Urteilskopf
106 Ib 346
53. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 13. Oktober 1980 i.S. X. & Co. und Y. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt (Staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste
Europäisches Rechtshilfeübereinkommen.
1. Der Entscheid über die Herausgabe von Originalakten im Sinne von
Art. 3 Ziff. 3 EUeR
ist selbständig anfechtbar (E. 1b).
2. Der Vollzug eines Rechtshilfeersuchens richtet sich nach kantonalem Recht, soweit das Bundesrecht keine Vorschriften enthält. Zu den bundesrechtlichen Vorschriften, welche die zuständigen kantonalen Behörden beim Vollzug eines Rechtshilfebegehrens zu beachten haben, gehören auch die verfassungsmässigen Grundsätze über die Gewährung des rechtlichen Gehörs und das Gebot der Verhältnismässigkeit (E. 2, 3).
Der deutsche Staatsangehörige X., der in Tübingen wohnt, ist unbeschränkt haftender Teilhaber der Kommanditgesellschaft X. & Co. Basel. Einziger Kommanditär der Gesellschaft ist Y. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart/BRD führt gegen X. eine Strafuntersuchung wegen Betruges. Mit einem Rechtshilfebegehren vom Mai 1979 ersuchte sie die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, die Geschäftsräumlichkeiten der X. & Co. in Basel zu durchsuchen, die gesamten Unterlagen über die geschäftlichen Beziehungen der X. & Co. Basel mit der X. GmbH in Tübingen zu beschlagnahmen und die Originale oder beglaubigte Ablichtungen dieser Unterlagen an die Staatsanwaltschaft Stuttgart zu übersenden. Die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt beschlagnahmte darauf 64 Ordner mit den Geschäftsunterlagen der X. & Co. Basel. Diese Beschlagnahme wurde nicht angefochten.
Am 21. Juni 1979 erhoben Y. und die X. & Co. Basel gegen die Aushändigung der Buchhaltung und sämtlicher Belege der
BGE 106 Ib 346 S. 348
X. & Co. Basel Einsprache sowohl bei der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt wie beim Eidg. Justiz- und Polizeidepartement. Diese Behörden erklärten sich in der Folge als unzuständig. Die Akten wurden jedoch der ersuchenden deutschen Behörde - die in Basel den grössten Teil der beschlagnahmten Dokumente fotokopiert hatte - vorderhand nicht übergeben.
Im Oktober 1979 ersuchte die Staatsanwaltschaft Stuttgart um Herausgabe der beschlagnahmten Originalbuchhaltung mit Belegen und erneuerte dieses Begehren im November 1979. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt erklärte sich darauf mit der Aushändigung einverstanden, wovon Y. telefonisch unterrichtet wurde.
Auf staatsrechtliche Beschwerde hebt das Bundesgericht den Entscheid der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt über die Aushändigung der Akten auf, aus folgenden
Erwägungen:
1.
a) Nach
Art. 88 OG
steht das Recht zur Beschwerdeführung bei der staatsrechtlichen Beschwerde Bürgern und Korporationen bezüglich solcher Rechtsverletzungen zu, die sie durch allgemein verbindliche oder sie persönlich treffende Erlasse oder Verfügungen erlitten haben. Diese Voraussetzung erfüllt die Kommanditgesellschaft X. & Co. Basel als Eigentümerin der beschlagnahmten und nach der angefochtenen Verfügung auszuliefernden Gegenstände ohne weiteres (
BGE 102 Ia 431
E. 3). Ein aktuelles und praktisches Interesse an der Beschwerdeführung (
BGE 104 Ia 488
) ist nicht deshalb zu verneinen, weil die Buchhaltungsunterlagen den untersuchenden deutschen Behörden bereits ausgehändigt worden sind. Als buchführungspflichtige Handelsgesellschaft hat die Beschwerdeführerin immer - und folglich auch heute noch - ein Interesse daran, über ihre Buchhaltung verfügen zu können (vgl.
Art. 957 OR
). Es besteht auch kein Anlass anzunehmen, die deutschen Behörden würden die ausgehändigten Originaldokumente nicht wieder zurückgeben, falls diese infolge der Ungültigkeit des angefochtenen Entscheides über die Herausgabe wiederum zurückverlangt würden.
Y. erhebt als Kommanditär ebenfalls Beschwerde gegen die Aushändigung der Akten. Die Rechte an den beschlagnahmten Dokumenten stehen jedoch der Gesellschaft zu (
Art. 602 OR
). Der Kommanditär besitzt daran keine selbständigen Rechte,
BGE 106 Ib 346 S. 349
die ihn zur Beschwerdeführung legitimieren; auf seine Beschwerde kann daher nicht eingetreten werden.
b) Eine Verfügung, welche auf einer rechtskräftigen früheren Verfügung beruht, und diese lediglich vollzieht oder bestätigt, kann nicht mit der Begründung angefochten werden, die frühere Verfügung sei verfassungswidrig; eine solche Rüge ist verspätet (
BGE 104 Ia 175
E. b mit Hinweis).
Die Beschwerdeführerin hat die Beschlagnahmeverfügung nicht angefochten. Diese Beschlagnahme hatte jedoch nicht notwendig zur Folge, dass die beschlagnahmten Dokumente ausgehändigt würden. Beschlagnahmte Gegenstände können grundsätzlich - unter Anordnung einer Verfügungssperre - im Besitz der Person belassen werden, bei der sie beschlagnahmt werden, sie können von der Behörde in Gewahrsam genommen oder einem Dritten zur Verwahrung übergeben werden, oder sie können schliesslich der ersuchenden ausländischen Behörde direkt übergeben werden. Aus
Art. 3 EUeR
ergibt sich nicht, dass beschlagnahmte Originaldokumente der ersuchenden Behörde herauszugeben seien. Nach
Art. 3 Ziff. 3 EUeR
braucht der ersuchte Staat nur beglaubigte Abschriften oder beglaubigte Fotokopien der erbetenen Akten oder Schriftstücke zu übermitteln. Nur auf ausdrückliches Verlangen des ersuchenden Staates sind Urschriften wenn möglich herauszugeben.
Art. 3 EUeR
schliesst auch die Möglichkeit nicht aus, der ersuchenden Behörde die beschlagnahmten Akten bloss im ersuchten Staat zur Einsichtnahme zur Verfügung zu stellen. Die Beschlagnahmeverfügung umfasst aus diesen Gründen nicht auch die Entscheidung, dass die beschlagnahmten Gegenstände an die ersuchende Behörde herausgegeben würden. Da ausserdem der Eigentümer der beschlagnahmten Dokumente ein erhebliches Interesse daran haben kann, die Verfügungsgewalt auch über beschlagnahmte Akten nicht zu verlieren oder wenigstens praktisch Zugang zu diesen Akten zu haben, ist der Entscheid über die Aushändigung beschlagnahmter Gegenstände an die ersuchende ausländische Behörde selbständig anfechtbar.
c) Die Rüge der Verletzung von
Art. 4 BV
setzt gemäss
Art. 87 OG
die Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges voraus, während die Rüge der Verletzung von Staatsverträgen (Art. 84 Abs. 1 lit. c) die Erschöpfung kantonaler Rechtsmittel nicht voraussetzt. Da Entscheide darüber, was mit beschlagnahmten Gegenständen geschehen soll, nach der Rechtsprechung
BGE 106 Ib 346 S. 350
der Überweisungsbehörde mit kantonalen Rechtsmitteln nicht angefochten werden können, ist im vorliegenden Fall die Voraussetzung des
Art. 87 OG
erfüllt, ohne dass untersucht werden müsste, ob der Berufung auf den Staatsvertrag selbständige Bedeutung zukommt (
BGE 105 Ia 18
,
BGE 105 Ib 37
).
Da die Beschwerde der Kommanditgesellschaft X. & Co. Basel im übrigen die Voraussetzungen der staatsrechtlichen Beschwerde erfüllt und namentlich form- und fristgerecht eingereicht worden ist, kann auf diese Beschwerde eingetreten werden.
2.
Die Voraussetzungen der Rechtshilfe zwischen der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland werden durch das EUeR und den Vertrag zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland über die Ergänzung dieses Übereinkommens und die Erleichterung seiner Anwendung vom 13. November 1969 geregelt. Die Vollzugsmassnahmen, die aufgrund dieses Abkommens vorgenommen werden, unterliegen jedoch dem kantonalen Recht, soweit sie nicht durch die Staatsverträge oder andere bundesrechtliche Vorschriften geregelt werden (
BGE 105 Ib 213
E. 2b).
Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird zunächst grundsätzlich von den kantonalen Verfahrensvorschriften umschrieben; wo sich dieser Rechtsschutz jedoch als ungenügend erweist, greifen die unmittelbar aus
Art. 4 BV
fliessenden bundesrechtlichen Minimalgarantien Platz (
BGE 105 Ia 194
E. 2). Die Beschwerdeführerin rügt zu Recht, dass die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt diese verfassungsrechtlichen Minimalgarantien verletzt hat, indem sie die Beschwerdeführerin vor Erlass der belastenden Verfügung nicht anhörte (
BGE 105 Ia 195
E. b
BGE 102 Ib 237
E. 2b mit Hinweisen). Diese Rechtsverweigerung ist umso unverständlicher, als die Beschwerdeführerin bereits am 21. Juni 1979 mit einer Einsprache an die Staatsanwaltschaft gelangt war und sich gegen die Aushändigung der Dokumente gewandt hatte. Auch wenn die Staatsanwaltschaft diese Einwendungen für unbegründet hielt, durfte sie dem Rechtshilfeersuchen der deutschen Behörden nicht stattgeben, ohne sich mit den Vorbringen der Beschwerdeführerin auseinanderzusetzen. Der angefochtene Entscheid ist aus diesen Gründen wegen Verweigerung des rechtlichen Gehörs aufzuheben.
3.
Aus prozessökonomischen Gründen rechtfertigt es sich, gewisse Grundsätze in Erinnerung zu rufen, die die kantonalen Behörden zu beachten haben.
a) Der Vollzug eines Rechtshilfebegehrens hat nach den Vorschriften des Bundesrechtes und des kantonalen basel-städtischen Rechtes zu erfolgen (
Art. 3 Ziff. 1 EUeR
). Unter den bundesrechtlichen Anforderungen ist auch die Beachtung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Verhältnismässigkeit zu verstehen, sofern durch Amtshandlungen beim Vollzug eines Rechtshilfegesuches die Rechte des Bürgers berührt werden (106 Ib 264). Die ersuchte Behörde hat deshalb bei der Entscheidung, ob gemäss
Art. 3 Ziff. 3 EUeR
die Originale oder bloss Fotokopien der beschlagnahmten Dokumente herausgegeben werden sollen, die sich gegenüberstehenden Interessen abzuwägen. Wenn die Interessen der Strafverfolgung dabei auch schwer wiegen, so sind doch anderseits die beachtlichen Interessen einer Handelsgesellschaft an der Kontrolle der Geschäftsführung (
Art. 957 OR
) keineswegs unberücksichtigt zu lassen.
b) Im vorliegenden Fall ist die Beschwerdeführerin am Strafverfahren in der Bundesrepublik Deutschland nicht beteiligt. X. werden strafbare Handlungen vorgeworfen, die er als Geschäftsführer der X. GmbH, Tübingen, begangen hat. Es erscheint aus diesem Grunde fraglich, ob eine genügende gesetzliche Grundlage und ein hinreichendes öffentliches Interesse daran bestehen, ihr die Kosten zahlreicher Fotokopien aufzuerlegen, die dadurch erforderlich werden, dass sie für die Strafuntersuchung gegen ihren Komplementär ihre gesamte Buchhaltung zur Verfügung stellen muss. Wenn auch die Rechtshilfe zwischen den Staaten grundsätzlich kostenlos ist (
Art. 20 EUeR
), so ist doch zweifelhaft, ob die ersuchte Behörde im Rahmen des
Art. 3 Ziff. 3 Satz 2 EUeR
ihr Einverständnis zur Herausgabe der Originalakten nicht an die Bedingung knüpfen kann, dass die ersuchende Behörde die Kosten der dadurch notwendig werdenden Kopien trägt - dies wenigstens dann, wenn die ersuchende Behörde die Herausgabe einer grossen Anzahl von Belegen verlangt. Jedenfalls kann die Kostenlosigkeit des zwischenstaatlichen Verfahrens nicht bedeuten, dass ein Dritter diese Kosten ohne Entschädigung seitens des ersuchten Staates tragen muss.