Urteilskopf
110 Ia 36
5. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 25. Januar 1984 i.S. Rüst gegen Studentenschaft der Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und Regierungsrat des Kantons St. Gallen (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste
Art. 56 BV
, öffentlichrechtliche Körperschaft mit Zwangsmitgliedschaft.
Die Studentenschaft der Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ist als öffentlichrechtliche Körperschaft mit Zwangsmitgliedschaft zu parteipolitischer Neutralität verpflichtet (E. 3a). Weder die Mitgliedschaft noch der Beobachterstatus bei einer politischen Organisation von der Art des Verbandes Schweizerischer Liberaler Studentenorganisationen lassen sich bei einer Würdigung der gegebenen Umstände mit dieser Verpflichtung vereinbaren. Aus dem negativen Effekt der verfassungsmässigen Garantie der Vereinsfreiheit lässt sich der Anspruch darauf ableiten, dass die Organisation, der die Studierenden von Gesetzes wegen und ohne Austrittsmöglichkeit angehören, nicht als eine politische betrachtet wird (E. 3b, 4).
Am 23. Februar 1981 beschloss der Allgemeine Delegierten-Convent der Studentenschaft der Hochschule St. Gallen (ADC), sich beim Verband Schweizerischer Liberaler Studentenorganisationen (SLS) um den Beobachterstatus zu bewerben. Niklaus Rüst, ein an der HSG immatrikulierter Doktorand und Mitglied des ADC, rekurrierte gegen diesen Beschluss. Zur Begründung brachte er vor, die Studentenschaft der HSG sei als Gesamtheit aller Studierenden der Hochschule zu politischer Neutralität verpflichtet und diese werde durch die Zugehörigkeit beim SLS, wenn auch nur als Beobachter, verletzt. Der Rekurs Rüsts wurde von sämtlichen angerufenen Instanzen abgewiesen, zuletzt vom Regierungsrat des Kantons St. Gallen am 10. Mai 1983.
Niklaus Rüst führt gegen den Beschluss des Regierungsrates staatsrechtliche Beschwerde, die das Bundesgericht gutheisst, soweit es darauf eintritt.
Aus den Erwägungen:
3.
In der Sache selbst beruft sich der Beschwerdeführer auf eine Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit, der Vereinsfreiheit sowie des Rechtsgleichheitsgebotes. Die Rüge des Verstosses gegen das Gleichheitsgebot ist nicht in einer Weise erhoben worden, die den Anforderungen an die Begründung einer Beschwerdeschrift gemäss
Art. 90 Abs. 1 lit. b OG
zu genügen vermag. Sollte der Beschwerdeführer damit an
Art. 4 BV
im Sinne des Willkürverbots gedacht haben, so käme dieser Rüge im übrigen keine selbständige Bedeutung zu; sie ginge vielmehr in derjenigen der Verletzung der beiden genannten besonderen verfassungsmässigen Rechte auf (
BGE 107 Ia 65
).
a) Über die Frage, ob die Studentenschaft der HSG zu parteipolitischer Neutralität verpflichtet sei, besteht zwischen dem Regierungsrat und dem Beschwerdeführer keine Meinungsverschiedenheit. Nach Art. 98 des Statuts der HSG (Hochschulstatut) ist die Studentenschaft eine öffentlichrechtliche Teilkörperschaft der Hochschule ohne eigene Rechtspersönlichkeit; nach Art. 99 gehören ihr die immatrikulierten Studenten an. Es handelt sich somit um eine Körperschaft, der beizutreten oder nicht beizutreten dem
BGE 110 Ia 36 S. 38
einzelnen Studenten nicht freisteht; er wird vielmehr mit der Immatrikulation automatisch auch Mitglied der Studentenschaft. In Lehre und Rechtsprechung haben sich für Gebilde dieser Art die Ausdrücke "Zwangskörperschaft" oder "Körperschaft mit Zwangsmitgliedschaft" durchgesetzt (vgl. HANS HUBER, Die Zwangsmitgliedschaft der immatrikulierten Studierenden der Universität Bern in der Gesamtstudentenschaft und das "politische Mandat", in: ZBJV 109/1973, S. 297 ff.; nicht veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts vom 22. September 1976 i.S. Studentische Vereinigung PRO UNI). In Anlehnung an die erwähnte Arbeit von HUBER hat der Regierungsrat ausgeführt, eine öffentlichrechtliche Körperschaft mit Zwangsmitgliedschaft dürfe sich nicht mit einer bestimmten parteipolitischen Linie oder mit einer bestimmten religiösen bzw. philosophischen Weltanschauung identifizieren. Wer durch den Staat gezwungen werde, einer Körperschaft anzugehören, die in Überschreitung ihres Zwecks und ohne seine Zustimmung oder gegen seinen Willen zu politischem Handeln und zu politischen Stellungnahmen aufgrund eines behaupteten "politischen Mandates" übergehe, sei in seinem Grundrecht der Meinungsfreiheit verletzt. Wenn die Gesamtstudentenschaft aus ihrem Funktionsbereich, der sich in der Wahrung studentischer Interessen sowie in Kontakten mit den Universitätsorganen und den übrigen Staatsbehörden erschöpfe, heraustrete, könnten sich die Studierenden zudem auf die in der Bundesverfassung verankerte Vereinsfreiheit berufen. Die Auffassung des Beschwerdeführers deckt sich in diesem Punkt im Ergebnis mit derjenigen des Regierungsrates. Es kann daher offenbleiben, ob sich die Pflicht zur parteipolitischen Neutralität für die Studentenschaft nicht auch aus Art. 2 ihrer Statuten ergäbe, welche Bestimmung zwar den Ausdruck "Neutralität" nicht enthält, jedoch die Aufgaben der Studentenschaft deutlich auf die Wahrung studentischer Interessen beschränkt.
b) Auch die Frage, ob der SLS eine politische Organisation sei und ob deshalb eine Mitgliedschaft der Gesamtstudentenschaft einer Hochschule bei dieser Organisation ausgeschlossen sei, bedarf keiner einlässlichen Erörterung. Gemäss Art. 2 lit. a seiner Statuten ist zwar der SLS ein parteipolitisch und konfessionell unabhängiger Dachverband studentischer Organisationen der Schweiz, die dem demokratischen und liberalen Gedankengut verpflichtet sind; gemäss Art. 2 lit. e lehnt er jeden politischen Extremismus ab und befürwortet eine pluralistische Vertretung der
BGE 110 Ia 36 S. 39
Studenten. Indessen hat es der Regierungsrat zu Recht abgelehnt, einzig auf die Statuten abzustellen. Er hat zusätzlich eine als "Selbstdarstellung" bezeichnete offizielle Broschüre beigezogen, die deutlich zeigt, dass der SLS ein Gegengewicht zu sogenannten linken Studentenorganisationen darstellen will. Im Ingress bezeichnet sich dieser als bürgerlich-gemässigter Dachverband lokaler Studentenorganisationen, und im weiteren Text bekennt er sich zur sozialen Marktwirtschaft und zu einem liberalen Gesellschaftssystem, wobei er diese Darlegungen selbst als politische Standortbestimmung verstanden wissen will. Der Regierungsrat hat zutreffend festgestellt, gestützt hierauf könne der SLS nicht als parteipolitisch völlig neutrale Vereinigung bezeichnet werden, die ausschliesslich studentische Interessen verfolge. Somit steht fest, dass die Studentenschaft der HSG als Ganzes wegen ihrer Eigenschaft als Zwangskörperschaft des öffentlichen Rechtes einer politischen Organisation von der Art des SLS nicht als Mitglied beitreten dürfte.
4.
Zu erörtern bleibt die allein noch streitige Frage, ob eine Verbindung der Studentenschaft der HSG mit dem SLS als gleichwohl mit der Neutralität vereinbar betrachtet werden kann, weil sie sich auf den Beobachterstatus beschränkt. Da diese Frage weder von der Auslegung kantonalen Rechts abhängt, noch eine Würdigung besonderer örtlicher Verhältnisse zur Diskussion steht, kommt dem Bundesgericht bei der Prüfung, ob der angefochtene Entscheid mit den verfassungsmässig garantierten Rechten der Meinungsäusserungs- und der Vereinsfreiheit vereinbar sei, freie Kognitionsbefugnis zu (
BGE 107 Ia 294
,
BGE 105 Ia 94
).
a) Der Regierungsrat hat die Frage, ob der Beobachterstatus der Studentenschaft der HSG mit der Pflicht zu politischer Neutralität vereinbar sei, bejaht. Er hat dazu ausgeführt, nach den Statuten des SLS hätten die Beobachter ausser der beratenden Stimme an der Delegiertenversammlung und der Mitarbeit in den Kommissionen keine Rechte und Pflichten. Es bestünden somit zwar gewisse Einflussmöglichkeiten der Beobachter, doch seien diese nicht von so grosser Intensität, dass angenommen werden müsse, die Studentenschaft identifiziere sich mit den Zielen des SLS und verliere ihre Unabhängigkeit. Vielmehr sei davon auszugehen, dass die Beobachterstellung beim SLS der besseren Information der gesamten Studentenschaft der HSG diene. Dem hält der Beschwerdeführer im wesentlichen entgegen, die Beobachter seien mindestens gehalten, sich zum Vereinszweck zu bekennen und diesen
BGE 110 Ia 36 S. 40
passiv zu fördern. Die zur Sitzung des ADC eingeladenen Vorstandsmitglieder des SLS hätten denn auch erklärt, Beobachter seien Mitglieder mit allen Rechten und Pflichten, ausgenommen das Stimmrecht. Die Teilnahme an der Delegiertenversammlung und vor allem auch die Mitwirkung in Kommissionen bedeute materiell eine Verpflichtung auf den Vereinszweck; sie dürfe jedenfalls nicht zur Obstruktion benützt werden. Aus diesen Gründen lasse sich auch der Beobachterstatus der Studentenschaft mit der politischen Neutralität nicht vereinbaren.
b) Die Statuten des SLS widmen den Beobachtern einen einzigen Artikel, der wie folgt lautet:
"Art. 5.
Einzelpersonen und Organisationen kann auf Antrag der Beobachterstatus eingeräumt werden. Ausser der beratenden Stimme an der Delegiertenversammlung und der Mitarbeit in den Kommissionen haben sie keine weiteren Rechte und Pflichten."
Diese Bestimmung ist, für sich allein gelesen, nicht sehr aufschlussreich. Zu ihrer Auslegung sind daher auch die Erklärungen heranzuziehen, die von zwei Vertretern des SLS anlässlich der Sitzung des ADC vom 23. Februar 1981 im Hinblick auf den Anschluss der Studentenschaft der HSG abgegeben worden sind. Sie lauteten dahin, dass der Beobachterstatus gleiche Rechte und Pflichten wie die Vollmitgliedschaft beinhalte, mit Ausnahme des Stimmrechtes. An den Ratssitzungen nähmen zwei Delegierte je Vollmitglied und ein Delegierter je Mitglied mit Beobachterstatus teil. Zu den finanziellen Pflichten gehöre ein Jahresbeitrag von Fr. 500.-, der aber vom SLS seit vier Jahren nicht mehr eingezogen worden sei; auf Antrag könne die Zahlungspflicht auch sistiert werden. In seiner schriftlichen Stellungnahme im Verfahren vor dem Regierungsrat schwächte der Vorstand des SLS diese Ausführungen etwas ab und betonte in stärkerem Masse die zwischen Mitgliedschaft und Beobachterstatus bestehenden Unterschiede. Er stellte fest, die Beobachter hätten weder Stimmrecht an der Delegiertenversammlung, noch bezahlten sie Mitgliederbeiträge, so dass ihnen die wesentlichsten Merkmale der Vereinsmitgliedschaft fehlten.
Würdigt man die dargelegten Umstände, so drängt sich der Schluss auf, der Regierungsrat habe die Elemente, die den Status des Beobachters von jenem eines Mitgliedes unterscheiden, etwas überbewertet. Unbestritten ist, dass den Beobachtern an der Delegiertenversammlung wohl beratende Stimme, jedoch kein Stimmrecht
BGE 110 Ia 36 S. 41
zusteht. Wenn es aufgrund von Art. 24 der Statuten des SLS auch richtig zu sein scheint, dass die Beobachter keine Mitgliederbeiträge schulden, so kann dies doch kaum als Unterscheidungskriterium herangezogen werden, solange die Vollmitglieder ebenfalls keine Beiträge zu entrichten haben und der Verein seine Aufwendungen offenbar aus Spenden zu decken in der Lage ist (vgl. Art. 23 der Statuten). Zu Unrecht ausser Betracht gelassen hat der Regierungsrat die Berichte verfassenden Kommissionen, in denen den Angehörigen von Organisationen mit Beobachterstatus volle Mitgliedschaft zusteht (Art. 21 der Statuten). Da der Detailarbeit der Kommissionen im SLS wie in den meisten nach dem Muster der parlamentarischen Demokratie organisierten Verbänden eine wesentliche Bedeutung zukommt, darf dieser Punkt nicht unberücksichtigt bleiben. Auch wird man dem Beschwerdeführer beipflichten müssen, wenn er ausführt, ohne eine gewisse Solidarität mit den Zielen des SLS, zu denen auch die politischen gehören, sei eine Mitarbeit in den Kommissionen kaum denkbar. Demgegenüber tritt das vom Regierungsrat betonte Element der Informationsbeschaffung in den Hintergrund. Zwar ist es richtig, dass die Delegierten der Beobachter-Organisation die Organe der Gesamtstudentenschaft über die Tätigkeit des SLS informieren können; doch hätte für diese reine Information auch die Abonnierung der periodischen Veröffentlichungen des SLS ausgereicht. Vor allem aber müsste dann, wenn es einer zu politischer Neutralität verpflichteten Organisation allein um die Befriedigung des legitimen Informationsbedürfnisses ihrer Mitglieder ginge, eine gewisse Parität gewahrt werden. Die Organe der Studentenschaft der HSG hätten sich bei dieser Sachlage gleichzeitig und mit vergleichbarer Intensität um die Beschaffung von Informationen über Studentenvereinigungen anderer politischer Färbung bemühen müssen. Dafür, dass dies geschehen ist oder auch nur beabsichtigt wäre, fehlt in den Akten jeder Anhaltspunkt. Dem Schluss des Regierungsrates, wonach der Erwerb des Beobachterstatus beim SLS im wesentlichen der besseren Information der Studentenschaft diene und daher mit deren Zweckbestimmung und mit der Verpflichtung zur Neutralität vereinbar sei, kann demnach nicht beigepflichtet werden.
c) Hinzu kommt weiteres. Die Frage, welche Bedeutung dem Beobachterstatus der Studentenschaft der HSG beim SLS im Hinblick auf ihre Pflicht zur politischen Neutralität zukomme, ist nicht nur nach der Natur der internen Beziehungen zwischen den beiden
BGE 110 Ia 36 S. 42
Organisationen zu beurteilen. Zu berücksichtigen ist vielmehr auch die Wirkung, welche diese Beziehungen bei Aussenstehenden erzeugen können. Hier wird die Tatsache einer bestehenden Verbindung als solche einen nachhaltigeren Eindruck hervorrufen als der Unterschied zwischen dem Status eines Beobachters und jenem eines Vollmitglieds. Wer der Hochschule nicht angehört, aber weiss, dass deren Studentenschaft beim SLS in irgendeiner Form mitwirkt, wird geneigt sein, daraus den Schluss zu ziehen, die St. Galler Studenten verfolgten auch selbst einen politischen Kurs "rechts der Mitte". Studierende wie der Beschwerdeführer, die diese politische Auffassung nicht teilen, haben aber Anspruch darauf, dass die Organisation, der sie von Gesetzes wegen und ohne Austrittsmöglichkeit angehören, nicht als eine politische betrachtet wird. Dies lässt sich zwingend aus der verfassungsmässigen Garantie der Vereinsfreiheit ableiten, der nebst dem geläufigen positiven auch ein gewichtiger negativer Effekt zukommt. Die Vereinsfreiheit umfasst nicht nur das Recht, nach freiem Willen einen Verein gründen oder einem solchen angehören zu dürfen, sondern verbürgt auch den Anspruch, nicht gegen den eigenen Willen einem solchen angehören zu müssen (J.-F. AUBERT, Traité de droit constitutionnel suisse, Band II, S. 746, und Supplément, 1967-1982, S. 267; YVO HANGARTNER, Grundzüge des schweizerischen Staatsrechts, Band II, S. 122; HANS HUBER, a.a.O., S. 318). Dies muss sinngemäss auch für die im ZGB nicht geregelte Form des Erwerbs des Beobachterstatus gelten, jedenfalls dann, wenn die Rechte der Beobachter über das blosse Zuhören hinausgehen, wie dies hier zutrifft. Eine weniger strenge Auslegung könnte dazu führen, dass ein Mitglied der betreffenden Studentenschaft als Sympathisant einer seinen persönlichen Anschauungen entgegenlaufenden politischen Richtung betrachtet würde. Der Beobachterstatus der Gesamtstudentenschaft der HSG beim SLS lässt sich daher mit der durch
Art. 56 BV
gewährleisteten Vereinsfreiheit nicht vereinbaren, was zur Aufhebung des regierungsrätlichen Beschlusses führen muss. Wie es sich mit der Meinungsäusserungsfreiheit verhält, braucht unter diesen Umständen nicht geprüft zu werden.