BGE 102 IB 296 vom 12. November 1976

Datum: 12. November 1976

Artikelreferenzen:  Art. 16 Abs. 2 SVG

BGE referenzen:  108 IB 254 , 96 I 779, 97 I 605

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

102 Ib 296


50. Auszug aus dem Urteil vom 12. November 1976 i.S. Fatzer gegen Regierungsrat des Kantons Zürich

Regeste

Entzug des Führerausweises.
- Der Verzicht auf die Vollstreckung des Führerausweisentzuges ist eine Massnahme, die weder im Gesetz vorgesehen ist, noch durch die allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsrechts gerechtfertigt wird (E. 3c, d).
- Unvereinbarkeit des Vollstreckungsverzichtes mit dem Grundsatz der Rechtsgleichheit (E. 3e).
- Unzulässigkeit, die Praxis des Vollstreckungsverzichtes als Gewohnheitsrecht zu betrachten (E. 3f).

Sachverhalt ab Seite 296

BGE 102 Ib 296 S. 296
Die Polizeidirektion des Kantons Zürich entzog Adrian Fatzer am 19. Juni 1975 den Führerausweis für die Dauer von zwei Monaten. Sie ging davon aus, dass er am 13. April 1975 auf der Autobahn bei Kilchberg sein Fahrzeug nicht beherrscht hatte. Der Regierungsrat des Kantons Zürich hielt auf Beschwerde hin die Massnahme, die er auf Art. 16 Abs. 2 SVG stützte, aufrecht. Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt
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Fatzer, es sei der Entscheid des Regierungsrates aufzuheben, eventuell sei eine Verwarnung auszusprechen. Ferner beantragt er, eventuell sei auf den Vollzug der Massnahme zu verzichten. Der Regierungsrat des Kantons Zürich und das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement beantragen Abweisung der Beschwerde. Das EJPD fügt bei, es habe gegen einen Verzicht auf den Vollzug der Massnahme nichts einzuwenden.
Das Bundesgericht erachtet den Entzug des Führerausweises als gerechtfertigt und nimmt zur Frage des Vollzugsverzichtes wie folgt Stellung:

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3. a) Eventualiter beantragt der Beschwerdeführer, es sei auf die Vollstreckung des Führerausweisentzuges zu verzichten. Er stützt sich dabei auf die Praxis des EJPD, wonach ein fakultativer Warnungsentzug nicht mehr vollzogen wird, wenn seit der ihm zu Grunde liegenden Widerhandlung mehr als ein Jahr verstrichen ist und der Täter durch sein seitheriges Wohlverhalten gezeigt hat, dass er der Warnungsmassnahme nicht mehr bedarf (VPB 39/1975 Nr. 100).
Nach dieser Praxis wären im vorliegenden Fall die Voraussetzungen gegeben, um auf einen Vollzug zu verzichten. Das EJPD unterstützt denn auch in seiner Vernehmlassung einen Verzicht auf den Vollzug der Massnahme.
b) Das Bundesgericht hat bis jetzt zu dieser Praxis des EJPD nie Stellung nehmen müssen und hat die Frage offen gelassen, ob diese mit dem Gesetz vereinbar sei ( BGE 96 I 779 , Entscheid des Bundesgerichts vom 24.5.1972 i.S. T., in ZWallRspr. 1972, S. 445). Dabei wurde allerdings ausgeführt, es sei fraglich, ob die Behörden auf die Vollstreckung des Führerausweisentzuges verzichten könnten ( BGE 96 I 779 ).
c) Der Verzicht auf den Vollzug des Führerausweisentzuges ist nicht eine Massnahme oder Modalität der Vollstreckung. Er ändert vielmehr mit einer neuen, selbständigen Verfügung zum Teil die ursprüngliche Entzugsverfügung ( BGE 97 I 605 f.). Diese wird zwar formell in Kraft gelassen und belastet damit den automobilistischen Leumund eines fehlbaren Lenkers. Sie erfährt aber eine Änderung, indem sie als nicht mehr vollziehbar erklärt wird.
Die Änderung von Entzugsverfügungen durch Verzicht auf die Vollstreckung findet ihre Grundlage nicht im Gesetz. Darauf
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ist bereits in der Doktrin hingewiesen worden (GYGI, Bundesrechtliche Rechtsmittel beim Entzug von Führerausweisen, in Rechtsprobleme des Strassenverkehrs, 1975, S. 127; STAUFFER, Der Entzug des Führerausweises, Diss. Bern 1966, S. 88 f.).
d) Die nachträgliche Änderung oder Aufhebung von Verfügungen durch die Verwaltung ist jedoch nicht ausgeschlossen, wenn das betreffende Gesetz keinen Hinweis darauf enthält. Die Rechtsprechung und Doktrin haben vielmehr Kriterien entwickelt für die Anpassung einer ursprünglich fehlerfreien Verfügung an inzwischen eingetretene Tatsachen, für die Rücknahme von fehlerhaften Verfügungen und schliesslich für die Feststellung der Nichtigkeit.
Der Verzicht auf den Vollzug des Führerausweisentzuges kann keiner dieser Fallgruppen zugeordnet werden. Am ähnlichsten ist er der Anpassung von Verfügungen an inzwischen eingetretene Tatsachen.
Die Kriterien für diese Anpassung sind bei Verfügungen entwickelt worden, die dauernde Rechtsverhältnisse begründen und darum durch die zeitliche Entwicklung überholt werden können. Zudem bedeutet eine Anpassung einer Verfügung, wie sie von der Praxis entwickelt worden ist, meistens eine Verschlechterung der Rechtsstellung des Verfügungsadressaten, die u.U. mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes in Konflikt kommen kann. Darum wird in solchen Fällen eine Wertabwägung durchgeführt, auf Grund welcher eine Verfügung den neuen Verhältnissen angepasst wird, wenn das Interesse an der richtigen Anwendung des Rechtes dem Interesse an der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vorgeht.
Beim Verzicht auf die Vollstreckung des Führerausweisentzuges ist die Problemlage jedoch anders. Erstens ist die Dauer der Massnahme in den meisten Fällen nicht so lang, dass es nötig werden kann, inzwischen eingetretene Tatsachen zu berücksichtigen. Zweitens handelt es sich beim Verzicht auf den Vollzug um eine Verbesserung der Stellung des Verfügungsadressaten. Aus diesem Grund dürfte die Rechtssicherheit und der Vertrauensschutz keine Rolle spielen. Der Verzicht auf den Vollzug des Führerausweisentzuges kann somit nicht dem Institut der Anpassung von Verfügungen, wie es von der Praxis entwickelt worden ist, zugeordnet werden.
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Die Praxis des Vollzugsverzichtes beim Führerausweisentzug ist denn auch nicht als Ausgleich der Prinzipien der Rechtssicherheit, Vertrauensschutz und Legalität zu verstehen, sondern wurde durch die grossen Rückstände, die die Behörden bei der Behandlung von Beschwerden gegen solche Entzüge aufweisen, motiviert. Diese Rückstände entstehen zum Teil dadurch, dass die Administrativbehörden den Ausgang eines Strafverfahrens abwarten, bis sie selber entscheiden. Es ist denkbar, dass infolge dieser langen Rechtsmittelverfahren ein fehlbarer Fahrzeuglenker seinen Führerausweis noch Jahre nach einer Verkehrsregelverletzung zu deponieren hat. Es ist zwar verständlich, dass mit einem Verzicht auf den Vollzug versucht wurde, solche unbefriedigende Situationen für den fehlbaren Fahrzeuglenker zu mildern. Die Verwaltung darf aber auf Grund des Gesetzes verhängte Massnahmen nicht darum abändern, weil die Behandlung von Rechtsmitteln eine lange Zeit beansprucht hat. Bei den erwähnten Fallgruppen der Anpassung, Rücknahme und Feststellung der Nichtigkeit verlangt das Interesse an der Legalität die Änderung von Verfügungen. Im Fall des Verzichtes auf die Vollstreckung des Führerausweisentzuges verbietet aber gerade die Gesetzestreue eine Änderung einer Verfügung, während eine solche durch das Interesse an der Vermeidung der unbefriedigenden Folgen von langen Rechtsmittelverfahren motiviert ist. Ein solches Interesse kann jedoch nicht die Änderung von Massnahmen rechtfertigen, die auf gesetzliche Weise verhängt worden sind.
e) Der Vollzugsverzicht ist vor allem auch unter dem Gesichtspunkt der Rechtsgleichheit zu beanstanden (GYGI, a.a.O. S. 127). Fahrzeuglenker, die einen Führerausweisentzug nämlich ohne Ergreifen eines Rechtsmittels akzeptieren, gelangen nie in den Genuss eines Vollzugsverzichtes. Fehlbare Fahrzeuglenker jedoch, die alle ihnen zur Verfügung stehenden Rechtsmittel bis zur letzten Instanz benützen, werden den Vollzug des Führerausweisentzuges vielfach so lange hinauszögern können, bis ein Vollzugsverzicht bei gleichzeitigem Vorliegen der anderen vom EJPD verlangten Voraussetzungen in Frage kommt. Dies ist um so eher möglich, wenn die Administrativbehörden den Ausgang eines länger dauernden Strafverfahrens in der gleichen Sache abwarten, bevor sie über den Führerausweisentzug entscheiden.
Der Vollzugsverzicht bevorzugt mit anderen Worten den
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beschwerdefreudigen vor dem einsichtigen fehlbaren Lenker. Eine solche, im Gesetz nicht vorgesehene ungleiche Behandlung verletzt den Grundsatz der Rechtsgleichheit.
f) Unzulässig ist es schliesslich, die Praxis des Verzichtes auf den Entzug des Führerausweises als Gewohnheitsrecht zu betrachten, wie dies von STAUFFER vorgeschlagen wird (a.a.O. S. 89). Einmal scheint die zeitliche Dauer der Praxis für eine Bildung von Gewohnheitsrecht sehr kurz. Entscheidend ist aber, dass das Bundesgericht mehrmals Vorbehalte zu dieser Praxis angebracht oder die Frage der Vereinbarkeit mit dem Gesetz zumindest offen gelassen hat. Die Praxis des Entzugsverzichtes kann bei dieser Lage nicht die opinio iuris et necessitatis für sich in Anspruch nehmen, die Voraussetzung für die Bildung von Gewohnheitsrecht wäre.
g) Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass der Verzicht auf die Vollstreckung des Führerausweisentzuges eine Massnahme ist, die weder vom Gesetz noch durch die allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsrechts gerechtfertigt wird. Diese Praxis ist daher rechtswidrig und muss aufgegeben werden (so auch GYGI, a.a.O. S. 127).

Dispositiv

Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird abgewiesen.

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