Urteilskopf
102 Ia 302
43. Urteil vom 17. August 1976 i.S. Krause gegen Bezirksanwaltschaft Zürich und Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich.
Regeste
Persönliche Freiheit; ärztliche Betreuung der Gefangenen.
Die Garantie der persönlichen Freiheit gibt den Gefangenen Anspruch auf eine einwandfreie ärztliche Betreuung. Die Gefangenen müssen von einem anderen Arzt als dem Gefängnisarzt untersucht oder behandelt werden, wenn das Vertrauensverhältnis zum Gefängnisarzt gestört ist oder wenn medizinisch eine spezialärztliche Betreuung angezeigt ist. Die Garantie der persönlichen Freiheit gibt den Gefangenen jedoch keinen generellen Anspruch auf Beizug eines Arztes ihrer Wahl (E. 2).
Die Bezirksanwaltschaft Zürich führt gegen die deutsch-italienische Staatsangehörige Petra Krause eine Strafuntersuchung wegen Gefährdung durch Sprengstoffe in verbrecherischer Absicht (
Art. 224 Abs. 1 StGB
), wegen Zuwiderhandlung gegen die Kriegsmaterialgesetzgebung und wegen anderer Delikte. Die Angeschuldigte befindet sich seit dem 20. März 1975 in Untersuchungshaft, zurzeit im Bezirksgefängnis Zürich.
Am 13. April 1976 ersuchte Frau Krause die Bezirksanwaltschaft Zürich um die Erlaubnis, in der Anstalt von einem Arzt ihres Vertrauens untersucht zu werden. Dieses Gesuch und eine an die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich gerichtete Beschwerde blieben ohne Erfolg.
Das Bundesgericht hat die staatsrechtliche Beschwerde von Frau Krause im Sinne der Erwägungen abgewiesen.
Erwägungen:
1.
a) Die Garantie der persönlichen Freiheit gewährleistet als ungeschriebenes Grundrecht der Bundesverfassung die Bewegungsfreiheit und die körperliche Integrität des Menschen. Sie schützt darüber hinaus alle elementaren Erscheinungen menschlicher Persönlichkeit, die nicht durch andere Grundrechte der Bundesverfassung gewährleistet sind. Die
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Garantie der persönlichen Freiheit schliesst Beschränkungen der geschützten Fähigkeiten und Tätigkeiten nicht aus. Solche sind jedoch nur zulässig, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und dem Gebot der Verhältnismässigkeit entsprechen. Zudem darf die persönliche Freiheit weder völlig unterdrückt noch ihres Gehalts als fundamentale Institution der Rechtsordnung entleert werden (
BGE 97 I 49
E. 3; vgl. 101 Ia 345 E. 7a mit Hinweisen). Freiheitsbeschränkungen, die einem Untersuchungsgefangenen auferlegt werden, sind mit dieser Gewährleistung demnach nicht vereinbar, wenn sie dem Gebot eines menschenwürdigen, von schikanösen und sachlich nicht begründeten Eingriffen freien Vollzugs widersprechen (dazu im einzelnen:
BGE 99 Ia 266
ff. E. II und III;
BGE 97 I 842
E. 4-6).
b) § 45 Abs. 1 der Verordnung vom 19. April 1972 über die Bezirksgefängnisse (BezGV) lautet:
"Für Gefangene, die ärztlicher Untersuchung oder Behandlung bedürfen, zieht die Gefängnisverwaltung den Gefängnisarzt bei. Der Gefangene hat sich den ärztlichen Anordnungen zu unterziehen."
§ 12 BezGV bestimmt:
"Die Justizdirektion bezeichnet für jedes Bezirksgefängnis den Arzt, den Psychiater oder deren Stellvertreter. In Notfällen kann die Gefängnisverwaltung einen anderen Arzt beiziehen. Das Honorar richtet sich nach der Taxordnung der vom Bunde anerkannten Krankenkassen."
Die §§ 12 und 45 Abs. 1 BezGV sehen nicht vor, dass die Gefangenen sich in der Untersuchungshaft von einem Arzt ihrer Wahl medizinisch betreuen lassen dürfen. Diese Aufgabe ist ausdrücklich dem Gefängnisarzt übertragen. Auch § 12 Abs. 2 Satz 2 gibt der Beschwerdeführerin keinen Anspruch auf Beizug eines Arztes freier Wahl; es liegt kein "Notfall" im Sinne der Bestimmung vor. Der Beschwerdeführerin darf das Recht, sich von einem Arzt ihrer Wahl untersuchen und behandeln zu lassen, aber gleichwohl nicht verweigert werden, wenn sich ein solcher Anspruch aus dem Grundrecht der persönlichen Freiheit ergibt.
2.
a) Untersuchungshaft darf nur verhängt werden, wenn der dringende Verdacht besteht, der Angeschuldigte habe eine strafbare Handlung begangen und wenn Flucht- oder Kollusionsgefahr vorhanden ist. Sachlich begründet sind vorab solche Freiheitsbeschränkungen, die unmittelbar erforderlich
BGE 102 Ia 302 S. 305
sind, um die Flucht des Angeschuldigten oder die Verdunkelung der ihm zur Last gelegten Straftaten zu verhindern. Die Untersuchungsgefangenen haben darüber hinaus aber auch solche Freiheitsbeschränkungen hinzunehmen, welche die Strafuntersuchung zwar nicht direkt erfordert, die sich beim Vollzug der Haft im Interesse einer vernünftigen Ordnung und Organisation der Anstalt jedoch unvermeidlich ergeben.
b) Ein generelles Verbot, sich in der Untersuchungshaft durch einen Arzt der eigenen Wahl untersuchen und behandeln zu lassen, lässt sich nicht vom Zweck der Untersuchungshaft her begründen. Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass im Einzelfall der Beizug eines vom Gefangenen gewählten Arztes dazu missbraucht würde, die Flucht des Gefangenen vorzubereiten oder die Straftaten zu verdunkeln, die dem Gefangenen vorgeworfen werden. Diese Gefahr erscheint aber nicht als derart allgemein und vordringlich, als dass sie ein generelles Verbot, einen Arzt der eigenen Wahl zur Untersuchung und Behandlung in der Anstalt beizuziehen, rechtfertigen könnte. Es müsste unter diesem Gesichtspunkt genügen, den Beizug eines anstaltsfremden Arztes dann zu untersagen, wenn Anhaltspunkte für die Befürchtung vorlägen, es könnten unzulässige Verbindungen zwischen einem Gefangenen und der Aussenwelt aufgenommen werden.
c) Die zur Beurteilung stehende Verweigerung des Beizugs eines Arztes freier Wahl kann jedoch zu den Beschränkungen gezählt werden, die im Interesse einer vernünftigen Ordnung und Organisation der Anstalt gerechtfertigt sind. Würde die ärztliche Betreuung der Gefangenen anstaltsfremden Ärzten übertragen, so müsste diesen der Zutritt zur Anstalt in einem mit der Anstaltsordnung kaum zu vereinbarenden Masse möglich sein. Die anstaltsfremden Ärzte müssten über die Behandlungsmöglichkeiten in der Anstalt, die Haftordnung und ihre Pflichten gegenüber den Justizbehörden instruiert werden. Unter Umständen wäre bei der Untersuchung und Behandlung die Anwesenheit von Sanitätspersonal der Anstalt unumgänglich. Der Anstaltsarzt müsste über die Diagnose und Behandlung auch dann unterrichtet sein, wenn die medizinische Betreuung eines Gefangenen nicht ihm, sondern einem anstaltsfremden Arzt obläge. Dies wäre schon mit Rücksicht auf Notfälle geboten, wäre aber auch wegen der Instruktion des Gefängnispersonals erforderlich. Überdies müsste bei zahlreichen
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Anordnungen - vorab etwa der Einweisung des Gefangenen in eine Klinik oder bei Hafterleichterungen - die Genehmigung durch den Gefängnisarzt vorbehalten werden.
Den Gefangenen könnte ungeachtet dieser Unannehmlichkeiten für den Betrieb der Anstalt nicht verwehrt werden, sich von einem Arzt ihrer Wahl untersuchen und behandeln zu lassen, wenn ohne diese Möglichkeit keine Gewähr für eine einwandfreie ärztliche Betreuung bestände. Ein solcher Anspruch der Gefangenen ergibt sich unmittelbar aus der Garantie der persönlichen Freiheit. Stellt man allein auf den Wortlaut der §§ 12 und 45 Abs. 1 BezGV ab, so genügt die Verordnung diesen Anforderungen nicht. Es wäre mit der Verfassung nicht vereinbar, wenn die medizinische Betreuung der Gefangenen ausschliesslich in der Hand des Gefängnisarztes läge, mit der einzigen Ausnahme, dass die Gefängnisverwaltung "in Notfällen" einen anderen Arzt beiziehen kann. Die Gefangenen müssen von einem anderen Arzt als dem Gefängnisarzt untersucht oder behandelt werden, wenn das Vertrauensverhältnis zum Gefängnisarzt gestört ist oder wenn medizinisch eine spezialärztliche Behandlung angezeigt ist. Diese Aufgabe kann je nach den Umständen dem Stellvertreter des Gefängnisarztes oder einem anderen, von den Behörden bestimmten Arzt übertragen werden. Die Untersuchung oder Behandlung hat je nach den Umständen in der Anstalt oder in einem Krankenhaus zu erfolgen. Das Vertrauensverhältnis zwischen einem Gefangenen und dem Gefängnisarzt ist als gestört anzusehen, wenn gewichtige Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass persönliche Gründe eine einwandfreie Betreuung des Gefangenen verunmöglichen oder erheblich erschweren. Die blosse Erklärung eines Gefangenen genügt nicht; es ist aber auch nicht erforderlich, dass der Gefangene gegen den Gefängnisarzt eine förmliche Beschwerde erhoben hat. Ist medizinisch eine spezialärztliche Untersuchung oder Behandlung geboten, so hat der Gefängnisarzt sie anzuordnen. Er ist dazu auch schon im Zweifelsfall verpflichtet. Hält der Gefängnisarzt, der meist ein Allgemeinpraktiker ist, die Voraussetzungen für eine solche Vorkehr für nicht erfüllt, so muss er einen zweiten Arzt zur Frage konsultieren, wenn der Untersuchungsgefangene dies wünscht. Diese Massnahmen der ärztlichen Betreuung sind anzuordnen, unabhängig davon, ob die Gefangenen für die daraus entstehenden Kosten aufkommen können, und ohne
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Rücksicht darauf, ob ein Gefangener ärztlicher Behandlung wegen seines eigenen gesundheitschädigenden Verhaltens bedarf. Für die ärztliche Betreuung ist schliesslich auch der Charakter der Straftaten, die dem Gefangenen vorgeworfen werden, nicht massgeblich.
3.
Die Beschwerdeführerin stand in der Untersuchungshaft mehrmals in ärztlicher Behandlung. Sie wurde vorerst allein vom Anstaltsarzt betreut. Frau Krause wurde sodann mehrmals in verschiedenen Kliniken des Kantonsspitals Zürich, zuletzt in der medizinischen Klinik, untersucht und behandelt. Im Bericht dieser Klinik vom 5. Juli 1976, der vom leitenden Arzt unterzeichnet ist und für den ein Oberarzt der psychiatrischen Universitätspoliklinik die Mitverantwortung übernommen hat, wird der Gesundheitszustand von Frau Krause als unter den gegebenen Umständen befriedigend bezeichnet und die Beschwerdeführerin als hafterstehungsfähig erklärt, wenn verschiedene Auflagen beachtet werden. Zu diesen gehört unter anderem, dass Frau Krause durch die beiden Ärzte, die sie untersucht haben, weiter behandelt werden kann.
Die künftige medizinische Betreuung von Frau Krause hat sich nach diesem spezialärztlichen Bericht und den darin enthaltenen Auflagen zu richten. Die Beschwerdeführerin geniesst bei dieser Sachlage eine einwandfreie ärztliche Fürsorge. Es steht daher mit der Verfassung nicht in Widerspruch, wenn ihr nicht gestattet wird, sich in der Anstalt von einem Arzt ihrer Wahl untersuchen und behandeln zu lassen.
4.
a) Die europäischen Mindestgrundsätze für die Behandlung der Gefangenen gehen allerdings weiter. Die Nummern 21 ff. dieser Grundsätze sehen für das Gefangenenwesen allgemein vor, dass in jeder Anstalt wenigstens die Dienste eines praktischen Arztes zur Verfügung stehen müssen. Gefangene, die krank sind und spezialärztlicher Behandlung bedürfen, sind in Sondervollzugsanstalten oder in zivile Krankenhäuser zu überweisen. Sie können im Gefängnis betreut werden, wenn dieses über besondere Einrichtungen verfügt, die für die ärztliche Behandlung geeignet sind. Ebenso muss entsprechendes Personal vorhanden sein. Neben diesen, für alle Gefangenen geltenden Grundsätzen fordert Nr. 91 für die Untersuchungsgefangenen überdies, dass ihnen auf begründeten Antrag hin Gelegenheit zu geben ist, sich von einem geeigneten
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Arzt oder Zahnarzt besuchen und behandeln zu lassen, wenn sie die Kosten übernehmen können.
Die Mindestgrundsätze für die Behandlung der Gefangenen (vgl.
BGE 102 Ia 284
E. 2c) enthalten keine völkerrechtlich bindende Grundsätze. Ihre Nichtbeachtung kann daher auch nicht mit staatsrechtlicher Beschwerde gerügt werden. Da sie - wie die Europäische Menschenrechtskonvention - ihre Grundlage in der gemeinsamen Rechtsüberzeugung der Mitgliedstaaten des Europarates finden, sind sie bei der Konkretisierung der Grundrechtsgewährleistungen der Bundesverfassung gleichwohl zu berücksichtigen. Wo den Mindestgrundsätzen der Charakter eigentlicher Grundrechtsverbürgungen zukommt, stellt sich das Bundesgericht zu ihnen nicht leichthin in Gegensatz.
Im vorliegenden Fall ist eine vom Mindestgrundsatz Nr. 91 abweichende Rechtsprechung deshalb begründet, weil von Verfassungs wegen für alle Gefangenen eine einwandfreie medizinische Betreuung gewährleistet sein muss. Es verstösst gegen das Rechtsempfinden, darüber hinaus ausschliesslich solchen Gefangenen noch weitere Möglichkeiten ärztlicher Betreuung einzuräumen, die in der Lage sind, die dabei entstehenden Kosten zu übernehmen. Weil bereits die anstaltseigene ärztliche Versorgung Gewähr für eine einwandfreie medizinische Betreuung der Gefangenen bieten muss, ist auch die Belastung des Anstaltsbetriebs ein hinreichender Grund, den Beizug von anstaltsfremden, von den Gefangenen frei gewählten Ärzten auszuschliessen.