Urteilskopf
105 Ia 181
35. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 8. August 1979 i.S. Grieder gegen Landrat des Kantons Basel-Landschaft (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste
Informationsfreiheit; Ausschluss der Öffentlichkeit von einer Landratsverhandlung.
1. Die Meinungsäusserungsfreiheit umfasst auch die Informationsfreiheit als Anspruch, sich aus allgemein zugänglichen Quellen zu informieren. Da Parlamentsverhandlungen gemäss § 32 KV-BL grundsätzlich öffentlich sind, werden sie als allgemein zugängliche Informationsquellen in den Schutzbereich der Informationsfreiheit eingeschlossen (E. 2).
2. Für eine Einschränkung der Informationsfreiheit (Ausschluss der Öffentlichkeit von den Tribünen) fehlt im Kanton Basel-Landschaft eine genügende gesetzliche Grundlage (E. 3).
§ 32 der Staatsverfassung des Kantons Basel-Landschaft (KV) vom 4. April 1892 bestimmt:
"Die Verhandlungen des Landrats, des Regierungsrats und der richterlichen Behörden sind öffentlich. Die Ausnahmen bestimmt das Gesetz."
Anlässlich der Landratssitzung vom 8. Februar 1979 wurde die dringliche Behandlung der Interpellation Adrian Müller "betreffend unhaltbare Untersuchungshaftbedingungen im Kanton Basel-Landschaft" vom nämlichen Datum beschlossen. Der Justizdirektor wurde zur Beantwortung der Interpellation gemäss
Art. 320 StGB
vom Amtsgeheimnis entbunden. Danach hiess der Rat mit 32 gegen 17 Stimmen einen Antrag gut, die Zuschauertribüne zu räumen, worauf sämtliche Zuschauer die Tribüne verliessen. Die akkreditierte Presse durfte den Verhandlungen des Rates weiter folgen und darüber berichten, wobei sie vom Ratspräsidenten auf ihren "Ehrenkodex" aufmerksam gemacht wurde. Walter Grieder, der sich unter den Tribünenbesuchern befand, erhob am 12. März 1979 staatsrechtliche Beschwerde und verlangte im wesentlichen, der Beschluss des Landrats betreffend den Ausschluss der Tribünenöffentlichkeit sei aufzuheben. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Aus den Erwägungen:
2.
Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe einen Anspruch darauf, sich über den Gang der Parlamentsverhandlungen an Ort und Stelle zu informieren.
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts gewährleistet die Meinungsäusserungsfreiheit die Freiheit der Meinung, die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten und Meinungen einschliesslich der Freiheit, sich aus allgemein zugänglichen Quellen zu unterrichten. Die Meinungsäusserungsfreiheit umfasst daher auch die Informationsfreiheit als Anspruch, sich aus allgemein zugänglichen Quellen zu unterrichten (
BGE 104 Ia 88
ff., 377 ff.). Ob Landratsverhandlungen als allgemein zugängliche Informationsquellen zu betrachten sind, ergibt sich aus dem kantonalen Recht. Gemäss § 32 KV sind Landratsverhandlungen vorbehältlich der im Gesetz vorgesehenen Ausnahmen öffentlich. Diese Bestimmung schliesst
BGE 105 Ia 181 S. 183
sie daher als allgemein zugängliche Informationsquellen in den Schutzbereich der Informationsfreiheit ein.
b) Der Landrat führt in der Vernehmlassung aus, die Tribünenöffentlichkeit dürfe zwar nicht institutionell unterdrückt werden, die "volle Öffentlichkeit", das heisst die Informiertheit der gesamten Bürgerschaft bringe aber vor allem und vorwiegend die Presseberichterstattung zustande; dadurch werde der individuelle Anspruch auf Zutritt zur Tribüne wesentlich relativiert. Entscheidend sei, dass das Parlament in aller Regel nicht als Geheimzirkel tage. Da im vorliegenden Fall keine geheime Beratung stattgefunden habe und über die Sitzung und Debatte in der Presse wie üblich ungehindert Bericht erstattet worden sei, sei der Öffentlichkeitsanspruch des Bürgers nicht vereitelt worden.
§ 32 KV beschränkt indessen die Öffentlichkeit der Landratsverhandlungen nicht auf die akkreditierten Pressevertreter, sondern sieht sie in allgemeiner Weise vor, so dass auch der nicht akkreditierte Tribünenbesucher einen Anspruch darauf hat, dass ihm die Tribüne - soweit die Platzverhältnisse genügen - offensteht.
3.
Die Informationsfreiheit kann, wie die andern Grundrechte, gestützt auf eine genügende gesetzliche Grundlage eingeschränkt werden, wenn der Eingriff im öffentlichen Interesse liegt und dem Gebot der Verhältnismässigkeit entspricht.
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts bedürfen Grundrechtseinschränkungen einer gesetzlichen Grundlage. Bezüglich der Meinungsäusserungsfreiheit und der in ihr enthaltenen Informationsfreiheit fordert auch die EMRK in Art. 10 Ziff. 2, dass Einschränkungen "vom Gesetz vorgesehen" sein müssen. Sowohl die Bundesverfassung als auch die EMRK verlangen für Beschränkungen der Meinungsäusserungsfreiheit ein Gesetz im materiellen Sinn; solche Eingriffe können also auch in einer verfassungs- und gesetzeskonformen Verordnung enthalten sein (
BGE 104 Ia 88
, nicht publizierte E. 3).
b) Es steht freilich dem kantonalen Verfassungsgeber frei, strengere Anforderungen an die gesetzliche Grundlage für Grundrechtseingriffe zu stellen. § 32 KV sieht vor, dass das Gesetz die Ausnahmen von der Öffentlichkeit der Verhandlungen des Landrats, des Regierungsrats und der richterlichen Behörden bestimmt. Es ist zu prüfen, ob die Verfassung mit
BGE 105 Ia 181 S. 184
dieser Formulierung für Einschränkungen der Öffentlichkeit ein Gesetz im formellen Sinn verlangt. Das Bundesgericht überprüft die Auslegung und Anwendung kantonalen Verfassungsrechts grundsätzlich frei (
BGE 104 Ia 286
mit Hinweisen), das kantonale Recht auf Gesetzes- oder Verordnungsstufe überprüft es dagegen vorliegend, da kein schwerer Eingriff in das in Frage stehende Grundrecht zur Beurteilung steht, lediglich auf Willkür (
BGE 103 Ia 431
E. 4a).
Bezüglich der Verhandlungen des Regierungsrates sind die Ausnahmen von der Öffentlichkeit in § 14 des Gesetzes über die Organisation der Staats- und Bezirksverwaltung und das Verfahren vor den Verwaltungsbehörden des Kantons und der Bezirke (Organisationsgesetz) vom 28. April 1958 enthalten, bezüglich der Verhandlungen der richterlichen Behörden in § 31 des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 30. Oktober 1941. Für diese beiden Gewalten sind die Ausnahmen von der Öffentlichkeit demnach in einem Gesetz im formellen Sinn geregelt. Im Gegensatz dazu wird dem Landrat die Bestimmung seiner Geschäftsordnung unmittelbar durch § 18 Ziff. 1 KV übertragen. Aus der in der Verfassung enthaltenen Befugnis des Landrats, seine Verhandlungen selbständig zu ordnen, muss auch die Kompetenz abgeleitet werden, die Ausnahmen vom Grundsatz der Öffentlichkeit gemäss § 32 KV zu bestimmen. Die Verfassung begnügt sich daher für Einschränkungen der Öffentlichkeit von Landratsverhandlungen mit einer generell abstrakten Regelung in der Geschäftsordnung.
c) In § 98 der Geschäftsordnung wird unter dem Marginale "Öffentlichkeit und Presse" der verfassungsrechtliche Grundsatz wiederholt: "Die Landratsverhandlungen sind öffentlich." Abs. 2 lautet:
"Die Zuhörer und die Presse haben sich auf den ihnen zugewiesenen Tribünen aufzuhalten und sich jeder Störung zu enthalten. Wer gegen diese Ordnung verstösst, kann auf Anweisung des Präsidenten von den Weibeln weggewiesen oder von der Polizei weggeführt werden." Andere Einschränkungen der Informationsfreiheit kennt die Geschäftsordnung nicht. Eine Ausnahme vom Grundsatz der Öffentlichkeit ist also nur aus sitzungspolizeilichen Gründen vorgesehen. Im vorliegenden fall haben nach den übereinstimmenden Ausführungen der Parteien keine solchen Gründe zum Ausschluss der Öffentlichkeit geführt, so dass die genannte Bestimmung keine Grundlage für den Eingriff bildet.
d) Der Landrat ruft als gesetzliche Grundlage § 117 Abs. 2 der Geschäftsordnung an, der bestimmt, dass ausserordentliche, in der Geschäftsordnung nicht vorgesehene Verfahren vom Landrat mit der Mehrheit von 2/3 der anwesenden Mitglieder beschlossen werden können. Der Beschluss, die Öffentlichkeit auszuschliessen, kann indessen nicht mit haltbaren Gründen als ein in der Geschäftsordnung nicht vorgesehenes Verfahren im Sinne dieser Bestimmung anerkannt werden, da die Geschäftsordnung selber eine abschliessende Regelung der Öffentlichkeit der Verhandlungen und deren Ausnahmen enthält. Hinzu kommt, dass offenbar die erforderliche Zweidrittelsmehrheit im vorliegenden Fall nicht erreicht wurde. Dem angefochtenen Entscheid fehlt aus diesen Gründen die erforderliche gesetzliche Grundlage.
4.
Der Landrat vertritt in der Vernehmlassung die Auffassung, im vorliegenden Fall habe es sich um einen Gegenstand gehandelt, der sich für die öffentliche Beratung nicht eignete. Die durch eine Interpellation veranlasste Parlamentskontrolle sei Einzelfallkontrolle, sie dringe somit in Einzelheiten ein. Infolge der Dringlichkeitserklärung seien die Erhebungen nicht im Schosse einer der Öffentlichkeit entzogenen Kommission vorgenommen worden, sondern unmittelbar und ausschliesslich im Plenum. Es habe sich um ein ausserordentliches Verfahren der Oberaufsicht gehandelt, welches die Möglichkeit der Verletzung schutzwürdiger Privatinteressen in sich barg. Im vorliegenden Fall seien die Haftverhältnisse eines Untersuchungsgefangenen in Frage gestanden, der Anspruch darauf habe, nicht in grösserem Umfang als die andern Häftlinge der Öffentlichkeit ausgesetzt zu werden. Der Anspruch auf Beachtung der Privatsphäre dieses Gefangenen sei daher mit dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung in Konflikt geraten.
Entsteht ein solcher Konflikt im Kanton Basel-Landschaft indessen dadurch, dass wegen der dringlichen Behandlung einer Interpellation im Plenum des Rates Angelegenheiten aus der Privatsphäre Betroffener an die Öffentlichkeit gelangen könnten, so kann er gelöst werden: entweder erfolgt unter Verzicht auf die Dringlichkeit die Vorbehandlung in einer Kommission, wo die Verschwiegenheitspflicht auch für deren Mitglieder gilt, oder die kritischen Tatbestände gelangen in der öffentlichen Beratung nicht zur Darstellung oder wenigstens
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nicht unter Namensnennung. Der Einwand hält somit nicht stich. Es hat sich im vorliegenden Fall auch gezeigt, dass es gar nicht notwendig war, die Öffentlichkeit auszuschliessen; denn in der Verhandlung wurden keine wesentlichen Interessen Dritter beeinträchtigt. Es ist daher fraglich, ob selbst beim Vorliegen einer genügenden gesetzlichen Grundlage ein überwiegendes öffentliches Interesse am Ausschluss der Öffentlichkeit hätte nachgewiesen werden können.