BGE 107 IA 234 vom 27. November 1981

Datum: 27. November 1981

Artikelreferenzen:  Art. 57 StG, Art. 156 Abs. 2 OG

BGE referenzen:  113 IA 1, 124 I 176, 125 II 206 , 105 IA 182, 105 IA 184, 103 IA 403

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

107 Ia 234


47. Urteil der II. Öffentlichrechtlichen Abteilung vom 27. November 1981 i.S. Wyss gegen Gemeinderat Altdorf und Regierungsrat des Kantons Uri (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

Meinungsäusserungs- bzw. Informationsfreiheit Einsicht in das Steuerregister.
Die Weigerung einer urnerischen Gemeinde, einem in der Gemeinde wohnhaften Steuerpflichtigen die Einsichtnahme in das Steuerregister zu gestatten, ist mit dem kantonalen Recht unvereinbar und verstösst gegen die Informationsfreiheit.

Sachverhalt ab Seite 234

BGE 107 Ia 234 S. 234
Art. 57 Abs. 1 des Steuergesetzes des Kantons Uri vom 16. Mai 1965 (StG) bestimmt:
"Die Steuerorgane haben über die Verhältnisse der Steuerpflichtigen, von denen sie in Ausübung ihres Amtes Kenntnis erhalten, sowie über die Verhandlungen in den Behörden strenge Verschwiegenheit zu beobachten. Die Schweigepflicht besteht nicht gegenüber anderen inländischen Steuerbehörden. Das Recht des Steuerpflichtigen, Einsicht in die Steuerregister zu verlangen, bleibt vorbehalten."
BGE 107 Ia 234 S. 235
Art. 2 der dazugehörenden Vollziehungsverordnung vom 30. Oktober 1968 lautet:
"Steuerauszüge und die Bekanntgabe von Einzelheiten, die im Register nicht enthalten sind, sind verboten. Dem Steuerpflichtigen steht die Einsicht in das Steuerregister jener Gemeinde offen, in welcher er unbeschränkt oder beschränkt steuerpflichtig ist."
Regula Wyss verlangte am 24. September 1979 auf der Gemeindekanzlei Altdorf Einblick in das Steuerregister bezüglich zweier Altdorfer Steuerzahler. Nachdem ihr der Einblick bezüglich eines Unselbständigerwerbenden gewährt worden war, verweigerte man ihr diesen bezüglich eines Altdorfer Arztes mit dem Hinweis, dass sie als Arbeitnehmerin nur in die Steuerfaktoren von Arbeitnehmern, nicht aber von Selbständigerwerbenden Einsicht nehmen könne. Eine dagegen gerichtete Beschwerde wies sowohl der Gemeinderat Altdorf als auch der Regierungsrat des Kantons Uri ab.
Regula Wyss führt staatsrechtliche Beschwerde mit den Anträgen, der Entscheid des Regierungsrates vom 11. November 1980 sei aufzuheben und Art. 2 der Vollziehungsverordnung sei die künftige Anwendbarkeit zu versagen. Die Begründung der Beschwerde ergibt sich, soweit erforderlich, aus den nachfolgenden Erwägungen.
Der Gemeinderat von Altdorf verzichtet auf eine Vernehmlassung und der Regierungsrat des Kantons Uri beantragt die Abweisung der Beschwerde.

Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Die Beschwerdeführerin beantragt die Aufhebung des regierungsrätlichen Entscheides. Sinngemäss ist damit aber offensichtlich nur Ziff. 1 des Dispositivs (Abweisung der Beschwerde) gemeint, nicht aber Ziff. 2 (Verzicht auf Kostenerhebung) und Ziff. 3 (Weisung an die Finanzdirektion zur Vorbereitung von Weisungen nach Eintritt der Rechtskraft des Entscheides). Im übrigen wäre die Beschwerdeführerin zur Anfechtung der regierungsinternen Weisung auch gar nicht befugt.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde kann nur die Aufhebung des angefochtenen Entscheides verlangt werden. Auf den Antrag der Beschwerdeführerin, Art. 2 der Vollziehungsverordnung sei die künftige Anwendbarkeit zu versagen, kann deshalb nicht eingetreten werden. Im übrigen ist die Beschwerdeführerin im vorliegenden Fall von der beanstandeten Verordnungsbestimmung nicht negativ betroffen, weil sie deren einschränkende Voraussetzung (Steuerpflicht am Ort, wo die Einsichtnahme verlangt wird) erfüllt.
BGE 107 Ia 234 S. 236

2. Die Beschwerdeführerin macht geltend, sie habe einen Anspruch darauf, Einsicht in das Steuerregister zu nehmen.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts gewährleistet die Meinungsäusserungsfreiheit die Freiheit der Meinung, die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten und Meinungen einschliesslich der Freiheit, sich aus allgemein zugänglichen Quellen zu unterrichten. Die Meinungsäusserungsfreiheit umfasst daher auch die Informationsfreiheit als Anspruch, sich aus allgemein zugänglichen Quellen zu unterrichten ( BGE 105 Ia 182 E. 2a mit Hinweisen). ob die Steuerregister als allgemein zugängliche Informationsquellen zu betrachten sind, ergibt sich aus dem kantonalen Recht. Das Bundesgericht überprüft die Auslegung und Anwendung kantonalen Rechts der Gesetzes- oder Verordnungsstufe lediglich auf Willkür, da vorliegend kein schwerer Eingriff in das in Frage stehende Grundrecht zur Beurteilung steht ( BGE 105 Ia 184 E. 3b mit Hinweis).

3. Der Regierungsrat anerkennt ausdrücklich, dass es sich ursprünglich beim Steuerregister um ein öffentliches Register gehandelt habe, in das jeder Steuerpflichtige ohne Vorbedingung habe Einsicht nehmen können und das sogar von gewissen Gemeinden in Form einer Broschüre veröffentlicht worden sei. Er macht aber geltend, die entstehungszeitliche Auslegungsmethode dürfe hier nicht angewandt werden. Der heutige Wortlaut der fraglichen Bestimmung gehe auf das Steuergesetz von 1955 zurück, zu welcher Zeit das praktizierte Einsichtsrecht, welches Gegenstand des Vorbehaltes bildete, bereits fernliegender Vergangenheit angehört habe. Das vom Gesetzgeber nur vorbehaltsweise erwähnte, von ihm jedoch seit langem nicht mehr definierte Einsichtsrecht müsse geltungszeitlich, d.h. im Lichte der heute bestehenden Rechtsauffassung ausgelegt werden.
Die erwähnte geltungszeitliche Interpretation des Einsichtsrechtes nach Art. 57 StG ist vom Regierungsrat als letzter kantonaler Instanz offensichtlich erstmals im vorliegenden Fall angewandt worden. Dieser Schluss ist nicht nur daraus zu ziehen, dass sich der Regierungsrat auf keinerlei Präjudizien stützt, sondern insbesondere aus dem im Zusammenhang mit der Kostenfrage gemachten Hinweis, es habe im Interesse des Gemeinwesens (d.h. der Gemeinde Altdorf) gelegen, dass die Beschwerdeinstanz (d.h. der Regierungsrat) Gelegenheit bekam, das Problem zu überdenken. Wenn ferner der Regierungsrat im gleichen Zusammenhang erklärt, es liege am unklaren Wortlaut des Gesetzes und an der dadurch bewirkten bisherigen Praxis der Behörden, wenn die Beschwerdeführerin
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zur Auffassung verleitet wurde, es stehe ihr ein formelles und voraussetzungsfreies Einsichtsrecht zu, so ist das wohl dahin zu verstehen, dass auch bei den untergeordneten Steuerbehörden noch keine Praxis im Sinne der nunmehrigen Gesetzesinterpretation des Regierungsrates bestand. Bezeichnenderweise ist denn auch das Einsichtsbegehren der Beschwerdeführerin vom Gemeindesteueramt und danach vom Gemeinderat mit je einer abweichenden Begründung abgelehnt worden, und der Regierungsrat seinerseits hat beide Begründungen als unhaltbar bezeichnet. Selbst im Rundschreiben der kantonalen Steuerverwaltung an die Gemeindesteuerämter vom 28. Februar 1977 ist noch mit keinem Wort von einer Vorbedingung im Sinne eines wie immer gearteten Interessennachweises die Rede.

4. a) Die vom Regierungsrat in Anspruch genommene "geltungszeitliche Gesetzesinterpretation" entspricht der sog. objektiv-zeitgemässen Auslegung. Grundsätzlich darf in objektiv-zeitgemässer Auslegung einer Gesetzesnorm ein Sinn gegeben werden, der für den historischen Gesetzgeber infolge eines Wandels der tatsächlichen Verhältnisse nicht voraussehbar war und in der bisherigen Anwendung auch nicht zum Ausdruck gekommen ist, wenn er noch mit dem Wortlaut des Gesetzes vereinbar ist ( BGE 103 Ia 403 mit Hinweis).
b) Zur Begründung seiner Praxisänderung geht der Regierungsrat davon aus, dass sich in der Praxis betreffend die Öffentlichkeit des Steuerregisters erstmals im Steuergesetz von 1955 eine gewisse Sensibilisierung des Problems angedeutet habe, und zwar in der Hinsicht, dass nunmehr das Amtsgeheimnis in Steuersachen, welches bis anhin einer positiven Regelung gar nicht gewürdigt worden sei, in Art. 50 Abs. 1 neu eingeführt und in den Vordergrund gerückt worden sei. Ausserdem habe der Regierungsrat in seinem Beschluss vom 1. Mai 1957 erklärt, dass die Veröffentlichung des Steuerregisters mit den Bestimmungen des Steuergesetzes nicht vereinbar sei. Diese Hinweise besagen aber keineswegs, dass sich die Verhältnisse bzw. die Anschauungen zur Frage des bis anhin unbedingten Einsichtsrechtes des Steuerpflichtigen ins Steuerregister wesentlich geändert hätten. Selbst wenn vor 1955 überhaupt keine Schweigepflicht in Steuersachen bestanden haben und diese Schweigepflicht erst 1955 neu eingeführt worden sein sollte, zeigt doch gerade die lapidare Kürze, mit welcher das Einsichtsrecht ins Steuerregister vorbehalten wurde, dass diesbezüglich am bis anhin praktizierten Rechtszustand nichts geändert werden sollte. Es handelt sich um eine auf zwei Fakten, nämlich auf die Höhe von
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Einkommen und Vermögen beschränkte Ausnahmebestimmung zur generellen Schweigepflicht, die sich ihrerseits auf alle übrigen, für den Steuerpflichtigen weitaus wichtigeren Details der Steuerakten erstreckt. Auch im Regierungsratsbeschluss vom 1. Mai 1957, welcher die Unzulässigkeit der Veröffentlichung des Steuerregisters feststellte, wurde das Einsichtsrecht als solches ohne jede Einschränkung vorbehalten. In der Folgezeit hat sich an der Praxis der Steuerbehörden zum Einsichtsrecht ohne Interessennachweis bis zum nunmehr angefochtenen Entscheid des Regierungsrates nichts geändert. Offenbar ist aber auch beim Stimmbürger in diesem Punkt kein Gesinnungswandel eingetreten, ist doch im neuen, heute noch geltenden Steuergesetz von 1965 das Einsichtsrecht wörtlich aus dem Gesetz von 1955 übernommen worden und selbst bei der neuesten Revision von 1980 unverändert geblieben.
c) In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass auch aus gesamtschweizerischer Sicht nicht die Rede davon sein kann, dass das Einsichtsrecht in die Steuerregister ohne Interessennachweis der heutigen allgemeinen Auffassung widerspreche und überholt sei. Die Steuerregister sind lediglich in den drei Kantonen Basel-Stadt, Genf und Glarus geheim. Das gleiche gilt für das Wehrsteuerrecht des Bundes. Nur mit Interessennachweis (in mehr oder weniger strenger Form) wird das Einsichtsrecht gewährt von den vier Kantonen Appenzell-I.Rh., Basel-Land, Graubünden, St. Gallen. Die acht Kantone Appenzell-A.Rh., Nidwalden, Schaffhausen, Schwyz, Thurgau (evt. sogar Veröffentlichung), Wallis, Waadt und Zürich kennen das Einsichtsrecht ohne Interessennachweis, und in den restlichen zehn Kantonen Aargau, Bern, Freiburg, Jura (als neuer Kanton), Luzern, Neuenburg, Obwalden, Solothurn, Zug und Tessin ist in irgend einer Form die öffentliche Auflage und teils sogar die Veröffentlichung der Steuerregister vorgesehen.
d) Der Regierungsrat begründet denn auch seine Praxisänderung lediglich mit seiner eigenen Auffassung, dass die Steuerkontrolle intensiver und der Steuerpflichtige datenschutzempfindlicher geworden sei und dass das Recht auf Einsicht in die Steuerregister mit einem sehr grundlegenden, rechtsgrundlagemässig mit Verfassungsrang abgestützten Menschenrecht auf Wahrung der persönlichen Sphäre kollidiere. Dass das ohne Interessennachweis gewährte Einsichtsrecht in das Steuerregister einen Rechtsgrundsatz von Verfassungsrang verletzen würde, ist bisher noch nie anerkannt worden und es ist auch nicht anzunehmen, dass dies je der Fall sein wird, solange acht Kantone die Einsicht ohne diese Vorbedingung gewähren und in weiteren zehn Kantonen die
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Steuerregister sogar (mehr oder weniger) öffentlich aufgelegt werden.

5. Die Auffassung des Regierungsrates, dass das Einsichtsrecht in das Steuerregister von einem Interessennachweis abhängig gemacht werden sollte, ist zwar an sich durchaus vertretbar. Im vorliegenden Fall führt jedoch die neue Gesetzesinterpretation des Regierungsrates zu einer eigentlichen Zäsur gegenüber einer von jeher, jedenfalls seit über einem Jahrhundert bestehenden Rechtspraxis. Unter diesen Umständen hätte die Rechtsänderung, die zwar einerseits dem an der Geheimhaltung des Steuerregisters interessierten Steuerpflichtigen einen höheren Schutz bringt, anderseits aber die Rechtsstellung der am Einsichtsrecht interessierten Steuerpflichtigen schmälert, vom Gesetzgeber vorgenommen werden müssen. Die Vornahme einer solchen Rechtsänderung auf dem Wege einer lediglich auf dem Sinneswandel der Regierung beruhenden Neuinterpretation einer Gesetzesbestimmung, deren Änderung dem Stimmbürger trotz mehrfacher Gesetzesrevisionen nicht notwendig erschien, muss als willkürlich betrachtet werden, und die Beschwerde ist in diesem Punkte gutzuheissen.

6. Bei diesem Ausgang des Verfahrens werden keine Gerichtskosten erhoben ( Art. 156 Abs. 2 OG ).
Der Beschwerdeführerin wird keine Parteientschädigung zugesprochen, da sie vor Bundesgericht nicht durch einen Anwalt vertreten ist und eine Umtriebsentschädigung nicht geltend macht.

Dispositiv

Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf eingetreten werden kann, und Ziff. 1 des Entscheides des Regierungsrates des Kantons Uri vom 11. November 1980 wird aufgehoben.

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