Urteilskopf
102 Ib 218
35. Urteil vom 25. Juni 1976 i.S. Moser gegen Rekurskommission des Kantons Thurgau
Regeste
Widerhandlungen gegen Vorschriften des Milchlieferungsregulativs: Ordnungsbussenverfahren nach Art. 20 ff. der Verordnung über den milchwirtschaftlichen Kontroll- und Beratungsdienst; Verjährungsfrage.
- Verwarnungen und Ordnungsbussen wegen Widerhandlungen gegen Vorschriften des Milchlieferungsregulativs können letztinstanzlich mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht angefochten werden. Der Ausnahmegrund des
Art. 100 lit. f OG
trifft nicht zu; auch wird das Verfahren durch die Bestimmungen des VStrR nicht beeinflusst (Erw. 1).
- Die Frage der Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung von Ordnungsbussen wegen Widerhandlungen gegen Vorschriften des Milchlieferungsregulativs richtet sich nicht nach der Sonderordnung des
Art. 11 VStrR
, sondern es ist diesbezüglich nach
Art. 333 Abs. 1 StGB
auf die
Art. 70 ff. und 109 StGB
zurückzugreifen (Erw. 2).
Auf Anzeige von Käsereiinspektor Christinger hin verurteilte die Sanktionskommission des milchwirtschaftlichen Kontroll- und Beratungsdienstes Ernst Moser am 11. August 1971 zu einer Ordnungsbusse von Fr. 150.--, die sie nach Wiedererwägung am 3. Dezember 1971 bestätigte. Ernst Moser wird vorgeworfen, am 21. Juni 1971 durch Ablieferung kontaminierter Milch den Bestimmungen des Schweizerischen Milchlieferungsregulativs und der bundesrätlichen Verordnung über den milchwirtschaftlichen Kontroll- und Beratungsdienst zuwidergehandelt zu haben. Der Betroffene wandte sich am 28. Dezember 1971 gegen diese Verfügung an die Rekurskommission des milchwirtschaftlichen Kontroll- und Beratungsdienstes des Kantons Thurgau; diese wies die Beschwerde mit Entscheid vom 27. März 1974, zugestellt am 2. Juli 1975, ab. Als Rechtsmittelbelehrung gab sie den Beschwerdeweg
BGE 102 Ib 218 S. 220
an den Bundesrat an. Ernst Moser erhob daraufhin beim Bundesrat Beschwerde und verlangte, er sei freizusprechen und von allen Verfahrenskosten zu entbinden, eventuell seien die Schreibgebühren für den Rekursentscheid herabzusetzen.
Bundesrat und Bundesgericht einigten sich in einem Meinungsaustausch darüber, dass das eingelegte Rechtsmittel als Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom Bundesgericht zu beurteilen und zu entscheiden sei.
Die Vorinstanz beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Die Abteilung für Landwirtschaft verzichtet darauf, zum Fall Stellung zu nehmen.
Erwägungen:
1.
Der angefochtene Entscheid stützt sich auf öffentliches Recht des Bundes (eidgenössische Milchgesetzgebung); er stellt eine Verfügung im Sinne von
Art. 5 VwVG
und
Art. 97 OG
dar. Er stammt von einer letzten kantonalen Instanz, gegen deren Verfügung das Bundesrecht nicht zunächst die Beschwerde an eine Vorinstanz im Sinne der lit. b bis f des
Art. 98 OG
vorsieht (
Art. 98 lit. g OG
). Keiner der in den Artikeln 99 bis 102 aufgezählten Ausnahmen trifft zu, namentlich nicht der Unzulässigkeitstatbestand des
Art. 100 lit. f OG
, geht es doch nicht um ein eigentliches Strafverfahren, sondern um ein Ordnungsbussenverfahren.
Dieses wird durch die neuen Bestimmungen des BG über das Verwaltungsstrafrecht (VStrR) in keiner Weise beeinflusst.
Art. 106 Abs. 1 VStrR
sieht nämlich vor, dass Strafverfahren, in denen die Strafverfügung der Verwaltung nach
Art. 293 oder 324 BStP
vor dem Inkrafttreten der neuen Bestimmungen des VStrR getroffen worden ist, nach bisherigem Recht fortgesetzt werden. Die hier in Frage stehende Verfügung, mit der die Sanktionskommission den Beschwerdeführer in eine Ordnungsbusse verfällt hat, erging am 11. August 1971, also lange vor dem Inkrafttreten des VStrR und noch unter der Herrschaft des alten Milchlieferungsregulativs von 1954.
Selbst wenn also mit dem Inkrafttreten des VStrR am 1. Januar 1975 die Rechtslage sich hinsichtlich des Ordnungsbussenverfahrens geändert hätte (Anhang zum VStrR Ziffern 29 und 30), würde die Übergangsbestimmung des
Art. 106 VStrR
BGE 102 Ib 218 S. 221
eine allfällige Anwendung der neuen Bestimmungen nicht zulassen.
Eine genauere Betrachtung der geltenden Rechtslage lässt aber deutlich werden, dass sich hinsichtlich des Ordnungsbussenverfahrens auch seit dem Inkrafttreten des VStrR und für Fälle, die von den Übergangsbestimmungen nicht berührt werden, nichts geändert hat in Bezug auf die Zuständigkeit und das Verfahren.
Die Anwendbarkeit des VStrR setzt nach Art. 1 dieses Gesetzes voraus, dass die Verfolgung und Beurteilung von Widerhandlungen einer Verwaltungsbehörde des Bundes übertragen ist. Der Anknüpfungspunkt für den Entscheid in der Frage der Anwendbarkeit des VStrR ist somit primär kein materiellrechtlicher, sondern ein organisationsrechtlicher. Das Bundesrecht muss die Verfolgung und Beurteilung von Widerhandlungen einer Verwaltungsbehörde des Bundes übertragen (beispielsweise
Art. 87 ZG
und
Art. 50 StG
, beide in der Fassung gemäss
Art. 104 VStrR
Ziffern 7 und 8); sieht das Bundesrecht keine entsprechende Kompetenzzuweisung vor oder überträgt es kantonalen Behörden die Zuständigkeit zur Verfolgung und Beurteilung von Widerhandlungen (so beispielsweise Art. 132 WStB oder
Art. 103 Abs. 2 SVG
), gelangen die Bestimmungen des VStrR nicht, zumindest nicht unmittelbar, zur Anwendung (über die Entstehungsgeschichte des
Art. 1 VStrR
und seine Tragweite vgl. BBl 1971 I 1004; Amtl.Bull. 1973 N S. 453; JEAN GAUTHIER, La loi fédérale sur le droit pénal administratif, in mémoires publiés par la faculté de droit de Genève no 46/1975, S. 29; MARKUS PETER, Das neue Bundesgesetz über das Verwaltungsstrafrecht, in ZStrR 90/1974, S. 22 f.; ROBERT W. PFUND, Der Entwurf eines Bundesgesetzes über das Verwaltungsstrafrecht, in ZBl 74/1973 S. 60).
Hinsichtlich von Ordnungsbussen der hier zur Diskussion stehenden Art sehen sowohl die einschlägigen Bestimmungen der Verordnung über den milchwirtschaftlichen Kontroll- und Beratungsdienst vom 22. November 1972 (nachfolgend Verordnung/1972), welche jene vom 29. Dezember 1954 (nachfolgend Verordnung/1954) ersetzt, als auch des Schweizerischen Milchlieferungsregulativs vom 18. Oktober 1971 (MLR), das an die Stelle des früheren vom 29. Dezember 1954 getreten ist, folgende Verfahrensordnung vor: Ordnungsbussen werden bei
BGE 102 Ib 218 S. 222
Verletzung der Verordnung sowie des MLR, soweit sie in Ziff. 3 des Anhanges zur Verordnung verzeichnet sind, von der Sanktionskommission verfügt (Art. 14 Verordnung/1954, Art. 24 Verordnung/1972). Die Kantone haben für das Tätigkeitsgebiet ihres milchwirtschaftlichen Kontroll- und Beratungsdienstes eine Beschwerdeinstanz zu bezeichnen (Art. 17 Verordnung/1954, Art. 29 Verordnung/1972). Diese Beschwerdeinstanz ist - soweit innerkantonal der Beschwerdeweg nicht mehrstufig ausgestaltet ist - letzte kantonale Instanz sowohl nach dem alten als auch nach dem neuen Recht. Gegen deren Entscheid ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht zulässig.
Dass dem bundesgerichtlichen Verfahren noch ein Beschwerdeverfahren bei einer Bundesverwaltungsbehörde vorgelagert wäre, schliessen sowohl Art. 17 der alten, als auch Art. 29 der neuen Verordnung aus. Diese Bestimmungen sehen nämlich vor, dass einerseits die Kantone eine Beschwerdeinstanz bezüglich Verwarnungen und Ordnungsbussen bezeichnen müssen, und dass anderseits bei allen übrigen (und eben nur bei diesen) Anordnungen und Entscheiden der Beschwerdeweg an die Abteilung für Landwirtschaft offensteht. An dieser Verfahrensordnung ist mit dem Inkrafttreten des VStrR nichts geändert worden. Die Änderungen des geltenden Bundesrechts sind im Anhang zum VStrR abschliessend aufgeführt (
Art. 104 Abs. 1 VStrR
). Bestimmungen, die darauf abzielen, das bisherige Rechtsschutzverfahren bezüglich Ordnungsbussen nach Art. 24 und 29 der Verordnung/1972 abzuändern, wurden im Anhang des VStrR unter den entsprechenden Ziffern 29 und 30 nicht erlassen.
2.
In der Sache selbst stellt sich die Frage nach einer allfälligen Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung des hier in Frage stehenden Verstosses gegen die Bestimmungen der Verordnung und des MLR. Dabei ist davon auszugehen, dass die Tat, die Anlass zur Bestrafung durch die Sanktionskommission gab, am 21. Juni 1971 gesetzt worden ist. Weder die damals geltende noch die inzwischen in Kraft getretene Milchgesetzgebung enthält Bestimmungen, wann Widerhandlungen, die Anlass zu einem Ordnungsbussenverfahren geben, und wann verfügte Ordnungsbussen verjähren. Angesichts des auch pönalen Charakters dieser Massnahmen ist daher auf
Art. 333 StGB
zurückzugreifen. Nach Abs. 1 dieser Bestimmung
BGE 102 Ib 218 S. 223
finden auf Taten, die in andern Bundesgesetzen mit Strafe bedroht sind, die allgemeinen Bestimmungen des StGB insoweit Anwendung, als diese Bundesgesetze nicht selbst Bestimmungen aufstellen. Das bedeutet, dass hinsichtlich des Verjährungsproblems die
Art. 70 ff. und
Art. 109 StGB
heranzuziehen sind (vgl. hiezu auch
BGE 97 IV 236
E. 3, wo es ebenfalls um die Anwendung des
Art. 333 StGB
geht, allerdings nicht in Bezug auf die Verjährungsfrage, sondern hinsichtlich des Problems der Rückwirkung; Rückgriff auf
Art. 2 Abs. 2 StGB
). Wohl enthält das VStrR in Art. 11 eine Sonderordnung hinsichtlich der Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung bei Übertretungen. Doch ist diese Ordnung auf jene Fälle beschränkt, welche in den Anwendungsbereich des VStrR fallen (vgl. GAUTHIER, a.a.O., S. 31 f.). Das ist hier - wie bereits dargelegt worden ist - nicht der Fall.
Art. 109 StGB
sieht vor, dass eine Übertretung in einem Jahr, die Strafe einer Übertretung in zwei Jahren verjährt. Die Strafverfolgung verjährt - trotz Ruhens und Unterbrechung -, wenn die ordentliche Verjährungsfrist um ihre ganze Dauer überschritten ist (
Art. 72 Ziff. 2 Abs. 2 StGB
), d.h. die absolute Verjährung tritt nach Ablauf von zwei Jahren der Tat ein. Dieser Regelung trägt denn auch Art. 29 Abs. 1 letzter Satz der Verordnung/1972 insofern Rechnung, als die kantonale Beschwerdeinstanz von Bundesrechts wegen verpflichtet wird, über Beschwerden gegen Verwarnungen und Ordnungsbussen innerhalb von sechs Monaten zu befinden.
Im vorliegenden Fall ist die Verfolgungsverjährung für die Ernst Moser zur Last gelegte Widerhandlung am 21. Juni 1973 eingetreten. In diesem Zeitpunkt war die von der Sanktionskommission ausgesprochene Ordnungsbusse nicht in Rechtskraft erwachsen. Jede weitere "Strafverfolgung" war somit einzustellen. Der Entscheid der kantonalen Rekurskommission, welcher trotz eingetretener Verjährung die angefochtene Busse bestätigte, verletzt somit Bundesrecht. Er ist demnach aufzuheben und die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gutzuheissen.