Urteilskopf
108 V 180
39. Auszug aus dem Urteil vom 9. Dezember 1982 i.S. Ausgleichskasse des Kantons Bern gegen Rufer und Versicherungsgericht des Kantons Bern
Regeste
Art. 39 AHVV
.
Da der paritätische Sozialversicherungsbeitrag aus zwei voneinander zu unterscheidenden, im Prinzip selbständigen Teilen - dem Arbeitgeberbeitrag einerseits und dem Arbeitnehmerbeitrag andererseits - besteht, sind die Voraussetzungen des Vertrauensschutzes für jeden dieser beiden Teile gesondert zu prüfen (Präzisierung der Rechtsprechung: vgl.
BGE 106 V 139
).
A.-
Emil Rufer beschäftigte den am 18. Juli 1960 geborenen Hansrudolf Sahli vom 1. Mai bis Ende Oktober 1978 als Hilfskraft in seinem Landwirtschaftsbetrieb. Die paritätischen Sozialversicherungsbeiträge entrichtete Emil Rufer auf den ab 1. August 1978 gewährten Lohnzahlungen, weil ihm der Leiter der Gemeindeausgleichskasse mitgeteilt hatte, er sei für seinen Arbeitnehmer erst ab dessen zurückgelegtem 18. Altersjahr beitragspflichtig. Mit Veranlagungsverfügung vom 28. April 1980 verlangte die Ausgleichskasse des Kantons Bern von Emil Rufer die Nachzahlung der paritätischen AHV/IV/EO/AlV-Beiträge, berechnet auf dem vom 1. Mai bis 31. Juli 1978 an Sahli ausbezahlten Lohn von Fr. 4'510.--.
B.-
Beschwerdeweise machte Emil Rufer geltend, er habe die Abrechnung für die fragliche Zeit im Vertrauen auf die rechtsirrtümliche Auskunft des Leiters der Gemeindeausgleichskasse unterlassen; auch sei es ihm wegen unbekannter Adresse seiner ehemaligen
BGE 108 V 180 S. 181
Hilfskraft nicht mehr möglich, den Arbeitnehmerbeitrag einzutreiben.
Die Ausgleichskasse führte in ihrer Vernehmlassung aus, Emil Rufer könne sich bezüglich der Arbeitnehmerbeiträge auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen, weil die Voraussetzungen dafür erfüllt seien; hinsichtlich der Arbeitgeberbeiträge seien aber nicht alle fünf Voraussetzungen gegeben. Er sei daher zur Bezahlung der entsprechenden Arbeitgeberbeiträge zu verpflichten.
Das Versicherungsgericht des Kantons Bern hiess die Beschwerde gut und hob die angefochtene Verfügung vollumfänglich auf mit der Begründung, der Vertrauensgrundsatz sei gemäss der Praxis des Eidg. Versicherungsgerichts uneingeschränkt anzuwenden.
C.-
Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Ausgleichskasse die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides; der Beschwerdegegner sei zu verhalten, den nach den einschlägigen bundesrechtlichen Vorschriften geschuldeten Arbeitgeberbeitrag auf einem Lohn von Fr. 4'510.-- zu entrichten.
Während Emil Rufer auf eine Vernehmlassung verzichtet, beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Aus den Erwägungen:
3.
Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Beschwerdegegner den versicherten Sahli entlöhnte und dass er deshalb grundsätzlich verpflichtet ist, auf der für die Zeit vom 1. Mai bis 31. Juli 1978 ausbezahlten Lohnsumme von Fr. 4'510.-- die paritätischen Sozialversicherungsbeiträge nebst Verwaltungskosten zu entrichten. Streitig ist einzig, ob und allenfalls in welchem Ausmass die paritätischen Beiträge vom Beschwerdegegner nachgefordert werden können.
Der Beschwerdegegner macht geltend, die fraglichen Beiträge nicht zu schulden, da er vom Leiter der Gemeindeausgleichskasse die Auskunft erhalten habe, dass die Beitragspflicht erst ab 1. August 1978 bestehe, und weil er im Vertrauen darauf dem Arbeitnehmer den entsprechenden Beitrag nicht vom Lohn abgezogen habe.
Damit beruft sich der Beschwerdegegner auf den Grundsatz von Treu und Glauben, der den Bürger in seinem berechtigten Vertrauen
BGE 108 V 180 S. 182
auf behördliches Verhalten schützt. Er bedeutet unter anderem, dass falsche Auskünfte von Verwaltungsbehörden unter bestimmten Voraussetzungen eine vom materiellen Recht abweichende Behandlung des Rechtsuchenden gebieten. Gemäss Rechtsprechung und Doktrin ist eine falsche Auskunft bindend,
1. wenn die Behörde in einer konkreten Situation mit Bezug auf bestimmte Personen gehandelt hat,
2. wenn sie für die Erteilung der betreffenden Auskunft zuständig war oder wenn der Bürger die Behörde aus zureichenden Gründen als zuständig betrachten durfte,
3. wenn der Bürger die Unrichtigkeit der Auskunft nicht ohne weiteres erkennen konnte,
4. wenn er im Vertrauen auf die Richtigkeit der Auskunft Dispositionen getroffen hat, die nicht ohne Nachteil rückgängig gemacht werden können,
5. wenn die gesetzliche Ordnung seit der Auskunfterteilung keine Änderung erfahren hat (
BGE 107 V 160
f.,
BGE 106 V 143
mit Hinweisen).
In
BGE 106 V 143
Erw. 3 hat das Eidg. Versicherungsgericht bestätigt, dass dieser Vertrauensschutz auch auf dem Gebiete der Nachforderung von Beiträgen gelte. In diesem Urteil änderte es aber die bis anhin geübte Praxis ab, indem es die Einschränkung fallen liess, es müssten zusätzlich noch ganz besondere Umstände vorliegen, und entschied, dass der Vertrauensgrundsatz nach Massgabe der fünf Voraussetzungen im Bereich der
Art. 39 und 40 AHVV
uneingeschränkt Anwendung finde, und zwar auch bei paritätischen Sozialversicherungsbeiträgen.
4.
a) Die Vorinstanz vertritt die Auffassung, der Beschwerdegegner schulde die paritätischen Beiträge für die fragliche Zeit nicht. Sie beruft sich dafür auf die Praxisänderung des Eidg. Versicherungsgerichts im eben zitierten
BGE 106 V 139
und zieht daraus den Schluss, dass der Vertrauensschutz im Gebiete der Nachforderung uneingeschränkt für den vollen Betrag der geschuldeten paritätischen Beiträge gelte, wenn die fünf Voraussetzungen gegeben seien. Es sei daher rechtlich unbeachtlich, ob zum Beispiel bei einer Offertstellung neben dem Arbeitnehmerbeitrag auch der Arbeitgeberbeitrag mitkalkuliert worden sei oder nicht.
b) Wie jedoch die Beschwerdeführerin zutreffend ausführt, besteht der paritätische Sozialversicherungsbeitrag gemäss Gesetz aus zwei voneinander zu unterscheidenden, im Prinzip selbständigen Teilen. Dabei handelt es sich einerseits um den Arbeitgeberbeitrag
BGE 108 V 180 S. 183
und andererseits um den Arbeitnehmerbeitrag. Demzufolge ist auch für jeden dieser beiden Teile gesondert zu prüfen, ob die Voraussetzungen des Vertrauensschutzes erstellt sind.
c) Es ist unbestritten und darf aufgrund der Akten ohne weiteres als gegeben angenommen werden, dass die hievor erwähnten fünf Voraussetzungen bezüglich der Arbeitnehmerbeiträge, welche der Beschwerdegegner nicht mehr eintreiben kann, erfüllt sind. Hinsichtlich der Arbeitgeberbeiträge fehlt es jedoch an der vierten Voraussetzung; dies übrigens im Gegensatz zu dem in
BGE 106 V 139
entschiedenen Fall, bei welchem der ganze paritätische Beitrag für die vorgängige Kalkulation und Offertstellung von Bedeutung war. Vorliegendenfalls wird nämlich weder behauptet noch ist auch nur annähernd ersichtlich, was der Beschwerdegegner für nachteilige, nicht wieder rückgängig zu machende Dispositionen bezüglich der vermeintlich nicht geschuldeten Arbeitgeberbeiträge getroffen haben könnte. Vielmehr kann er, wie das Bundesamt für Sozialversicherung zutreffend erwähnt, aus der Verzögerung der Zahlung sogar einen Zinsgewinn für sich buchen. Somit ist der Beschwerdegegner gemäss diesen Ausführungen verpflichtet, die Arbeitgeberbeiträge für die Zeit vom 1. Mai bis 31. Juli 1978 auf der ermittelten Lohnsumme von Fr. 4'510.-- nachzuzahlen.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Bern vom 21. März 1982 und die Veranlagungsverfügung vom 28. April 1980 aufgehoben, und es wird die Sache zum Erlass einer neuen Verfügung im Sinne der Erwägungen an die Ausgleichskasse des Kantons Bern zurückgewiesen.