BGE 105 IA 243 vom 11. Mai 1979

Datum: 11. Mai 1979

BGE referenzen:  108 IA 155, 113 IA 291, 114 IA 427, 116 IA 466, 143 I 78

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

105 Ia 243


47. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 11. Mai 1979 i.S. Bauert gegen Gemeinde Richterswil und Regierungsrat des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

Art. 85 lit. a OG ; kant. Volksabstimmung.
Es verletzt das politische Stimmrecht nicht, wenn eine Gemeinde in einen kantonalen Abstimmungskampf eingreift, an dessen Ausgang sie ein unmittelbares und besonderes Interesse hat (E. 4). Im vorliegenden Fall kann auch die Art des Eingreifens nicht beanstandet werden (E. 5).

Sachverhalt ab Seite 243

BGE 105 Ia 243 S. 243
Mit Beschluss vom 4. September 1978 bewilligte der Zürcher Kantonsrat einen Kredit von 27 Mio. Franken für den Bau der Seestrasse zur Umfahrung des Dorfkerns von Richterswil. Die Volksabstimmung wurde auf den 3. Dezember 1978 angesetzt.
Am 25. September 1978 bewilligte die Gemeindeversammlung von Richterswil einen Kredit von Fr. 73'000.- für "sachliche Aufklärungsarbeit im Gebiet des Kantons Zürich" zur kantonalen Volksabstimmung vom 3. Dezember 1978. Mit dem Kredit wurden in der Folge eine Tonbildschau sowie zwei Inserate finanziert, die in 21 zürcherischen Tageszeitungen zwei- bis dreimal veröffentlicht wurden. Insgesamt erschienen 71 Inserate. Die Tonbildschau wurde auf Verlangen allen Personen und Vereinigungen für deren Veranstaltungen zur Verfügung gestellt.
Rolf Bauert rekurrierte gegen den Kreditbeschluss der Gemeindeversammlung Richterswil an den Bezirksrat Horgen und anschliessend an den Regierungsrat des Kantons Zürich. Der Regierungsrat wies den Rekurs mit Entscheid vom 15. November 1978 ab. Er verwarf unter anderem den Einwand, die
BGE 105 Ia 243 S. 244
Gemeinde sei nicht befugt, mit Steuergeldern einseitig in die Auseinandersetzung vor der kantonalen Abstimmung einzugreifen.
Das Bundesgericht weist die dagegen erhobene staatsrechtliche Beschwerde ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

4. Im vorliegenden Fall hat der Gemeinderat von Richterswil in einen kantonalen Abstimmungskampf eingegriffen. Er hat zur Unterstützung des kantonsrätlichen Kreditbeschlusses für die Umfahrung des Dorfkerns von Richterswil eine Tonbildschau erstellen lassen, die zum Ausdruck bringen sollte, dass der Bau der Umfahrungsstrasse im Interesse der Gemeinde liege. Ferner hat er in 21 zürcherischen Tageszeitungen insgesamt 71 Inserate erscheinen lassen, mit denen das gleiche Ziel verfolgt wurde. Die Kosten dieser Aktion beliefen sich auf Fr. 65'000.-; der von der Gemeindeversammlung bewilligte Kredit wurde demnach nicht vollständig ausgeschöpft.
Es kann nicht gesagt werden, dass das vom Bundesrecht gewährleistete politische Stimmrecht eine solche Intervention der Gemeinde in einen kantonalen Abstimmungskampf verbiete. Die Stimmbürger des Kantons Zürich hatten sich in der Volksabstimmung vom 3. Dezember über einen Kreditbeschluss des Kantonsrates auszusprechen, der dem obligatorischen Finanzreferendum unterlag und der zur Sanierung der Verkehrsverhältnisse in Richterswil bestimmt war. Es ist offenkundig, dass für die Gemeinde Richterswil und ihre Stimmbürger ein unmittelbares und besonderes Interesse am Ausgang der Abstimmung bestand, das jenes der übrigen zürcherischen Gemeinden bei weitem überstieg. Bei dieser Sachlage verletzte es das politische Stimmrecht nicht, wenn der Gemeinderat im kantonalen Abstimmungskampf namens der Gemeinde für die Annahme der Vorlage eintrat und zuhanden der kantonalen Stimmbürger darlegte, weshalb der Vorlage aus der Sicht der direkt interessierten Gemeinde zuzustimmen sei. Aus den Akten geht übrigens hervor, dass derartige kommunale Interventionen in einen kantonalen Abstimmungskampf schon verschiedentlich vorgekommen sind, so z.B. beim Entscheid über den Bau des Waffenplatzes im Reppischtal oder im Zusammenhang mit dem Flughafen Zürich. Auch in der Literatur werden Beispiele kommunaler
BGE 105 Ia 243 S. 245
Interventionen genannt, die dem vorliegenden Fall entsprechen (vgl. STRASSER, Rechtliche Probleme der öffentlichen Meinungsbildung vor Volksentscheiden, Diss. Basel 1971, S. 109: Verteilung einer kommunalen Informationsbroschüre zur kantonalen Volksabstimmung über den Bau einer Umfahrungsstrasse für Riehen). Es mag fraglich erscheinen, ob das Eingreifen einer Gemeinde in den kantonalen Abstimmungskampf mit der bundesrechtlichen Garantie des politischen Stimmrechts auch dann vereinbar wäre, wenn die kantonale Vorlage die Interessen der Gemeinde weniger direkt berühren würde, als das hier der Fall ist, und wenn namentlich nicht eine Abstimmung über einen Kreditbeschluss, sondern über eine Verfassungs- oder Gesetzesvorlage in Frage stände. Wie es sich damit verhält, kann jedoch dahingestellt bleiben, da einer Intervention der Gemeinde jedenfalls unter den hier zu beurteilenden Umständen nichts entgegensteht.

5. Im vorliegenden Fall kann auch die Art des Eingreifens in den Abstimmungskampf nicht als unzulässige Beeinflussung der Stimmbürger erachtet werden.
a) Die kommunale Behörde, die den Standpunkt der Gemeinde zu einer sie besonders betreffenden kantonalen Volksabstimmung darlegt, ist befugt, jene Mittel der Meinungsbildung einzusetzen, die in einem Abstimmungskampf von den Befürwortern und Gegnern der Vorlage üblicherweise verwendet werden. Es steht der Gemeinde deshalb zu, ihre Auffassung durch Flugblätter, besondere Broschüren, Zeitungsinserate oder durch Plakate zum Ausdruck zu bringen. Auch die Darstellung ihrer Meinung in einer Tonbildschau sprengt diesen Rahmen nicht. Die Behörde ist aber gehalten, die kommunalen Interessen in objektiver und sachlicher Weise zu vertreten. Dabei darf von ihr ein höherer Grad an Objektivität und Sachlichkeit erwartet werden als von privaten politischen Gruppierungen. Das heisst aber nicht, dass die Gemeindebehörde bei ihrer Intervention an die gleich strengen Grundsätze gebunden sei, die sie bei der Abgabe eines erläuternden Berichts zu einer kommunalen Abstimmung zu beachten hätte. Schon bei der Abfassung eines solchen Berichts darf sich die Gemeinde darauf beschränken, diejenigen Gründe darzulegen, die für die Mehrheit des Gemeindegesetzgebers massgebend waren, und sie ist von Bundesrechts wegen nicht gehalten, sämtliche für und gegen die Vorlage sprechenden Gründe darzulegen. Das gilt noch vermehrt,
BGE 105 Ia 243 S. 246
wenn sie die Auffassung der Gemeinde zu einer kantonalen Abstimmungsvorlage zum Ausdruck bringt.
b) Diesen Anforderungen wurde im vorliegenden Fall Genüge getan. Die Gemeindeversammlung von Richterswil bewilligte den für das Eingreifen in den kantonalen Abstimmungskampf bestimmten Kredit mit 338 zu 87 Stimmen. Die Inserate wurden mit dem Vermerk versehen, dass sie aufgrund eines Kreditbeschlusses der Gemeindeversammlung finanziert worden seien. Dabei wurde nicht der Eindruck erweckt, die Gemeinde stehe einhellig hinter der Vorlage. Ferner bestand aufgrund der Tatsache, dass die Gemeindeversammlung den Kredit zwar mit grosser Mehrheit, aber dennoch nicht einstimmig bewilligt hatte, keine Verpflichtung des Gemeinderates, in der Tonbildschau und in den Inseraten auch die gegen die Vorlage sprechenden Argumente aufzuführen oder gar, wie der Beschwerdeführer verlangt, einen Teil des Kredits den Gegnern der Vorlage zur Verfügung zu stellen.

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