BGE 107 IB 155 vom 23. Januar 1981

Datum: 23. Januar 1981

Artikelreferenzen:  Art. 12 VG, Art. 44 OR , Art. 42 OG, Art. 142 ZGB, Art. 137 ZGB, Art. 151 ZGB, Art. 44 Abs. 1 OR, Art. 44 Abs. 1 OG

BGE referenzen:  121 III 204, 130 I 312, 132 III 359, 144 I 318 , 101 II 184, 96 II 344, 92 I 552, 100 IB 11, 103 V 192, 103 V 192

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

107 Ib 155


29. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 23. Januar 1981 i.S. M. gegen Kanton Zürich (Verfahren nach Art. 42 OG )

Regeste

Haftung des Gemeinwesens für Rechtsverzögerung (Gesetz des Kantons Zürich über die Haftung des Staates und der Gemeinden sowie ihrer Behörden und Beamten).
Der Kanton kann zum Ersatz des Schadens aus einer übermässig langen Prozessdauer nicht verpflichtet werden, wenn die geschädigte Partei nicht alle ihr zur Verfügung stehenden Vorkehren getroffen hat, um - mit entsprechenden Eingaben an das Gericht oder wenn nötig mit einer Rechtsverzögerungsbeschwerde - auf eine Beschleunigung des Verfahrens hinzuwirken.

Sachverhalt ab Seite 155

BGE 107 Ib 155 S. 155
Am 19. März 1970 wurden die Ehegatten M.-B. auf Begehren der Ehefrau, welche eine Scheidung anstrebte, vor dem Friedensrichter der Stadt Zürich geladen. Diese Sühneverhandlung verlief ergebnislos. Am 22. Mai 1970 machte die Ehefrau die Scheidungsklage
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beim Bezirksgericht Zürich anhängig. Sie beantragte, die Ehe sei gemäss Art. 137 ZGB , eventuell gemäss Art. 142 ZGB , zu scheiden. In seiner Klageantwort vom 8. Juli 1970 verlangte der Ehemann die Abweisung der Klage.
Das Scheidungsverfahren vor dem Bezirksgericht dauerte ungefähr 6 1/2 Jahre. Im Laufe dieses Verfahrens wurden verschiedene Beweismassnahmen getroffen. So führte das Gericht Beweis über die Frage, ob der Ehemann Ehebruch begangen hatte, was dieser bestritt, und ob die Ehe tief zerrüttet war. Im Rahmen der güterrechtlichen Auseinandersetzung wurden verschiedene Immobilien, welche der Ehemann während der Ehe erworben hatte, mit Expertisen geschätzt. Verzögerungen des Verfahrens ergaben sich auch aus den, schliesslich erfolglosen, Vergleichsverhandlungen. Zu weiteren Verlängerungen des Prozesses führten verschiedene Rekurse an das Obergericht, eine Strafanzeige wegen falschen Zeugnisses und die Anordnung vorsorglicher Massnahmen. Ein Teil der langen Prozessdauer ist schliesslich auch darauf zurückzuführen, dass den Parteien Fristen zur Einreichung von Stellungnahmen im Haupt- und in der Nebenverfahren angesetzt und dass diese Fristen auf Begehren der Anwälte teilweise verlängert wurden.
Mit Urteil vom 12. Januar 1977 schied das Bezirksgericht die Eheleute M.-B. gestützt auf Art. 142 ZGB . Die Ehefrau erklärte in der Folge die Berufung an das Obergericht. Der Ehemann schloss sich dieser Berufung an. Da der Scheidungspunkt nicht mehr angefochten wurde, beschränkte sich das Berufungsverfahren auf die Frage der Rente an die Ehefrau und das Güterrecht. Mit Urteil vom 2. November 1978 erklärte das Obergericht die Hauptberufung für teilweise begründet, die Anschlussberufung für unbegründet. Es verurteilte den Beklagten gestützt auf Art. 151 ZGB , der Klägerin monatlich eine Rente von Fr. 800.-- zu überweisen. Im weiteren verpflichtete es ihn, der Klägerin als Vorschlagsanteil Fr. 104'342.05 zu bezahlen. Dieses Urteil wurde rechtskräftig. Am 19. Dezember 1977 reichte die heutige Klägerin beim Regierungsrat des Kantons Zürich ein Schadenersatzbegehren ein mit der Begründung, sie sei durch die übermässig lange Dauer des Scheidungsverfahrens vor Bezirksgericht geschädigt worden, denn ihr Ehemann habe während dieser Zeit das eheliche Vermögen und somit ihren Vorschlagsanteil stark vermindert. Der Regierungsrat des Kantons Zürich lehnte dieses Begehren ab und verwies die Klägerin für eine gerichtliche Geltendmachung ihres Anspruchs an das Bundesgericht.
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Mit der vorliegenden Klage vom 14. Januar 1980 stellt die Klägerin den Antrag, der Kanton Zürich sei zu verpflichten, ihr Fr. 146'266.-- nebst 5% Zins seit dem 12. Januar 1977 zu bezahlen. Die Klägerin macht geltend, ihr ehemaliger Ehemann sei zwischen Ende 1972 und Ende 1975 nicht mehr einem Erwerb nachgegangen. Das eheliche Vermögen habe sich daher in dieser Zeit um Fr. 541'300.-- verringert. Von diesem Betrag habe das Obergericht dem Ehemann zwar Fr. 102'500.-- als unberechtigte Ausgaben angerechnet. Die Klägerin ist aber der Auffassung, dass Ende 1972/Anfang 1973, d.h. im Zeitpunkt, in dem das erstinstanzliche Verfahren hätte abgeschlossen sein können, der auf die Ehegatten aufzuteilende Vorschlag noch um Fr. 438'800.-- höher gewesen wäre als Ende 1975. Durch die widerrechtlich saumselige Prozessleitung des verantwortlichen Richters am Bezirksgericht Zürich habe sie somit einen Schaden im Sinne von § 6 des Haftungsgesetzes des Kantons Zürich erlitten.
Das Bundesgericht weist die Klage ab, aus folgenden

Erwägungen

Erwägungen:

1. Gemäss Art. 42 OG beurteilt das Bundesgericht als einzige Instanz "zivilrechtliche Streitigkeiten" zwischen einem Kanton einerseits und Privaten oder Korporationen andererseits, wenn eine Partei es rechtzeitig verlangt und der Streitwert mindestens Fr. 8'000.-- beträgt. Hierbei begründet es keinen Unterschied, ob die Streitigkeiten nach der kantonalen Gesetzgebung im ordentlichen Prozessverfahren oder in einem besonderen Verfahren vor besonderen Behörden auszutragen wären. Ausgenommen sind jedoch Enteignungssachen.
Im vorliegenden Fall ist die vermögensrechtliche Verantwortlichkeit des Kantons Zürich für ein angeblich rechtswidriges Verhalten des Bezirksgerichts von Zürich streitig. Der eingeklagte Anspruch untersteht daher dem kantonalen öffentlichen Recht ( BGE 101 II 184 f. E. 2b mit Hinweisen). Der in Art. 42 OG verwendete Begriff der "zivilrechtlichen" Streitigkeit hat indessen den Sinn behalten, den der historische Gesetzgeber ihm beilegte; er umfasst auch derartige Streitsachen öffentlichrechtlichen Charakters ( BGE 96 II 344 E. 3c, BGE 92 I 552 E. 1 mit Hinweisen). Die Klägerin hat das Bundesgericht im Sinne von Art. 42 OG "rechtzeitig" angerufen, d.h. bevor für den gleichen Streitgegenstand die kantonale Gerichtsbarkeit in Anspruch genommen ist. Der Streitwert übersteigt den Betrag von Fr. 8'000.--. Das Bundesgericht kann somit die Klage an die Hand nehmen.
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2. a) Nach § 6 des zürcherischen Gesetzes über die Haftung des Staates und der Gemeinden sowie ihrer Behörden und Beamten (Haftungsgesetz) vom 14. September 1969 haftet der Staat für den Schaden, den ein Beamter in Ausübung hoheitlicher Verrichtungen einem Dritten widerrechtlich zufügt. Diese Bestimmung ist auch auf die Gerichte anwendbar (§ 1 Haftungsgesetz).
b) § 7 Haftungsgesetz sieht vor, dass der Richter die Ersatzpflicht ermässigen oder gänzlich von ihr entbinden kann, wenn der Geschädigte in die schädigende Handlung eingewilligt oder Umstände, für die er einstehen muss, auf die Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens eingewirkt haben. Diese Bestimmung entspricht im wesentlichen Art. 44 Abs. 1 OR (und im übrigen auch Art. 4 des Bundesgesetzes über die Verantwortlichkeit des Bundes sowie seiner Behördemitglieder und Beamten, VG). Für die Beurteilung der Gründe, welche gemäss § 7 Haftungsgesetz eine Ermässigung oder ein Ausschluss der Ersatzpflicht herbeiführen können, kann somit die Rechtsprechung zum Selbstverschulden gemäss Art. 44 Abs. 1 OG herangezogen werden. Ein Selbstverschulden im Sinne des Zivilrechts liegt vor, wenn es der Geschädigte unterlässt, zumutbare Massnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, der Entstehung oder Verschlimmerung eines Schadens entgegenzuwirken. Der Geschädigte hat mit anderen Worten diejenigen Massnahmen zu treffen, die ein vernünftiger Mensch in der gleichen Lage ergreifen würde, wenn er keinerlei Schadenersatz zu erwarten hätte (OFTINGER, Schweiz. Haftpflichtrecht I, 4. Aufl., S. 266 f., BGE 60 II 229 ).
Droht ein Schaden durch die Handlung oder Unterlassung eines Gerichts, besteht die Möglichkeit, sich gegen solche Schäden innerhalb des betreffenden Verfahrens, d.h. mit den vom Prozessrecht zur Verfügung gestellten Mitteln zur Wehr zu setzen. Es sind in diesem Zusammenhang zwei Fälle zu unterscheiden.
aa) Entsteht ein Schaden durch die Auswirkungen einer fehlerhaften prozessleitenden Verfügung der eines fehlerhaften Endentscheides, hat die betroffene Partei zunächst diese Entscheide mit den gegebenen Rechtsmitteln anzufechten. Die Rechtmässigkeit eines unangefochten gebliebenen Entscheides kann in einem späteren Staatshaftungsverfahren nicht mehr überprüft werden (§ 21 Abs. 1 des zürcherischen Haftungsgesetzes, vgl. auch Art. 12 VG , BGE 100 Ib 11 E. 2b). Soweit die Rechtswidrigkeit eines Entscheides nicht mehr festgestellt werden kann, entfällt auch eine Haftung des Staates.
bb) Wenn zu befürchten ist, dass aus einer langen Prozessdauer
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ein Schaden entsteht, kann der betroffenen Partei zugemutet werden, das Gericht auf den drohenden Schaden aufmerksam zu machen und es um eine raschere Abwicklung des Verfahrens zu ersuchen (vgl. den Bundesgerichtsentscheid in ZBl 81/1980, S. 268 E. 2d). Wird durch eine solche Massnahme der Gang des Verfahrens nicht beschleunigt und besteht keine Aussicht mehr, dass das Verfahren innerhalb einer angemessenen Frist abgeschlossen werden kann, ist es der betroffenen Partei zudem zuzumuten, eine Rechtsverzögerungsbeschwerde zu ergreifen (zur Frage der unrechtmässigen Rechtsverzögerung vgl. BGE 103 V 192 ff.). Solche Mittel sind zu ergreifen, bevor auf dem Weg der Staatshaftung versucht wird, vom Staat Schadenersatz zu erlangen. Insofern besteht eine gewisse Subsidiarität der Staatshaftung (FRANZ SCHÖN, Staatshaftung als Verwaltungsrechtsschutz, Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Heft 116, S. 189 ff.). Wenn eine Partei die Beschleunigung des Verfahrens nicht mit den genannten Massnahmen versucht hat, muss ihr in einem allfälligen späteren Staatshaftungsprozess ein Selbstverschulden im Sinne von § 7 Haftungsgesetz entgegengehalten werden.
c) Die Klägerin macht nicht geltend, dass sie das Bezirksgericht Zürich unter Hinweis auf den drohenden Schaden um eine schnellere Abwicklung des Verfahrens ersucht habe. Zudem ergriff sie unbestrittenermassen keine Rechtsverzögerungsbeschwerde gegen das Bezirksgericht, obschon im Hinblick auf die lange Prozessdauer in guten Treuen behauptet werden konnte, es liege widerrechtliche Rechtsverzögerung vor. Die Klägerin unterliess es somit, die zumutbaren Massnahmen zu ergreifen, um den geltend gemachten Schaden abzuwehren. Dieses Untätigsein muss ihr als Selbstverschulden angerechnet werden. Dadurch wurde der Kausalzusammenhang zwischen der beanstandeten Prozessführung durch das Bezirksgericht und einem eventuellen Schaden unterbrochen. Bei dieser Rechtslage ist eine Haftung des Kantons Zürich gemäss § 7 Haftungsgesetz ausgeschlossen.

3. Nachdem die Klage bereits aufgrund von § 7 Haftungsgesetz abgewiesen werden muss, braucht nicht mehr geprüft zu werden, ob die beanstandete Prozessführung eine widerrechtliche Handlung bzw. Unterlassung gemäss § 6 Abs. 1 Haftungsgesetz darstellt und ob und in welcher Höhe der behauptete Schaden entstanden ist. Im weiteren kann dahingestellt bleiben, ob die als Schaden bezeichnete Verminderung des ehelichen Vermögens durch den Ehemann nicht im Rahmen der Berechnung und Teilung des Vorschlags zu berücksichtigen gewesen wäre und ob
BGE 107 Ib 155 S. 160
dieser Schaden daher - nachdem die Vorschlagsteilung rechtskräftig geworden ist - im Staatshaftungsverfahren noch geltend gemacht werden kann (§ 21 Abs. 1 Haftungsgesetz).

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