BGE 107 IA 175 vom 7. Juli 1981

Datum: 7. Juli 1981

Artikelreferenzen:  Art. 48 ZPO, Art. 247 ZPO, Art. 255ex-officio ZPO, Art. 193 OR, Art. 4 BV, Art. 113 BV , Art. 88 OG, Art. 247 und 255 ZPO

BGE referenzen:  103 IA 468, 106 IA 9 , 103 IA 468, 103 IA 194, 106 IA 9, 104 IA 387, 103 IA 64, 105 IA 57, 90 II 407, 90 II 411, 103 IA 64, 105 IA 57, 90 II 407, 90 II 411

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

107 Ia 175


35. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 7. Juli 1981 i.S. Politische Gemeinde Arosa gegen Kanton Graubünden und Mitglieder der Perimeterkommission für die Gemeinde Arosa und i.S. Mitglieder der Perimeterkommission der Gemeinde Arosa gegen Politische Gemeinde Arosa und Kantonsgericht von Graubünden (staatsrechtliche Beschwerden)

Regeste

Art. 88 OG ; Legitimation der Gemeinde, Legitimation von Litisdenunziaten.
Legitimation der Gemeinde zur Einreichung einer staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung ihrer Autonomie (E. I 1a) und wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte (E. I 1b).
Legitimation von Litisdenunziaten: Litisdenunziaten werden dann durch ein Urteil im Prozess der Hauptparteien nicht beschwert und sind daher zur staatsrechtlichen Beschwerde dagegen nicht legitimiert, wenn sie im Rückgriffsprozess noch alle Einreden vorbringen können, z.B. deshalb, weil ihnen im Prozess der Hauptparteien der Streit nicht rechtzeitig verkündet worden war (E. II 6).

Sachverhalt ab Seite 176

BGE 107 Ia 175 S. 176
Die Stimmberechtigten der Gemeinde Arosa genehmigten am 1. Juni 1969 den Ausbau der Hörnlistrasse und bewilligten den hiefür erforderlichen Kredit. Nach der Abstimmungsvorlage sollten siebzig Prozent der Baukosten zu Lasten der interessierten Grundeigentümer gehen. Die Strasse wurde - ohne den neunzig Meter langen Schlussteil - im Herbst 1972 grösstenteils dem Verkehr übergeben.
Mit Beschluss vom 23. Juni 1969 ernannte die Regierung des Kantons Graubünden eine Perimeterkommission für sämtliche öffentliche Arbeiten der Gemeinde Arosa, die bis Ende 1970 in Angriff genommen würden. Das Mandat der Kommission wurde im September 1971 bis Ende 1974 verlängert.
Der Gemeinderat Arosa ersuchte am 3. Juli 1974 die Perimeterkommission, ihre Arbeit am Perimeter für die Hörnlistrasse möglichst rasch abzuschliessen: der Gemeinderat wiederholte diese Mahnung bis Mitte 1976 mehrmals. Am 20. September 1976 wurde ein erster Perimeter-Entscheid öffentlich aufgelegt, aus verschiedenen Gründen aber zurückgezogen und durch einen neuen Entscheid vom 5. Januar 1977 ersetzt. Auf Rekurs von fünf Grundeigentümern hob das Verwaltungsgericht des Kantons
BGE 107 Ia 175 S. 177
Graubünden am 5. Juli 1977 diesen Entscheid auf, soweit er die Rekurrenten belastete, da die Gemeinde Arosa ihren Anspruch auf Perimeterbeiträge der Rekurrenten verwirkt habe.
Die Gemeinde Arosa reichte in der Folge beim Bezirksgericht Plessur eine Klage gegen den Kanton Graubünden ein. Sie machte geltend, sie habe wegen Rechtsverzögerung durch die Perimeterkommission einen Schaden in der Höhe von insgesamt Fr. 537'341.15 samt Zinsen ab verschiedenen Terminen erlitten. Für diesen Schaden müsse der Kanton aufgrund des Verantwortlichkeitsgesetzes einstehen. Der Kanton Graubünden beantragte in der Prozessantwort Abweisung der Klage und ersuchte zugleich um Streitverkündung an die drei Mitglieder der Perimeterkommission. Mit Schreiben vom 16. November 1978 gab die Gerichtskanzlei den drei Personen Kenntnis von der Streitverkündung und setzte ihnen eine Frist zur Einreichung einer allfälligen Replik an. Die Fristansetzung wurde aber am 24. November 1978 von dem als Vorsitzenden amtenden Vizepräsidenten des Gerichts wieder aufgehoben. In der Folge verzichtete die Gemeinde Arosa auf Replik, so dass auch keine Duplik eingeholt wurde. Mit Urteil vom 10. Juli/14. September 1979 hiess das Bezirksgericht die Klage teilweise gut und verpflichtete den Kanton Graubünden, der Gemeinde Arosa Fr. 391'097.30 nebst Verzugszins ab verschiedenen Terminen zu bezahlen.
Der Kanton Graubünden und die drei Litisdenunziaten erklärten gegen dieses Urteil Berufung, die Gemeinde Arosa Anschlussberufung. Das Kantonsgericht von Graubünden setzte mit Urteil vom 16. Juni/19. August 1980 die vom Kanton zu leistende Schadenersatzsumme auf Fr. 223'391.10 herab.
Gegen dieses Urteil reichten die Gemeinde Arosa und die Mitglieder der Perimeterkommission staatsrechtliche Beschwerde ein.

Erwägungen

Auszug aus den Erwägungen:
I. Zur Beschwerde der Gemeinde Arosa:

1. Die staatsrechtliche Beschwerde ist, wie sich aus Art. 113 BV in Verbindung mit Art. 88 OG ergibt, grundsätzlich als Rechtsbehelf zum Schutz der natürlichen und juristischen Personen gegen Übergriffe der Staatsgewalt konzipiert, so dass die Beschwerdebefugnis der Gemeinde eine Ausnahme darstellt (vgl. zur Entwicklung der Rechtsprechung BGE 103 Ia 468 ff. und R. Levi,
BGE 107 Ia 175 S. 178
Verfahrensrechtliche Aspekte der staatsrechtlichen Beschwerde, in SJZ 76/1980, S. 241/242).
a) Die Gemeinde Arosa beruft sich auf ihre Gemeindeautonomie. Sie macht geltend, sie trete im vorliegenden Rechtsstreit als Trägerin hoheitlicher Gewalt auf, indem sie ihre Autonomie gegenüber dem Kanton verteidige. Im Rahmen einer Autonomiebeschwerde könne sie sich auch auf Verletzung von Art. 4 BV durch willkürliche Anwendung kantonalen Rechtes berufen.
Wie das Bundesgericht wiederholt erkannt hat, ist die Legitimation von Gemeinden zur staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung ihrer Autonomie immer dann zu bejahen, wenn die Gemeinde durch den angefochtenen Entscheid in ihren hoheitlichen Befugnissen berührt wird. ob sie im betreffenden Bereich auch tatsächlich Autonomie geniesse, ist nicht mehr eine Frage des Eintretens, sondern eine solche der materiellen Beurteilung ( BGE 103 Ia 194 E. 2, 472 E. 1 mit Hinweisen). Indessen bedeutet dies nicht, dass die Beeinträchtigung in den hoheitlichen Befugnissen nur behauptet werden müsse. Soll die Prüfung der Eintretensfrage überhaupt einen Sinn behalten, dann hat das Bundesgericht vorweg von Amtes wegen zu untersuchen, ob der Gemeinde im betreffenden Bereich tatsächlich hoheitliche Befugnisse zustehen.
In zwei der Gemeinde Arosa offenbar bekannten Entscheiden (nicht veröffentlichtes Urteil vom 13. Juli 1977 i.S. Landschaft und Gemeinde Davos, E. 1a; Urteil vom 12. März 1980 i.S. Gemeinde Vaz/Obervaz, nicht veröffentlichte E. 1 zu BGE 106 Ia 9 ) ging das Bundesgericht davon aus, im Verfahren betreffend die Erhebung von Perimeterbeiträgen trete die Gemeinde als Trägerin hoheitlicher Befugnisse auf. Demzufolge bejahte es die Legitimation der beiden bündnerischen Gemeinden zur staatsrechtlichen Beschwerde. Im vorliegenden Fall geht es jedoch nicht um die Erhebung solcher Beiträge, sondern um die Haftpflicht des Kantons für behauptetes schuldhaftes Verhalten seiner Organe. In einem solchen Rechtsstreit kann die Gemeinde schon begrifflich nicht als Trägerin hoheitlicher Befugnisse auftreten, sondern lediglich als klagende Partei; es fehlt ihr von vorneherein jede Entscheidungsbefugnis. Unter dem Gesichtswinkel der Gemeindeautonomie kann daher auf die staatsrechtliche Beschwerde nicht eingetreten werden.
b) Die Gemeinde Arosa hat sich aber auch auf Willkür im Sinne von Art. 4 BV berufen, weshalb zu prüfen ist, ob sie unter diesem Titel zur Beschwerdeführung legitimiert sei. Dass sie glaubt, sich
BGE 107 Ia 175 S. 179
nur im Rahmen einer Autonomiebeschwerde auf Art. 4 BV berufen zu können, darf nicht zu ihrem Nachteil ausgelegt werden, da ihre Eingabe nach Form und Inhalt den für eine Willkürbeschwerde geltenden Anforderungen genügt.
Die Gemeinden sind zur staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte allgemein dann legitimiert, wenn sie sich auf dem Boden des Privatrechtes bewegen oder sonstwie (z.B. als Steuer- oder Gebührenpflichtige) als dem Bürger gleichgeordnete Rechtssubjekte auftreten und durch den angefochtenen staatlichen Akt wie eine Privatperson betroffen werden ( BGE 104 Ia 387 E. 1; BGE 103 Ia 64 mit weiteren Hinweisen). Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Die Gemeinde Arosa macht geltend, sie sei durch Pflichtverletzung eines kantonalen Organs, der Perimeterkommission, in ihrem Finanzvermögen geschädigt worden; hiefür nimmt sie den Kanton gestützt auf das Verantwortlichkeitsgesetz in Anspruch. Damit befindet sie sich in der nämlichen Lage wie ein Privater, der wegen behaupteten schädigenden Verhaltens einer kantonalen Behörde oder kantonaler Beamter gegen den Staat prozessiert. Dass sich der Anspruch auf kantonales Recht und nicht auf Bundeszivilprozessrecht stützt, ändert hieran nichts. Die Gemeinde Arosa ist daher zur Beschwerde wegen Willkür im Sinne von Art. 4 BV legitimiert.
II. Zur Beschwerde der Litisdenunziaten:

6. a) Auch bei dieser Beschwerde stellt sich zunächst die Eintretensfrage. Nach ständiger Rechtsprechung ist in diesem Zusammenhang belanglos, ob die Beschwerdeführer im kantonalen Verfahren Parteistellung hatten oder nicht; die Frage der Beschwerdelegitimation beurteilt sich vielmehr ausschliesslich nach dem Gesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege ( BGE 105 Ia 57 E. b mit Hinweisen).
b) Gemäss Art. 88 OG steht das Recht zur Beschwerdeführung den Privaten bezüglich solcher Rechtsverletzungen zu, die sie durch allgemein verbindliche oder sie persönlich treffende Erlasse oder Verfügungen erlitten haben. Daraus folgt, dass der Entscheid über die Beschwerdelegitimation hier davon abhängt, ob die Litisdenunziaten durch den angefochtenen Entscheid, der im Rechtsstreit zwischen der Gemeinde Arosa und dem Kanton Graubünden ergangen ist, beschwert worden sind.
aa) Nach Lehre und Rechtsprechung beurteilt sich die Frage, ob einem Urteil auch Wirkungen gegenüber den Streitberufenen
BGE 107 Ia 175 S. 180
(Litisdenunziaten) zukomme, nach dem massgebenden materiellen Recht ( BGE 90 II 407 ff.; GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Auflage, S. 312; derselbe; Über die materiellen Wirkungen der Streitverkündung, in ZSR 68/1949, S. 235 ff.; Komm. STRÄULI/MESSMER zur zürcherischen Zivilprozessordnung, N. 3 zu § 47). Im vorliegenden Falle scheidet eine Berücksichtigung der aus dem Bundeszivilrecht, namentlich aus Art. 193 OR abgeleiteten Grundsätze aus, da der streitige Anspruch materiell auf kantonalem Recht beruht. Das in der Sache massgebende Gesetz, nämlich das bündnerische Verantwortlichkeitsgesetz vom 29. Oktober 1944, erwähnt die Streitverkündung nicht; auch die Verweisung auf Bundeszivilrecht in Art. 21 hilft nicht weiter, da dort ausschliesslich die Bestimmungen des Obligationenrechts über die unerlaubten Handlungen als subsidiär anwendbar erklärt werden.
Da hier, wie erwähnt, für die Bestimmung der Wirkungen der Streitverkündung ohnehin nur kantonales Recht in Betracht fällt, kann auch die Zivilprozessordnung des Kantons Graubünden vom 20. Juni 1954 (ZPO) mit herangezogen werden. Der ZPO lässt sich allerdings ebenfalls nicht unmittelbar entnehmen, ob nach rechtzeitig erfolgter Streitverkündung ein Urteil auch gegenüber dem Streitberufenen Rechtswirkungen entfalte. Dagegen ist der umgekehrte Fall geregelt. Art. 48 ZPO lautet nämlich wie folgt:
"Die Unterlassung der Streitverkündung hat zur Folge, dass, wenn der Prozess für den zur Einrufung Berechtigten verloren geht, der Dritte, gegen den Rückgriff genommen wird, sich gegen jenen durch die Einreden wehren kann, die er hätte geltend machen können, wenn er ins Recht gerufen worden wäre."
Der Schluss drängt sich auf, dass der bündnerische Gesetzgeber in Fällen, in denen einem allenfalls regresspflichtigen Dritten rechtzeitig der Streit verkündet wird, im Rückgriffsprozess diejenigen Einreden nicht mehr zulassen wollte, die schon im ersten Verfahren hätten erhoben werden können. Eine solche Lösung wäre mindestens für denjenigen Bereich, der nicht durch materielles Bundesrecht geregelt wird, unter dem Gesichtswinkel des rechtlichen Gehörs kaum zu beanstanden. Bei dieser Sachlage muss ein Streitberufener in einem ausschliesslich vom Recht des Kantons Graubünden beherrschten Verfahren grundsätzlich als durch das Urteil im ersten Prozess beschwert betrachtet werden, was die Bejahung der Legitimation zur staatsrechtlichen Beschwerde zur Folge hätte.
BGE 107 Ia 175 S. 181
Indessen kann dies nur gelten, wenn die Streitverkündung rechtzeitig erfolgt ist, wobei unter Rechtzeitigkeit ein Zeitpunkt zu verstehen ist, der es dem Streitberufenen ermöglicht, von seinen Angriffs- oder Verteidigungsmitteln uneingeschränkt Gebrauch zu machen. Trifft dies nicht zu, so kann der Streitverkünder dem Streitberufenen das für ihn ungünstige Urteil nicht entgegenhalten ( BGE 90 II 411 ; GULDENER, Über die materiellen Wirkungen der Streitverkündung, a.a.O. S. 248; derselbe, Schweiz. Zivilprozessrecht, 3. Auflage, S. 313 Mitte).
bb) Im vorliegenden Falle wurde den Mitgliedern der Perimeterkommission von der Regierung des Kantons Graubünden der Streit nicht gleich zu Prozessbeginn - also etwa bei der ersten Fristansetzung - verkündet, sondern erst mit der Einreichung der Klagebeantwortungsschrift. Eine Frist zur Ergänzung dieser Rechtsschrift wurde den Litisdenunziaten nicht angesetzt; ob zu Recht oder Unrecht, ist in diesem Zusammenhang nicht zu prüfen. Da die Klägerin (Gemeinde Arosa) auf Replik verzichtete, erhielten die Litisdenunziaten auch keine Gelegenheit zur Duplik. Im Berufungsverfahren sind nach bündnerischem Recht Nova nur in sehr beschränktem Umfange zulässig ( Art. 247 und 255 ZPO ). Die Litisdenunziaten waren somit nicht in der Lage, im Prozess zwischen der Gemeinde Arosa und dem Kanton Graubünden ihren Standpunkt unter umfassender Darlegung aller tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte und unter Anrufung der ihnen nützlich scheinenden Beweismittel zu wahren. Daraus folgt, dass ihnen der Kanton Graubünden in einem allfälligen späteren Rückgriffsprozess auf Grund von Art. 12 des Verantwortlichkeitsgesetzes das hier angefochtene Urteil nicht wird entgegenhalten können. Die Streitberufenen sind vielmehr berechtigt, in jenem Verfahren unbeschränkt Behauptungen und Bestreitungen vorzubringen sowie Beweismittel anzurufen, wie wenn überhaupt keine Streitverkündung erfolgt wäre. Dies scheint auch die Meinung des Kantonsgerichtes zu sein, das in E. 1c des angefochtenen Urteils ausgeführt hat, der Kanton Graubünden hätte es in der Hand gehabt, die Streitverkündung so frühzeitig vornehmen zu lassen, dass auch die Litisdenunziaten die Klage noch innert Frist hätten beantworten können.
Verhält es sich aber so, dass das angefochtene Urteil gegenüber den Litisdenunziaten keine Rechtswirkungen entfaltet, so sind die durch dieses Urteil nicht in ihren rechtlich geschützten Interessen betroffen. Ihre Beschwerdelegitimation ist daher auf Grund von
BGE 107 Ia 175 S. 182
Art. 88 OG zu verneinen, und es ist auf ihre auf Willkür gestützten Rügen nicht einzutreten.

Diese Seite ist durch reCAPTCHA geschützt und die Google Datenschutzrichtlinie und Nutzungsbedingungen gelten.

Feedback
Laden