Urteilskopf
103 Ia 95
20. Auszug aus dem Urteil vom 30. März 1977 i.S. X. gegen Bezirksrichter Schaffhausen, Polizeidirektion und Obergericht des Kantons Schaffhausen
Regeste
Art. 4 BV
; kantonales Strafrecht.
Verletzung des Grundsatzes nulla poena sine lege durch eine ausdehnende Auslegung des Begriffes Waffentragen auf den blossen Waffenbesitz.
Die Polizeidirektion des Kantons Schaffhausen bestrafte X. wegen Übertretung der Verordnung des Regierungsrates über den Handel mit Waffen und Munition, das Waffentragen und den Waffenbesitz vom 27. März 1973 (WaffenV) mit einer Busse von Fr. 500.--, weil X. bis zum 23. April 1974 zahlreiche Faustfeuerwaffen und Munition besass. Nach § 12 Abs. 1 WaffenV darf ein bestimmter Personenkreis, zu dem X. zweifellos gehört, keine Waffen oder Munition besitzen.
Die Polizeidirektion wies die Einsprache des X. gegen ihre Strafverfügung ab. Der Bezirksrichter Schaffhausen wies den hiegegen erhobenen Rekurs ebenfalls ab, setzte jedoch die Busse auf Fr. 100.-- herunter. Das Obergericht des Kantons Schaffhausen wies die dagegen eingereichte Nichtigkeitsbeschwerde ab, soweit es auf sie eintrat. X. führt gegen die Entscheide des Bezirksrichters und des Obergerichts gestützt auf
Art. 4 BV
staatsrechtliche Beschwerde.
Aus den Erwägungen:
4.
Der Beschwerdeführer macht geltend, er sei bestraft worden, ohne dass dafür eine gesetzliche Grundlage bestehe, weshalb der Bezirksrichter den Grundsatz "Keine Strafe ohne Gesetz" verletzt habe. Dieser Grundsatz folgt aus
Art. 4 BV
und ist vom Bundesgesetzgeber in den
Art. 1 StGB
übernommen worden. Würde es sich um die Anwendung eidgenössischen Strafrechts handeln, so könnte nur noch die Verletzung der genannten Regel des StGB geltend gemacht werden; denn wenn der Bund ein in der BV garantiertes Freiheitsrecht durch eidgenössisches Privat- oder Strafrecht umschreibt, kommt eine direkte Berufung auf die Verfassung nicht mehr in Frage. Der Bezirksrichter und das Obergericht haben jedoch kantonales, nicht eidgenössisches Strafrecht angewendet, sodass sich der Beschwerdeführer auf
Art. 4 BV
berufen kann mit der Behauptung, das angefochtene Urteil verletze den Satz "Keine Strafe ohne Gesetz" (
BGE 96 I 28
E. 4a mit Hinweisen).
Da sich die Bestrafung des Beschwerdeführers wegen unerlaubten Waffenbesitzes auf § 12 Abs. 1 WaffenV stützt und der Regierungsrat seine Befugnis zum Erlass der WaffenV in deren Ingress ausdrücklich mit dem Hinweis auf Art. 23 des schaffhausischen EG zum StGB (EGzStGB) begründet, wäre die Bestrafung nur dann als gesetzmässig zu betrachten, wenn Art. 23 EGzStGB den Regierungsrat zum Erlass von Vorschriften auch über den blossen Waffenbesitz ermächtigte.
a) Der Bezirksrichter und das Obergericht sind mit dem Beschwerdeführer darin einig, dass Art. 23 EGzStGB den Waffenbesitz nicht erwähnt und sein Wortlaut deshalb den III. Abschnitt der WaffenV über den Waffenbesitz nicht deckt. Nach der genannten Bestimmung erlässt der Regierungsrat die im öffentlichen Interesse und zum Schutze des
BGE 103 Ia 95 S. 97
Publikums gebotenen Vorschriften über den Handel mit Waffen und Munition und über das Waffentragen. Bezirksrichter und Obergericht halten indessen dafür, mit dem Begriff Waffentragen sei auch der Waffenbesitz gemeint.
b) Nach allgemeinem Sprachgebrauch bedeuten aber Waffentragen und Waffenbesitz klarerweise nicht dasselbe. Waffen besitzt, wer im Sinne von
Art. 919 ZGB
die tatsächliche Gewalt darüber hat. Waffentragen dagegen bedeutet das "Beisichhaben" (Tragen, Mitführen) einer Waffe ausserhalb seiner Wohnung, seiner Geschäftsräumlichkeiten, seines Besitztums. Der Begriff des Waffenbesitzes ist weiter als der des Waffentragens. Er kann nicht als Unterbegriff des Waffentragens aufgefasst werden. Vielmehr ist das Waffentragen eine besondere Art der Ausübung des Waffenbesitzes. Der Waffenträger ist (in der Regel) auch Waffenbesitzer, wogegen der Waffenbesitzer nicht Waffenträger zu sein braucht. Wer eine Waffensammlung hat, ist Waffenbesitzer, möglicherweise ohne jemals Waffen zu tragen.
Die Auslegung, die der Bezirksrichter und mit ihm das Obergericht dem Begriff des Waffentragens in Art. 23 EGzStGB gegeben haben, ist daher eine solche praeter legem, die vom Sinn des Gesetzes nicht mehr gedeckt ist (vgl.
BGE 95 IV 72
3a). Sie verstösst, weil sie zu Lasten des Angeklagten ausgefallen ist, gegen den Grundsatz "Keine Strafe ohne Gesetz" und damit gegen
Art. 4 BV
.
c) Es ist übrigens zu beachten, dass den Behörden, die sich mit dem Problem des Waffenhandels, des Waffentragens und des Waffenbesitzes zu befassen haben, der Unterschied zwischen Waffenbesitz und Waffentragen durchaus geläufig ist. Die beiden Begriffe werden nicht als gleichbedeutend gebraucht. Der BRB über Schusswaffen im Besitze von Ausländern vom 11.5.1940 (AS 1940 I S. 473) bestimmte beispielsweise in Art. 1: "Besitz und Tragen von Schusswaffen und von Munition für solche ist allen Ausländern verboten." § 30 des luzernischen EGzStGB vom 18. Dezember 1940 ermächtigte den Regierungsrat, eine Verordnung über den Besitz, den Handel, das Tragen und den Gebrauch von Waffen und Munition zu erlassen. § 14 des Übertretungsstrafgesetzes vom 14. September 1976, das an die Stelle des EGzStGB getreten ist, ermächtigt den Regierungsrat, eine Verordnung über den Besitz, den Handel, das Tragen, die Aufbewahrung und den
BGE 103 Ia 95 S. 98
Gebrauch von Waffen und Munition zu erlassen. Die entsprechende zürcherische Verordnung vom 28. September 1942 trägt den Titel "Verordnung über den Handel mit Waffen und Munition, das Waffentragen und den Waffenbesitz". Das Tragen von Waffen ohne Bewilligung ist darnach grundsätzlich verboten, der private Besitz von Waffen, von bestimmten Ausnahmen abgesehen, grundsätzlich gestattet.
Die WaffenV des Kantons Schaffhausen, die übrigens weitgehend der WaffenV des Kantons Zürich entspricht, unterscheidet ebenfalls zwischen Waffentragen und Waffenbesitz.
d) Wie der Beschwerdeführer im Verfahren vor dem Bezirksrichter nachweisen konnte, waren sich die Behörden des Kantons Schaffhausen, die sich mit der Regelung des Waffenhandels, des Waffentragens und des Waffenbesitzes zu befassen hatten, der Problematik bewusst. Es ist unbestritten, dass gemäss Kommissionsentwurf zum EGzStGB der Regierungsrat ermächtigt werden sollte, Vorschriften über den Waffenbesitz zu erlassen, und dass bei der Beratung dieses Entwurfes der Begriff Waffenbesitz durch Waffentragen ersetzt wurde. Da es sich, wie gesagt, um Begriffe handelt, die sachlich Verschiedenes bedeuten, kann nicht angenommen werden, der Gesetzgeber habe mit dem Begriff Waffentragen auch den Waffenbesitz gemeint, zumal jener offensichtlich enger ist als dieser.
Dem Regierungsrat war denn auch bei Erlass der WaffenV bekannt, dass die Ermächtigung des Art. 23 EGzStGB sich nur auf die Regelung des Waffentragens bezog. Die Polizeidirektion machte zum 2. Entwurf der WaffenV vom 5. August 1944 die Bemerkung:
"Das nochmalige Studium der Materie ergab, dass der Regierungsrat auf Grund von Art. 23 EGzStGB befugt ist, Vorschriften über den Handel mit Waffen und Munition und über das Waffentragen zu erlassen, aber nicht ohne weiteres auch über den Waffenbesitz. Über diesen Waffenbesitz kann er auf dem Verordnungswege vermutlich nicht legiferieren und es ist deshalb eventuell ratsam, die Vorlage entsprechend zu kürzen, nämlich
a) Der Titel hat dann nur zu lauten ... 'über das Waffentragen'
b) Der Abschnitt II. Waffenbesitz mit den §§ 6, 7 und 8 ist gänzlich auszumerzen.
Es ist aber zunächst zu prüfen und zu entscheiden, ob der Waffenbesitz nicht als eine blosse Folge des Handelns mit Waffen und Munition
BGE 103 Ia 95 S. 99
zu betrachten ist. Die gleichzeitige Regelung dieser Materie wäre wünschenswert."
Im Auszug aus dem Protokoll des Regierungsrates des Kantons Schaffhausen vom 17. August 1944 ist im Zusammenhang mit der ersten Lesung des Entwurfes zur WaffenV festgehalten:
"Zu Absatz II wirft der Polizeidirektor die Frage auf, ob der Regierungsrat zuständig sei, Bestimmungen über den Waffenbesitz zu erlassen, was aus allgemeinen sicherheitspolizeilichen Erwägungen bejaht wird."
Wie aus diesen Materialien hervorgeht, betrachtete sich der Regierungsrat nicht auf Grund des EGzStGB, sondern auf Grund seiner Aufgabe, für die öffentliche Sicherheit zu sorgen, als befugt, Vorschriften über den Waffenbesitz zu erlassen.
Bei dieser Sachlage ist es willkürlich anzunehmen, Art. 23 Abs. 1 EGzStGB ermächtige den Regierungsrat zum Erlass von Vorschriften auch über den Waffenbesitz und die Strafandrohung des Art. 23 Abs. 2 gelte ebenfalls für die Verletzung solcher Vorschriften.