Urteilskopf
105 Ia 324
60. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 19. Dezember 1979 i.S. Heri gegen Bürgergemeinde Horriwil, Flurgenossenschaft Horriwil und Regierungsrat des Kantons Solothurn (Staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste
Güterzusammenlegung: Neuzuteilung.
Kriterien der Überprüfung von Neuzuteilungs-Entscheiden auf staatsrechtliche Beschwerde hin (E. 2).
Anwendung dieser Kriterien im konkreten Fall (E. 3-5). Voraussetzungen, unter denen bei der Neuzuteilung nicht ausschliesslich auf die Bonitierungswerte abgestellt werden darf (E. 3b).
Viktoria Heri-Steiner warf in die Güterzusammenlegung Horriwil (SO) ein zentral gelegenes, 1450 m2 umfassendes Baugrundstück (Nr. 724) ein. Der Bonitierungswert für diese Parzelle wurde auf Fr. 3.-/m2, insgesamt - nach Abzug eines Anteils von 27% für die allgemeinen Anlagen - auf Fr. 4323.- festgesetzt. Auf dem Grundstück konnten sowohl auf Grund der früheren Bauvorschriften als auch gemäss den neuen, während des Güterzusammenlegungsverfahrens in Kraft tretenden Sonderbauvorschriften für den Dorfkern neben Wohnungen auch Läden, Restaurants und Lokale für nicht störende Gewerbe erstellt werden.
Der Vorstand der Flurgenossenschaft Horriwil teilte Viktoria Heri auf Einsprache gegen einen ersten Neuzuteilungs-Entwurf hin die Parzelle Nr. 159.1 mit einer Fläche von 1413 m2 und dem Bonitierungswert von Fr. 4320.- zu. Diese Parzelle liegt zwar ebenfalls in der Dorfkernzone, wurde aber im Zuge der neuen Ortsplanung nicht dem eigentlichen "Zentrum" zugewiesen, in welchem weiterhin eine gemischte Bauweise gestattet ist, sondern dem als Wohnzone dienenden "übrigen Gebiet". Neue Eigentümerin der ehemaligen Parzelle Nr. 724 wurde die Bürgergemeinde Horriwil, die vor der Güterzusammenlegung weder ein Grundstück im "Zentrum", noch überhaupt Land in der Bauzone besessen hatte.
Gegen diese Neuzuteilung reichte Viktoria Heri beim Regierungsrat des Kantons Solothurn Rekurs ein, welcher als unbegründet abgewiesen wurde. Das Bundesgericht hebt den Regierungsratsbeschluss auf staatsrechtliche Beschwerde hin auf.
Aus den Erwägungen:
2.
Das Bundesgericht hat in der Rechtsprechung der letzten fünfzehn Jahre folgende Kriterien für die Überprüfung von
BGE 105 Ia 324 S. 326
staatsrechtlichen Beschwerden gegen Güterzusammenlegungsentscheide erarbeitet:
a) In methodischer Hinsicht ist zunächst festzuhalten, dass das Bundesgericht auf Beschwerde eines Grundeigentümers hin dessen gesamten Altbesitz mit der gesamten, endgültigen Neuzuteilung vergleicht, ohne sich damit zu befassen, welche Zuteilungs-Änderungen allenfalls im Verlaufe des kantonalen Verfahrens vorgenommen worden sind (
BGE 94 I 610
E. 4b).
b) Ergibt sich aus dieser Gegenüberstellung, dass sich der Beschwerdeführer nach der Güterzusammenlegung in einer Lage befindet, die sich schlechthin nicht rechtfertigen lässt und die nur in grober Missachtung der gesetzlichen Vorschriften oder elementarer Grundsätze des Güterzusammenlegungsverfahrens - insbesondere des Prinzips des vollen Realersatzes - geschaffen werden konnte, so hebt das Bundesgericht die angefochtene Zuteilung wegen Willkür auf (
BGE 97 I 496
E. 1, 96 I 42, 85 I 90).
c) Das Bundesgericht prüft den angefochtenen Entscheid zusätzlich auch unter dem Gesichtswinkel der Rechtsverweigerung und der rechtsungleichen Behandlung.
Dem Grundsatz der Rechtsgleichheit kommt im Güterzusammenlegungsverfahren erhebliches Gewicht zu, obschon das Institut der Landumlegung nach einer sich immer mehr durchsetzenden globalen Betrachtungsweise der Nutzungsplanung zugeordnet wird und das Prinzip der rechtsgleichen Behandlung im Rahmen von Planungsmassnahmen der Natur der Sache nach nur eine beschränkte Bedeutung haben kann (
BGE 103 Ia 257
E. 4,
BGE 99 Ia 715
,
BGE 95 I 550
). Es ist nicht zu übersehen, dass durch die Güterzusammenlegung, die die Verbesserung und Aufwertung des gesamten einbezogenen Bodens bezweckt und in welche beträchtliche öffentliche Mittel investiert werden, erhebliche Mehrwerte geschaffen werden. Die kantonalen Behörden haben dafür zu sorgen, dass die Grundeigentümer an diesen Vorteilen der Zusammenlegung - im Rahmen des Möglichen - in gleichem Masse teilhaben, und dass auch die mit dem Unternehmen notwendigerweise verbundenen Nachteile und Belastungen auf alle Betroffenen angemessen verteilt werden. Eine offensichtlich einseitige Bevorteilung einzelner Grundeigentümer kann mit Rücksicht auf das Gleichheitsprinzip vom Verfassungsrichter nicht geduldet werden. Nicht zuzulassen ist ebenfalls, dass ein Grundeigentümer deshalb
BGE 105 Ia 324 S. 327
in eine völlig unbefriedigende Situation gerate, weil die kantonalen Instanzen bei der Neuzuteilung wesentliche Gesichtspunkte (z.B. Besonderheiten des Betriebes oder der Bewirtschaftung) ausser acht gelassen oder es versäumt haben, alle zur Verfügung stehenden technischen Mittel zur Verbesserung der unbefriedigenden Lage auszuschöpfen. In diesem Falle ist der angefochtene Entscheid wegen Rechtsverweigerung aufzuheben und die kantonale Behörde zur Neubeurteilung anzuhalten (
BGE 99 Ia 495
E. 3,
BGE 95 I 524
E. 4; nicht publ. Entscheide i.S. Cadonau vom 22. November 1978 und i.S. Brugger vom 20. Dezember 1978).
Wenn auch für solche Fälle keine allgemein gültigen Regeln aufgestellt werden können, so ist immerhin festzuhalten, dass ein Eingreifen des Bundesgerichtes nur unter bestimmten Voraussetzungen in Frage kommt: Zum einen darf die festgestellte Ungleichbehandlung nicht als durch den Zweck der Güterzusammenlegung selbst gerechtfertigt erscheinen; zum anderen dürfen einer nachträglichen Änderung der Situation nicht unüberwindliche technische Schwierigkeiten entgegenstehen. Und schliesslich kann auch nur dann eingegriffen werden, wenn die für den Beschwerdeführer als wünschbar erachteten Verbesserungen nicht zu einer - ebenfalls ungerechtfertigten - Schlechterstellung eines anderen Grundeigentümers führen, das Problem also lediglich auf eine andere Ebene verschoben wird.
d) Sieht sich das Bundesgericht im weiteren einer zwar unhaltbaren, aber nicht zu ändernden Lage des Beschwerdeführers gegenüber, so untersucht es, ob ein Eingriff vorliege, der einer Enteignung gleichkommt, und ob in diesem Falle, da ausnahmsweise Realersatz nicht geleistet werden kann, dem Beschwerdeführer ein Geldausgleich in Höhe des Verkehrswertes, d.h. die volle Entschädigung im Sinne von
Art. 22ter BV
zugekommen sei (
BGE 99 Ia 495
, 97 I 721,
BGE 95 I 372
f.).
e) Abschliessend ist zu betonen, dass sich das Bundesgericht bei der Kontrolle, die es anhand der dargestellten verschiedenen Kriterien ausübt, besondere Zurückhaltung auferlegt. Dies beruht nicht nur auf dem Umstand, dass die Kognition des Verfassungsrichters beschränkt ist, sondern auch darauf, dass die Lösungen, die im Güterzusammenlegungsverfahren getroffen werden, in weitem Masse von den örtlichen Verhältnissen abhängen, welche die kantonalen Behörden besser kennen und
BGE 105 Ia 324 S. 328
- in ihrer Gesamtheit und nicht bloss auf den Einzelfall bezogen - besser zu würdigen in der Lage sind als das Bundesgericht. Ein weiterer Grund für die Zurückhaltung besteht darin, dass den Spezialisten bei der Lösung der sich im Zusammenlegungsverfahren stellenden technischen Probleme ein weiter Ermessensspielraum (sog. technisches Ermessen) eingeräumt werden muss. Dagegen kann wohl das in der Rechtsprechung ebenfalls angeführte Argument, das Bundesgericht habe sich insbesondere dort zurückzuhalten, wo die Aufhebung eines in einem Einzelfall getroffenen Entscheides zur Überprüfung der gesamten Neuzuteilung oder eines grossen Teils davon führen müsste (
BGE 97 I 495
, 96 I 42,
BGE 85 I 90
), nicht oder jedenfalls nicht in dieser Form aufrechterhalten werden: ist die Verfassung verletzt worden, so muss die dagegen erhobene Beschwerde ungeachtet allfälliger unerwünschter Folgen für das Zusammenlegungsverfahren gutgeheissen werden (vgl. H.P. FRIEDRICH, Das Verfahrensrecht der Güterzusammenlegung, Blätter für Agrarrecht, 1970, S. 72). Die Erfahrung zeigt übrigens, dass entsprechende Befürchtungen meist unbegründet oder übertrieben sind.
Eine weitere Einschränkung der Prüfungsbefugnisse in Güterzusammenlegungssachen würde sich aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht rechtfertigen lassen. Insbesondere darf nicht ausser acht gelassen werden, welche schwerwiegenden Folgen durch eine ungenügende oder sonstwie mangelhafte Zuteilung für einen Grundeigentümer entstehen können, dessen Existenz gänzlich von seinem Landwirtschaftsbetrieb abhängt. Die mit voller Kognition ausgestatteten kantonalen Behörden sind deshalb anzuhalten, ihre Pflichten und ihre Verantwortung in solchen Verfahren sorgfältig wahrzunehmen und den vom Techniker vorgeschlagenen Lösungen, auch wenn sie in Form eines fertig ausgearbeiteten Projektes vorgelegt werden, nicht ohne kritische Prüfung zuzustimmen.
3.
a) (Vergleich der ehemaligen Parzelle Nr. 724 der Beschwerdeführerin mit dem ihr neu zugeteilten Grundstück Nr. 159.1.)
b) Nach Ansicht des bundesgerichtlichen Experten wirken sich die Unterschiede zwischen Parzelle Nr. 724 und dem Grundstück Nr. 159. 1 hinsichtlich Erschliessungsgrad und Nutzungsmöglichkeit verkehrswertmässig in der Weise aus, dass der Wert des der Beschwerdeführerin neu zugeteilten Landes
BGE 105 Ia 324 S. 329
um rund einen Drittel niedriger einzustufen sei als jener ihrer ursprünglichen Parzelle. Das Bundesgericht hat keinen Anlass, von dieser Schätzung abzuweichen; es hat vielmehr auf die vom Experten festgesetzte Wertdifferenz abzustellen. An dieser Differenz kann übrigens auch der - formelle - Einwand nichts ändern, dass die im Güterzusammenlegungsverfahren festgesetzten Schätzungswerte, die für beide Parzellen gleich hoch angesetzt waren (Fr. 3.-/m2), im heutigen Verfahrensstadium nicht mehr in Frage gestellt werden könnten. Es zeigt sich hier mit besonderer Deutlichkeit, wie beschränkt die Aussagekraft der Bonitierungswerte in jenen Fällen ist, wo der Güterzusammenlegungsperimeter sowohl landwirtschaftliches als auch Bauland umfasst und die entsprechenden Bonitierungswerte auch nicht annäherungsweise den wahren Verkehrswert der einzelnen Grundstücke widerspiegeln, und wo deren Festsetzung zudem schon etliche Jahre zurückliegt, ohne dass die Werte in der Zwischenzeit an die veränderten Verhältnisse auf dem Immobilienmarkt oder - wie im vorliegenden Fall - an die Gegebenheiten einer neuen Ortsplanung angepasst worden wären. Liegt es klar zu Tage, dass die Bonitierungswerte nicht oder nicht mehr als zuverlässige Wertmassstäbe betrachtet werden können, so kann es dem betroffenen Grundeigentümer nicht versagt werden, sich auf die wahren Wertverhältnisse zu berufen, die sich anhand anderer Kriterien und Vergleichsmassstäbe ergeben. Würde die Prüfung, ob eine Neuzuteilung substantiell und nicht bloss auf dem Papier die Ersatzansprüche eines Grundeigentümers erfülle, aus rein formalrechtlichen Gesichtspunkten abgelehnt, so bedeutete dies eine Rechtsverweigerung sowie eine Verletzung des Prinzips des wertgleichen Realersatzes bzw. der vollen Entschädigung.
c) Ist, wie dargelegt, die Neuzuteilung an die Beschwerdeführerin im Vergleich zu ihrem früheren Besitzstand völlig ungenügend, so kann sie nur dann unverändert belassen werden, wenn eine gleichwertige Zuteilung - also die Zuweisung eines im "Zentrum" liegenden Grundstückes - an unüberwindbaren technischen Schwierigkeiten scheitern müsste oder wenn durch eine solche Zuteilung das Gelingen der Güterzusammenlegung selbst in Frage gestellt würde. Auch in diesem Falle müsste jedoch der angefochtene Entscheid aufgehoben werden, weil er der Beschwerdeführerin die ausnahmsweise an die Stelle des Realersatzes tretende Geldentschädigung in Höhe
BGE 105 Ia 324 S. 330
des vollen Verkehrswertes bzw. der vollen Verkehrsdifferenz offensichtlich nicht gewährt. Diese Frage ist indessen nicht weiter zu verfolgen, da - wie in der folgenden Erwägung gezeigt wird - der Zuweisung einer in der Zentrumszone gelegenen Parzelle an die Beschwerdeführerin nichts entgegensteht.
4.
(Es bestehen in technischer Hinsicht keine Schwierigkeiten, der Beschwerdeführerin eine im "Zentrum" liegende Parzelle zuzuteilen. Ein Anspruch oder sogar ein Vorrecht der Bürgergemeinde Horriwil auf Zuweisung eines solchen Grundstückes wird verneint.)
5.
(Der angefochtene Entscheid verstösst auch gegen den Grundsatz der rechtsgleichen Behandlung, da die Beschwerdeführerin gegenüber den anderen Grundeigentümern - denen für ihre alten, teilweise nicht überbaubaren Grundstücke in der Zentrumszone arrondierte Parzellen in gleicher Lage zugewiesen wurden - offensichtlich benachteiligt worden ist.)