Urteilskopf
107 II 314
49. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 10. November 1981 i.S. T. gegen Direktion der Psychiatrischen Klinik Münsingen und Kantonale Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen des Kantons Bern (Berufung)
Regeste
Fürsorgerische Freiheitsentziehung.
1. Mit der Berufung gegen die fürsorgerische Freiheitsentziehung kann auch die Verletzung von
Art. 397f Abs. 2 ZGB
gerügt werden, wonach der betroffenen Person im gerichtlichen Verfahren wenn nötig ein Rechtsbeistand zu bestellen ist (E. 1).
2. Voraussetzungen für die Bestellung eines Rechtsbeistandes. Der Umstand, dass die zu versorgende Person an einem geistigen Gebrechen leidet und dass die Versorgung tief in seine Rechte eingreift, macht für sich allein die Bestellung eines Rechtsbeistandes noch nicht erforderlich (E. 2, 3).
Der an einer chronischen paranoiden Schizophrenie leidende T. wurde im Jahre 1974 bevormundet und befindet sich seither, mit einigen Unterbrüchen, in der Psychiatrischen Klinik Münsingen. Am 18. Februar 1981 wies die Direktion der Klinik ein von ihm gestelltes Entlassungsgesuch ab. Hierauf ersuchte T. um gerichtliche Beurteilung des Gesuchs, wobei er das Begehren um Beiordnung eines Anwaltes sowie um unentgeltliche Prozessführung stellte. Mit Entscheid vom 2. Juli 1981 wies die kantonale Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen des Kantons Bern das Entlassungsgesuch zur Zeit ebenfalls ab, empfahl aber der Direktion der Klinik, im Rahmen der Hospitalisierung eine längerdauernde Bewährungsmöglichkeit ausserhalb der Klinik zu organisieren. Auch das Gesuch um Beiordnung eines Anwalts wurde abgewiesen.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde verlangt T. die Aufhebung des Entscheids der Rekurskommission. Er macht geltend, die Abweisung des Gesuchs um Beiordnung eines Anwalts verstosse gegen
Art. 4 BV
.
Die Rekurskommission beantragt die Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesgericht nimmt die staatsrechtliche Beschwerde als Berufung entgegen, weist diese aber ab.
Aus den Erwägungen:
1.
Nach dem neuen
Art. 44 lit. f OG
ist bei fürsorgerischer Freiheitsentziehung die Berufung zulässig. Mit der Berufung kann nach
Art. 43 OG
nur die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden. Das Verfahren der fürsorgerischen Freiheitsentziehung wird zwar grundsätzlich durch das kantonale Recht geordnet; doch enthalten
Art. 397e und 397f ZGB
gewisse Vorbehalte. Insbesondere sieht
Art. 397f Abs. 2 ZGB
vor, dass der Richter im Verfahren vor Gericht der betroffenen Person wenn nötig einen Rechtsbeistand zu bestellen habe. Ähnlich wie
Art. 158 oder 374 ZGB
stellen die Verfahrensbestimmungen in
Art. 397e und 397f ZGB
Bundesrecht dar, dessen Verletzung mit der Berufung gemäss
BGE 107 II 314 S. 316
Art. 44 lit. f OG
gerügt werden kann. Sie werden in
Art. 44 lit. f OG
denn auch ausdrücklich erwähnt. Ist aber die Berufung zulässig, kann auf die staatsrechtliche Beschwerde nicht eingetreten werden (
Art. 84 Abs. 2 OG
). Das heisst nicht, dass nicht auch auf diesem Gebiet die willkürliche Anwendung kantonalen Prozessrechts mit staatsrechtlicher Beschwerde zu rügen ist. Der in der Eingabe an das Bundesgericht als verletzt betrachtete Art. 32 der kantonalen Verordnung betreffend die Einführung des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 1978 über die Änderung des ZGB (fürsorgerische Freiheitsentziehung), welcher die Rekurskommission anweist, der betroffenen Person wenn nötig einen Anwalt beizuordnen, deckt sich jedoch mit
Art. 397f Abs. 2 ZGB
und hat keine selbständige Bedeutung. Die Eingabe ist daher als Berufung entgegenzunehmen.
2.
Der Berufungskläger leidet an einem geistigen Gebrechen, das an sich geeignet ist, seine Verteidigungsmöglichkeit zu beeinträchtigen. Auch greift die Zurückbehaltung in der Anstalt zweifellos tief in seine Rechte ein. Daraus allein folgt jedoch noch nicht, dass ihm ein Rechtsbeistand beigegeben werden musste. Die fürsorgerische Freiheitsentziehung stellt stets eine schwerwiegende Massnahme dar, die vom Betroffenen in ähnlicher Weise empfunden wird wie eine Freiheitsstrafe oder eine im Rahmen eines Strafverfahrens angeordnete freiheitsentziehende Massnahme, und bei den Personen, die aus einem der in
Art. 397a Abs. 1 ZGB
genannten Grund fürsorgebedürftig sind, dürfte die Beeinträchtigung der Fähigkeit, sich im Verfahren vor dem Richter wirksam gegen die Freiheitsentziehung zu wehren, wohl die Regel sein. Dennoch hat der Gesetzgeber davon abgesehen, die Verbeiständung für das Verfahren der fürsorgerischen Freiheitsentziehung obligatorisch zu erklären. Der Bundesrat hat dies in der Botschaft damit begründet, der Schwerpunkt des Versorgungsverfahrens liege auf dem Offizialprinzip, so dass besondere Rechtskenntnisse auf Seiten des zu Versorgenden nicht nötig seien. Es wäre wenig befriedigend, wenn die Einweisungsinstanz, die im Rahmen ihrer Zuständigkeit pflichtgemäss eine fürsorgerische Freiheitsentziehung anzuordnen habe, sich selber jedesmal einen "Gegenanwalt" ernennen müsste. Ob der Betroffene einem von der Einweisungsinstanz ernannten Beistand vertrauen würde, wäre ohnehin fraglich. Ihm sei genügender Rechtsschutz gewährleistet, wenn er über die ihm zur Verführung stehenden Rechtsmittel unterrichtet werde, jede ihm nahestehende Person die gerichtliche Beurteilung verlangen könne
BGE 107 II 314 S. 317
und jederzeit ein Entlassungsgesuch mit Weiterzugmöglichkeit an den Richter gestellt werden dürfe. Im gerichtlichen Verfahren habe der Richter im Einzelfall abzuwägen, ob die Verhältnisse die Bestellung eines Rechtsbeistandes erforderten (BBl 1977 III S. 40).
Der Hinweis auf die Offizialmaxime vermag freilich nicht voll zu überzeugen. Auch das Strafverfahren wird von der Offizialmaxime beherrscht, und dennoch besteht nach der neueren bundesgerichtlichen Rechtsprechung unter gewissen Voraussetzungen unmittelbar aufgrund von
Art. 4 BV
ein Anspruch auf Beigabe eines amtlichen Verteidigers (
BGE 103 Ia 5
/6 E. 2,
BGE 102 Ia 88
ff.,
BGE 101 Ia 91
/92 E. 3e,
BGE 100 Ia 187
; entgegen
BGE 63 I 211
/212). Gleich verhält es sich, wenn ein Zivilprozess im Offizialverfahren durchgeführt wird; auch dann ist die Beigabe eines Offizialanwalts nicht zum vornherein ausgeschlossen (
BGE 104 Ia 72
ff.). Die Bundesversammlung ist jedoch der Betrachtungsweise des Bundesrats gefolgt. Anlässlich der parlamentarischen Beratung stellte Nationalrat Braunschweig nämlich den Antrag, die Worte "wenn nötig" in
Art. 397f Abs. 2 ZGB
zu streichen, was zur Folge gehabt hätte, dass dem Betroffenen im Verfahren vor Gericht in jedem Fall ein Rechtsbeistand hätte bestellt werden müssen. Der Antrag wurde indessen abgelehnt (Amtl. Bull. 1978 N S. 765-768). Damit steht fest, dass der Gesetzgeber die Gewährleistung des Rechtsschutzes des Betroffenen bei der fürsorgerischen Freiheitsentziehung in erster Linie im Verfahren selbst erblickte und dass er eine obligatorische Verbeiständung trotz der Schwere des Eingriffs und der häufig vorhandenen geistigen Schwäche des Betroffenen bewusst nicht vorsah. Daraus folgt umgekehrt, dass der Hinweis auf den Geisteszustand des zu Versorgenden noch nicht genügt, um eine amtliche Verbeiständung zu rechtfertigen, sondern dass es dazu noch weiterer Gründe bedarf. Würde man anders entscheiden, so müsste gerade in den schwersten Fällen psychischer Erkrankung, wenn die Notwendigkeit einer Versorgung ausser jedem Zweifel steht, jedesmal ein Rechtsbeistand bestellt werden, was auf eine blosse Formalität hinausliefe und nicht der Sinn des Gesetzes sein kann.
3.
Im vorliegenden Fall hat die Vorinstanz kein Bundesrecht verletzt, wenn sie von der Bestellung eines Rechtsbeistandes abgesehen hat. Dass im gerichtlichen Verfahren besondere Schwierigkeiten in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht bestanden hätten, behauptet der Berufungskläger selbst nicht. Er bestreitet auch nicht, dass er in der Lage war, in der Verhandlung vor der
BGE 107 II 314 S. 318
Rekurskommission seinen Standpunkt zur Geltung zu bringen. Die Rekurskommission hat von einer versuchsweisen Entlassung des Berufungsklägers nur deswegen abgesehen, weil dieser einzig nach Hause entlassen werden will, dort aber die weiterhin erforderliche Fürsorge nicht erfahren könnte, weil seine Verwandten selbst betreuungsbedürftig sind. Diese Problematik war auch für den Berufungskläger durchaus verständlich. Was ein Rechtsbeistand daran hätte ändern und welche Argumente er hätte vorbringen können, sagt der Berufungskläger nicht. Die Bestimmungen des bernischen Strafverfahrens, auf welche er verweist und die in gewissen Fällen die Offizialverteidigung vorschreiben (vgl. hierzu
BGE 106 Ia 179
ff.), sind auf das Verfahren der fürsorgerischen Freiheitsentziehung nicht anwendbar. Auch die erwähnte bundesgerichtliche Rechtsprechung zu
Art. 4 BV
, wonach im Strafverfahren unter Umständen ein Anspruch auf Beigabe eines amtlichen Verteidigers besteht, kann nicht direkt herangezogen werden. Im übrigen bestehen zwischen dem Strafverfahren und dem Verfahren der fürsorgerischen Freiheitsentziehung wesentliche Unterschiede. Einmal steht im Strafprozess dem Angeklagten als Laien in der Regel ein juristisch gebildeter Anklagevertreter gegenüber, was einen Grund für die Bestellung eines Offizialverteidigers darstellen kann (vgl.
BGE 106 Ia 183
,
BGE 103 Ia 5
). Zum andern ist die strafrechtliche Freiheitsentziehung für die vom Richter angeordnete Dauer unter Vorbehalt der bedingten Entlassung grundsätzlich definitiv, während bei der fürsorgerischen Freiheitsentziehung jederzeit ein Entlassungsgesuch gestellt und bei dessen Abweisung der Richter angerufen werden kann. Die Vorinstanz hat im vorliegenden Fall das Entlassungsgesuch des Berufungsklägers denn auch ausdrücklich nur "zur Zeit" abgewiesen, wobei sie der Direktion der Anstalt empfahl, in Zusammenarbeit mit den Sozialdiensten und den vormundschaftlichen Behörden eine längerdauernde Bewährungsmöglichkeit ausserhalb der Klinik zu organisieren. Sollte sich der Berufungskläger dazu bereit finden, sich an einem Ort unterbringen zu lassen, wo die persönliche Betreuung und die Weiterführung der nach wie vor erforderlichen medikamentösen Behandlung gewährleistet ist, so dürfte einer - eventuell probeweisen - Entlassung nichts entgegenstehen.
Die Verweigerung der Beiordnung eines amtlichen Anwaltes hatte für den Berufskläger somit keine konkrete Benachteiligung zur Folge und war daher zu verantworten, weshalb die Berufung abzuweisen ist.