Urteilskopf
102 II 190
28. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 7. Oktober 1976 i.S. R. S. gegen Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt.
Regeste
Art. 372 ZGB
.
Das Entmündigungsbegehren kann nicht mehr zurückgezogen werden, wenn die Entmündigung bereits ausgesprochen worden ist.
Aus dem Tatbestand:
Am 6. Februar 1976 unterzeichnete R. S., der an endogenem Schwachsinn vom Grade einer Imbezillität leidet, anlässlich einer Besprechung mit der Vormundschaftsbehörde Basel-Stadt einen Antrag auf Entmündigung auf eigenes Begehren, nachdem ihm das entsprechende Formular eingehend erklärt worden war. Mit Beschluss vom 17. Februar 1976 stellte ihn die Vormundschaftsbehörde hierauf gestützt auf
Art. 372 ZGB
unter Vormundschaft.
Am 24. Februar 1976 schrieb R. S. an das Justizdepartement des Kantons Basel-Stadt, er sei überrascht, offenbar einen Antrag auf Entmündigung unterzeichnet zu haben; in Wirklichkeit habe er nie unter Vormundschaft gestellt werden wollen; er finde, man solle ihm Gelegenheit geben, sich selbst durchzubringen. Das Justizdepartement nahm den Brief als Rekurs entgegen, wies diesen aber mit Entscheid vom 17. März 1967 ab. Ein Rekurs gegen diesen Entscheid wurde vom Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt mit Beschluss vom 1. Juni 1976 abgewiesen.
Das Bundesgericht weist die Berufung gegen den Beschluss des Regierungsrats ab.
Aus den Erwägungen:
3.
Nach der früheren Rechtsprechung des Bundesgerichts war der Widerruf des einmal gestellten Entmündigungsbegehrens
BGE 102 II 190 S. 191
in jedem Falle unbeachtlich. Waren die objektiven Voraussetzungen einer Entmündigung auf eigenes Begehren erfüllt, so musste die Entmündigung demnach auch dann ausgesprochen werden, wenn der Antragsteller inzwischen seinen Entschluss bereut und sein Begehren noch vor der Ausfällung des Entmündigungsentscheids rückgängig gemacht hatte (
BGE 54 II 242
). Diese Rechtsprechung stiess bei der Doktrin indessen auf Kritik (vgl. insbesondere BAER, Die Entmündigung auf eigenes Begehren, ZVW 1955 S. 122 f.; HESS, Rechtliche Voraussetzungen und fürsorgerische Bedeutung der Entmündigung auf eigenes Begehren, ZVW 1949 S. 60 f.) und wurde in
BGE 99 II 15
ff. aufgegeben. Nach diesem Entscheid darf eine Entmündigung auf eigenes Begehren nur angeordnet werden, wenn im Zeitpunkt des Entmündigungsentscheids ein gültiges Entmündigungsbegehren vorliegt. Daran fehlt es, wenn das Begehren vor diesem Zeitpunkt widerrufen worden ist. Der Rückzug des Entmündigungsbegehrens wurde demnach als zulässig erachtet, sofern er vor der Ausfällung des Entmündigungsentscheids erfolgte. Der Berufungskläger möchte nun einen Schritt weiter gehen und den Rückzug auch dann zulassen, wenn die Entmündigung wie im vorliegenden Fall bereits ausgesprochen, aber noch nicht rechtskräftig geworden ist.
Gegen eine solche Erweiterung der Widerrufbarkeit des Entmündigungsbegehrens bestehen jedoch Bedenken. Hat die zuständige Behörde den Entmündigungsentscheid einmal gefällt, so kann sie nicht mehr darauf zurückkommen, es sei denn, der Grund des Begehrens sei inzwischen dahingefallen, so dass die Vormundschaft wieder aufgehoben werden kann (
Art. 438 ZGB
). Eine Widerrufserklärung wäre in diesem Zeitpunkt daher wirkungslos. Sie könnte nur im Zusammenhang mit der Ergreifung eines Rechtsmittels gegen den Entmündigungsentscheid abgegeben werden. Die Widerrufserklärung wäre aber eine neue Tatsache, und Noven dürfen nach vielen kantonalen Prozessordnungen im Rechtsmittelverfahren zum vornherein nicht vorgebracht werden. Dazu kommt, dass jedes Rechtsmittel gegen den Entmündigungsentscheid gemäss
Art. 372 ZGB
notwendig auch eine Widerrufserklärung beinhaltet. Die Ergreifung eines solchen Rechtsmittels hätte daher stets ipso iure den Hinfall des Entmündigungsverfahrens zur Folge, wenn der Widerruf des Entmündigungsbegehrens nach
BGE 102 II 190 S. 192
Ausfällung des Entmündigungsentscheids zulässig wäre. Das liesse sich mit dem Sinn des Rechtsmittelverfahrens nicht vereinbaren. Dieser besteht bei der Entmündigung nach
Art. 372 ZGB
darin, dass von einer zweiten Instanz überprüft werden kann, ob die objektiven Voraussetzungen der Entmündigung (Fürsorgebedürftigkeit infolge von Altersschwäche oder andern Gebrechen oder von Unerfahrenheit) erfüllt seien und ob das Entmündigungsbegehren nicht mit einem Mangel (Irrtum, Urteilsunfähigkeit des Interdizenden) behaftet sei. Diese Prüfung könnte die Rechtsmittelinstanz gar nie vornehmen, wenn im Rechtsmittel das Entmündigungsbegehren zurückgezogen werden dürfte. Es besteht jedenfalls kein Anlass, den Kantonen von Bundesrechts wegen vorzuschreiben, den Widerruf noch im Rechtsmittelverfahren zu berücksichtigen.
Dem Berufungskläger ist allerdings zuzugeben, dass sich gewisse Antragsteller erst bei Erhalt des Entmündigungsentscheids der Tragweite ihres Gesuchs richtig bewusst werden dürften. Dieser Umstand sollte die Vormundschaftsbehörde veranlassen, sich genau zu vergewissern, ob ein klares, auf freiem Willensentschluss beruhendes Entmündigungsbegehren vorliegt, zumal wenn die geistigen Fähigkeiten des Interdizenden beschränkt sind; er rechtfertigt es jedoch nicht, den Rückzug des Begehrens auch noch nach Ausfällung des Entmündigungsentscheids zuzulassen. Die gegenteilige, nicht näher begründete Ansicht von KAUFMANN, N. 8 zu
Art. 372 ZGB
, ist vereinzelt geblieben.