Urteilskopf
102 Ia 76
14. Auszug aus dem Urteil vom 25. Februar 1976 i.S. Bultot gegen Grabowsky und Zivilgericht Basel-Stadt.
Regeste
Schweizerisch-belgisches Vollstreckungsabkommen vom 29. April 1959.
Vollstreckbarkeit eines belgischen Urteils in der Schweiz. Anforderungen an die Bescheinigung, dass das Urteil nicht mehr durch ordentliche Rechtsmittel anfechtbar ist und dass es vollstreckbar ist.
Marcel Bultot ist Schauspielunternehmer mit Wohnsitz in Belgien. Zwischen 1965 und 1969 schloss er mit den Brüdern Vincent und Eynar Grabowsky, wohnhaft in Basel und Arlesheim, verschiedene Verträge ab. Gestützt darauf klagte er im April 1970 die Brüder Grabowsky vor dem Handelsgericht Charleroi (Belgien) auf Bezahlung mehrerer Beträge ein. Das Handelsgericht verurteilte Vincent und Eynar Grabowsky mit Urteil vom 29. Juni 1971 zur solidarischen Bezahlung bestimmter Beträge. Die Brüder Grabowsky legten gegen das Urteil des Handelsgerichts Charleroi Berufung beim Appellationsgericht Brüssel ein, das den erstinstanzlichen Entscheid mit Urteilen vom 28. Juni 1972 und 20. September 1974 im wesentlichen bestätigte.
Nachdem Vincent Grabowsky gegen den Zahlungsbefehl von Marcel Bultot Rechtsvorschlag erhoben hatte, verlangte dieser aufgrund der belgischen Urteile die definitive Rechtsöffnung, die das Dreiergericht für Zivilsachen Basel-Stadt mit Urteil vom 26. Mai 1975 verweigerte. Hiegegen erhebt Marcel Bultot staatsrechtliche Beschwerde.
BGE 102 Ia 76 S. 77
Aus den Erwägungen:
2.
a) Gemäss Art. 4 des schweiz.-belg. Abkommens können Gerichtsentscheide, die in einem der beiden Staaten gefällt worden sind, im andern Staat zur Zwangsvollstreckung gelangen, wenn sie für vollstreckbar erklärt werden und wenn sie die Voraussetzungen erfüllen, die Art. 1 des Abkommens nennt. In der Schweiz erfolgt die Vollstreckung eines Urteils, das auf Geldzahlung lautet, auf dem Wege der Schuldbetreibung. Dabei dient das Rechtsöffnungsverfahren zugleich als Exequaturverfahren (Art. 5 des schweiz.-belg. Abkommens; Botschaft S. 317). Erhebt der Betriebene Rechtsvorschlag, so kann er gegenüber dem Urteil auch die Einwendungen geltend machen, die sich aus dem Staatsvertrag ergeben (
Art. 81 Abs. 3 SchKG
;
BGE 98 Ia 532
E. 1).
b) Art. 1 Abs. 1 lit. c des schweiz.-belg. Abkommens fordert, dass die Entscheidung nach dem Rechte des Staates, in dem sie ergangen ist, nicht mehr durch ein ordentliches Rechtsmittel anfechtbar ist. Art. 6 Abs. 1 lit. b des Abkommens schreibt vor, dass die Partei, die um das Exequatur nachsucht, eine Urkunde oder Bescheinigung darüber beizubringen hat, "dass die Entscheidung nach dem Rechte des Staates, in dem sie ergangen ist, durch ordentliche Rechtsmittel nicht mehr anfechtbar und dass sie vollstreckbar ist". (Für "ordentliche Rechtsmittel" steht in der französischen Originalfassung "voies de droit ordinaires".)
Das schweiz.-belg. Abkommen hat hier absichtlich den Ausdruck "Rechtskraft" vermieden, der sich in diesem Zusammenhang in den meisten übrigen Abkommen findet. Zwar ist nach schweizerischer Auffassung ein Urteil erst rechtskräftig, wenn es mit einem ordentlichen Rechtsmittel nicht mehr anfechtbar ist. Aber die belgische Praxis nimmt allgemein an, ein Urteil erlange Rechtskraft, sobald es gefällt ist. Wegen dieser unterschiedlichen Bedeutung hat das Abkommen den Ausdruck "Rechtskraft" nicht verwendet und die Voraussetzung statt dessen in der angeführten Weise umschrieben (Botschaft S. 312).
c) Der Beschwerdeführer legte dem Dreiergericht eine Bestätigung des "Greffier" des Kassationshofes Brüssel vom 29. Januar 1975 vor. Danach sei "zur Zeit" ("à ce jour") vor dem Kassationshof gegen das Urteil des Appellationsgerichts vom 20. September 1974 keine Beschwerde hängig. Das Dreiergericht
BGE 102 Ia 76 S. 78
erachtete diese Erklärung im Hinblick auf das Exequatur der belgischen Urteile für unzureichend. Seiner Ansicht nach liess die Erklärung ausdrücklich die Möglichkeit offen, dass eine Anfechtung später noch erfolgen könne. In diesem Fall fehle es jedoch an der unbedingten Rechtskraftbescheinigung gemäss schweiz.-belg. Abkommen und die definitive Rechtsöffnung könne aus diesem Grund nicht gewährt werden. Der Beschwerdeführer hält demgegenüber die Bescheinigung für ausreichend.
d) Die Erklärung des "Greffier" des Kassationshofes Brüssel kann als Ausweis dafür gelten, dass bis zum 29. Januar 1975 keine Kassationsbeschwerde gegen den Entscheid des Appellationsgerichts ergriffen worden ist. Offen bleibt danach, ob in diesem Zeitpunkt die Rechtsmittelfrist bereits abgelaufen war und ob die Kassationsbeschwerde überhaupt als ordentliches Rechtsmittel anzusehen ist.
Wohl hat das Bundesgericht in
BGE 28 I 50
ausgeführt, dass sich die bescheinigende Amtsstelle auf die Untersuchung zu beschränken habe, ob ein Rechtsmittel angemeldet sei. Diese Aussage bezieht sich jedoch auf den Vertrag zwischen der Schweiz und Frankreich über den Gerichtsstand und die Vollziehung von Urteilen in Zivilsachen vom 15. Juni 1869 (BS 12,347). Im Unterschied zum schweiz.-belg. Abkommen und zu andern Verträgen fordert Art. 16 Abs. 1 Ziff. 3 des schweiz.-franz. Abkommens nicht einen direkten Rechtskraft- oder Vollstreckungsnachweis, sondern nur die Bescheinigung, dass kein Rechtsmittel vorliegt (vgl. PROBST, Die Vollstreckung ausländischer Zivilurteile in der Schweiz nach den geltenden Staatsverträgen, Diss. Bern 1936, S. 114 f.; PETITPIERRE, La reconnaissance et l'exécution des jugements civils étrangers en Suisse, Diss. Neuenburg, Paris 1925, S. 122 und 69 f.). Diese Rechtsprechung lässt sich im vorliegenden Fall nicht ohne weiteres heranziehen. Abgesehen davon müsste auch in bezug auf das schweiz.-franz. Abkommen abgeklärt werden, ob diese Rechtsprechung nach den Abänderungen des Code de procédure civile vom 26. November 1965 und vom 28. August 1972 der Rechtslage in der französischen Prozessordnung noch gerecht zu werden vermag. Denn danach kommt den ordentlichen Rechtsmitteln des "appel" und der "opposition" grundsätzlich bereits während der Rechtsmittelfrist suspensive Wirkung zu und nicht wie früher erst mit Einlegung des Rechtsmittels
BGE 102 Ia 76 S. 79
(vgl. VINCENT, Procédure civile, 17. A., Paris 1974, No 577, S. 706; No 593, S. 721 f., No 619, S. 752). Zudem hat das Bundesgericht in
BGE 53 I 219
nachdrücklich hervorgehoben, dass auch nach schweiz.-franz. Vollstreckungsabkommen der Eintritt der Rechtskraft selbst eine staatsvertragliche Bedingung für die Urteilsvollstreckung bilde.
e) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts führt das Fehlen einer staatsvertraglich geforderten Bescheinigung für die Voraussetzungen der Vollstreckbarkeit eines Urteils nicht ohne weiteres zur Verweigerung der Urteilsvollstreckung. Die Vollstreckung ist gleichwohl zu gewähren, wenn nach dem sonstigen Inhalt der Akten als erwiesen gelten muss, dass das Urteil rechtskräftig und vollstreckbar ist. Die Bescheinigung bezweckt lediglich, den Nachweis für diese Voraussetzungen durch ein formelles Beweismittel sicherzustellen (
BGE 53 I 219
;
BGE 39 I 624
E. 1 mit Nachweisen).
Aus dem Urteil des Appellationsgerichts selbst geht nicht hervor, ob der Entscheid noch durch ein ordentliches Rechtsmittel anfechtbar ist. Den Akten ist auch nicht zu entnehmen, dass der Beschwerdegegner auf die Einlegung eines Rechtsmittels verzichtet hat. Die Rechtsmittelfrist für die Kassationsbeschwerde ist aufgrund der Akten nicht bekannt. Es scheint ferner nicht zum vorneherein klar zu sein, dass die Kassationsbeschwerde kein ordentliches Rechtsmittel darstellt. Zwar führt die Botschaft aus, dass der Ausdruck "voies de droit ordinaires" deshalb gewählt wurde, weil er sowohl die belgischen Rechtsmittel des "appel" als auch der "opposition" erfasse. Ob aber noch andere ordentliche Rechtsmittel bestehen, lässt sich danach nicht eindeutig beurteilen. Inwiefern der Beschwerdeführer dem kantonalen Vollstreckungsrichter zusätzliche Belege hätte vorlegen müssen, braucht das Bundesgericht nicht weiter abzuklären. Denn der Beschwerdeführer bringt im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde die notwendigen Belege bei.
f) Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die nicht die Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges voraussetzen, sind neue Vorbringen zulässig, soweit sie Tatsachen zum Gegenstand haben, die vor dem angefochtenen Entscheid eingetreten sind (
BGE 82 I 250
E. 3).
Der Beschwerdeführer legt dem Bundesgericht zwei Bescheinigungen vor. Beide hat der "Greffier en Chef" des Appellationsgerichts Brüssel ausgestellt, die erste
BGE 102 Ia 76 S. 80
am 4. Juni 1975, die zweite am 20. November 1975. Beide enthalten die Bestätigung, dass gemäss Art. 1 § 1 lit. C und 6 § 1 lit. b des belgischen Zustimmungsgesetzes vom 21. Mai 1962 zum schweiz.-belg. Abkommen und gemäss Art. 21 des belgischen Gesetzes vom 10. Oktober 1967, welches den Code judiciaire belge enthalte, der Entscheid des Appellationsgerichts vom 20. September 1974 nicht mehr durch ein ordentliches Rechtsmittel angefochten werden könne und dass er vollstreckbar sei. Das Schreiben vom 20. November 1975 bescheinigt zudem, dass dies seit dem 20. September 1974 der Fall sei. Die Bescheinigung vom 20. November kann nicht mehr berücksichtigt werden, da sie der Beschwerdeführer erst nach Ablauf der Beschwerdefrist einreichte (
BGE 85 I 44
E. 1). Aber aus weiteren Belegen, die der Beschwerdeführer der Beschwerdeschrift beilegte, ergibt sich, dass die bescheinigte Tatsache in der Erklärung vom 4. Juni 1975 ebenfalls auf den 20. September 1974 zurückzubeziehen ist. In dem an die "Chambre des Représentants" gerichteten "exposé des motifs" führte die belgische Regierung aus, dass gemäss dem schweiz.-belgischen Abkommen die belgischen Urteile nicht mehr durch die Rechtsmittel der "opposition" und des "appel" anfechtbar sein dürfen, wenn sie in der Schweiz anerkannt werden sollen. Als ordentliche Rechtsmittel im Sinne des Art. 1 Abs. 1 lit. c, aber auch des Art. 6 Abs. 1 lit. b des Abkommens gelten danach ausschliesslich die beiden genannten Rechtsmittel. Eine Anfechtung des Appellationsurteils vom 20. September 1974 durch ein ordentliches Rechtsmittel war deshalb bereits am Tage der Urteilsfällung ausgeschlossen. Damit sind die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 lit. b, bzw. des Art. 1 Abs. 1 lit. c des schweiz.-belg. Abkommens erfüllt. Der Erteilung des Exequaturs steht diesbezüglich nichts mehr entgegen. Die Beschwerde ist insofern begründet. Ist die Verweigerung der Rechtsöffnung nicht noch aus einem andern Grund gegeben, so ist die Beschwerde gutzuheissen und das Urteil des Dreiergerichts aufzuheben.