehrenmann da, und niemand mehr sei berechtigt, das mit weitern Publikationen in Zweifel zu ziehen. Für die schon früher vorgebrachten Tatsachen könne der Angeklagte also nicht geltend machen, er habe ernsthafte Gründe gehabt, die im eingeklagten Flugblatt erneut verbreiteten Äusserungen für wahr zu halten. Neue Verdachtsgründe aber, die nicht Gegenstand der frühern Strafuntersuchungen gegen den Kläger bildeten, hätten in einem neuen Revisionsverfahren geltend gemacht werden müssen. Der Beschwerdeführer sei daher zu den Entlastungsbeweisen der Wahrheit und des guten Glaubens nicht zuzulassen, weil durch die zwei ihm bekannten Verfügungen der Staatsanwaltschaft die Nichtwahrheit seiner Äusserungen rechtskräftig festgestellt worden sei.
Die Vorinstanz nimmt also eine Rechtskraftwirkung früherer Einstellungsbeschlüsse in dem Sinne an, dass diese den Strafrichter binden würden. Eine solche Bindung des Strafrichters ist abzulehnen. Wie es sich verhält, wenn es sich um Urteile handelt, kann dabei offen bleiben. Auch Rechte, die wie das französische eine weitgehende Bindung an frühere Urteile kennen, messen diese Wirkung nur den Urteilen selber zu, nicht den dem gerichtlichen Verfahren vorausgehenden Einstellungsbeschlüssen (vgl. BOUZAT-PINATEL, Traité de droit pénal et de criminologie, 2. Aufl., Bd. II Nrn. 1539 ff. S. 1482 ff.). Die Wirkung der Einstellungsbeschlüsse erschöpft sich darin, dass der Staat oder die allenfalls seine Stelle vertretenden Privatstrafkläger gegen den damaligen Angeschuldigten Hubatka mangels neuer Verdachtsgründe nicht mehr wegen des Zahltagsdiebstahls vorgehen dürfen.
Eine Bindung des Strafrichters im vorliegenden Ehrverletzungsprozess an die früheren Einstellungsverfügungen der Staatsanwaltschaft wäre auch mit
Art. 173 Ziff. 2 StGB
nicht vereinbar. Diesen Verfügungen konnte nur entnommen werden, dass der heutige Kläger des Zahltagsdiebstahls nicht in relevanter Weise verdächtig erschienen ist. Damit könnte aber nur der Wahrheitsbeweis ausgeschlossen werden, nicht aber der von Gesetzes wegen ebenfalls zugelassene Beweis des guten Glaubens.
Die grundsätzliche Feststellung, dass die Verfügungen der
BGE 101 IV 292 S. 297
Staatsanwaltschaft, durch die das Verfahren gegen Hubatka eingestellt wurde, nicht imstande sind, die Entlastungsbeweise auszuschliessen, will aber nicht besagen, sie seien im vorliegenden Ehrverletzungsprozess bedeutungslos. Sie sind eine amtliche Würdigung der damaligen Beweislage, an welcher der heutige Beklagte, der von ihnen Kenntnis hatte, nicht achtlos vorbeigehen durfte. Er musste besonders sorgfältig prüfen, ob er wirklich genügend ernsthafte Gründe habe, seine Verdächtigungen erneut vorzubringen. Dies umso mehr, als es ihm ja vorwiegend darum ging, dem Kläger Übles vorzuwerfen. Diese Frage zu prüfen, wird Sache des Geschworenengerichts sein, dessen Urteil hierüber keine subsidiäre Erwägung enthält, im Gegensatz zur Beurteilung der angeblichen neuen Entlastungsbeweise des Beschwerdeführers (vgl. nachstehende Erw. 6).
6.
Der Beschwerdeführer will sich ferner mit Beweisen entlasten, von denen er erst nach der Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 19. Oktober 1970 Kenntnis erlangt habe. Polizeimann Wendel soll bezeugen, dass seine Einvernahme von Bezirksanwalt Dr. Gerber manipuliert worden sei. Ruoff, ehemaliger Kassier der Stadtpolizei, soll aussagen, dass er dem Beschwerdeführer Tatsachen mitgeteilt habe, wonach nur ein Beamter, der monatelang ohne aufzufallen sich abends in den Tatbüros aufhalten konnte, als Dieb in Frage komme.
Diese Personen wurden von der Vorinstanz in einer subsidiären Begründung u.a. deswegen abgelehnt, weil sie als Flugblattverteiler vom Kläger ebenfalls ins Recht gefasst worden seien und daher nicht Zeugnis ablegen könnten. Die Aussage Wendels sei überdies unerheblich, weshalb auch Dr. Gerber nicht einzuvernehmen sei. Ruoff habe sich als befangen erwiesen. Ein Bericht des ausserordentlichen Untersuchungsrichters Dr. Spillmann vom 9. April 1973 wurde u.a. deshalb abgewiesen, weil er aus der Zeit nach der Verteilung des Flugblattes stammt, ebenso seine Erklärung, die Alibi seien von den Untersuchungsbehörden ungenügend überprüft worden. Da nur der Entlastungsbeweis des guten Glaubens angetreten wurde, waren diese nachträglichen Beweise unerheblich. Diese Ablehnungsgründe gehören der Beweiswürdigung an, weshalb sie ebenso wenig wie die auf sie gestützten tatsächlichen Feststellungen mit der Nichtigkeitsbeschwerde angefochten werden können (Art. 273 Abs. 1 lit. b, 277bis Abs. 1 BStP).
7.
Die Nichtigkeitsbeschwerde ist dahin gutzuheissen, dass der Angeklagte zu den Entlastungsbeweisen gemäss
Art. 173 Ziff. 2 StGB
zuzulassen ist.
8.
Der Verletzte hat eine Genugtuungssumme von Fr. 6'000.-- beantragt, die Vorinstanz hat Fr. 4'000.-- zugesprochen. Der Streitwert beträgt somit nicht Fr. 8'000.--. Die Nichtigkeitsbeschwerde im Zivilpunkt ist daher nur zulässig, wenn sich der Kassationshof auch mit dem Strafpunkt befasst (
Art. 271 Abs. 2 BStP
). Von der Aufhebung des Urteils wird auch die Verurteilung zur Genugtuungssumme erfasst. Mangels einer besondern Begründung gilt der Zivilpunkt aber nur soweit angefochten, als eine neue Beurteilung der Strafsache auch eine neue Beurteilung der Zivilsache bedingen würde. Eine andere Verletzung von Bundesprivatrecht wird nicht geltend gemacht. Da der Strafpunkt zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen werden muss, wird auch die Verurteilung zur Genugtuung aufgehoben, damit die Vorinstanz, je nach dem Ergebnis der neuen Beurteilung, über sie neu befinde.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird im Sinne der Erwägungen gutgeheissen, das Urteil des Geschworenengerichts des Kantons Zürich vom 21. Juni 1974 aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.