BGE 111 IA 276 vom 17. Oktober 1985

Datum: 17. Oktober 1985

Artikelreferenzen:  Art. 4 BV , Art. 87 OG

BGE referenzen:  106 IA 82, 110 IA 27, 114 V 228, 121 I 321, 122 I 5, 123 I 275, 126 I 207 , 110 IA 27, 99 IA 439, 100 IA 20, 107 IA 8, 106 IA 82, 104 IA 73, 104 IA 77, 106 IA 82, 104 IA 73, 104 IA 77

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

111 Ia 276


49. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 17. Oktober 1985 i.S. X. gegen Regierungsrat und Verwaltungsgericht des Kantons Basel-Landschaft (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

Unentgeltliche Rechtspflege. Anspruch auf Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes im Verwaltungsgerichtsverfahren.
1. Der Entscheid über die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege bzw. die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes ist ein Zwischenentscheid (E. 2).
2. Auch im Verwaltungsgerichtsverfahren ergibt sich für die bedürftige Partei unmittelbar aus Art. 4 BV unter bestimmten Voraussetzungen ein Anspruch auf Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes (E. 3).

Sachverhalt ab Seite 276

BGE 111 Ia 276 S. 276
X. gelangte mit einem Gesuch um Gewährung einer Restdefizitgarantie zur Deckung der Kinderheim-Unterbringungskosten für sein behindertes Kind an die Erziehungs- und Kulturdirektion
BGE 111 Ia 276 S. 277
des Kantons Basel-Landschaft. Das Gesuch wurde abgewiesen, ebenso eine gegen diesen Entscheid gerichtete Beschwerde an den Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft.
X. zog den regierungsrätlichen Entscheid an das Verwaltungsgericht weiter. In der Begründung seiner Beschwerde ersuchte er das Gericht um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung. Das Gesuch wurde durch gerichtliche Verfügung vom 9. Juli 1984 abgewiesen. Mit Urteil vom 6. März 1985 wies das Verwaltungsgericht die Beschwerde von X. auch in der Sache ab; das Gericht erhob keine Kosten, kam aber nicht auf die Frage der unentgeltlichen Verbeiständung zurück.
Mit rechtzeitiger staatsrechtlicher Beschwerde vom 17. Mai 1985 beantragt X., der Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 9. Juli 1984 betreffend Abweisung des Gesuchs um unentgeltliche Prozessverbeiständung sei aufzuheben; für das staatsrechtliche Beschwerdeverfahren sei die unentgeltliche Prozessführung und die unentgeltliche Prozessvertretung zu bewilligen.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Basel-Landschaft hat auf eine Vernehmlassung verzichtet; der Regierungsrat beantragt unter Hinweis auf den Bundesgerichtsentscheid vom 8. März 1985 i.S. G.R., die staatsrechtliche Beschwerde gutzuheissen und den angefochtenen Entscheid betreffend unentgeltlichen Rechtsbeistand aufzuheben. Das Verwaltungsgericht werde dann zu prüfen haben, ob die Voraussetzungen für die Übernahme des Armenanwaltshonorars durch die Gerichtskasse erfüllt seien.
Das Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde gut.

Erwägungen

Auszug aus den Erwägungen:

2. Die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV ist erst gegen letztinstanzliche Endentscheide zulässig, gegen letztinstanzliche Zwischenentscheide nur, wenn sie für den Betroffenen einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil zur Folge haben ( Art. 87 OG ).
a) Auf staatsrechtliche Beschwerden gegen selbständige Gerichtsbeschlüsse, welche die unentgeltliche Rechtspflege bzw. die Gewährung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes verweigern, wird nach ständiger Praxis regelmässig eingetreten; das Bundesgericht lässt dabei meist offen, ob solche Gerichtsbeschlüsse Endentscheide sind oder Zwischenentscheide, die einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil zur Folge haben. Im vorliegenden Fall, in
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dem die Beschwerde nicht bereits im Anschluss an die den unentgeltlichen Beistand verweigernde Verfügung vom 9. Juli 1984, sondern erst gegen den Endentscheid in der Sache selbst vom 6. März 1985 erhoben wurde, muss die Frage entschieden werden. War die Verfügung vom 9. Juli 1984 ein Endentscheid, so ist die staatsrechtliche Beschwerde verspätet; sie wurde hingegen rechtzeitig eingereicht, wenn die betreffende Verfügung nur als Zwischenentscheid zu gelten hat. In diesem Fall kann die staatsrechtlichen Beschwerde sinnvollerweise auch noch im Anschluss an den materiellen Endentscheid erhoben werden; ein irreversibler Nachteil trat nicht ein, da die Anwaltskosten immer noch durch die Gerichtskasse übernommen werden können. Der nachträglichen Gewährung einer vorher zu Unrecht verweigerten Rechtswohltat steht nichts im Wege; denn es kann umgekehrt eine zu Unrecht erteilte unentgeltliche Rechtspflege auch später noch rückwirkend entzogen werden (HEINRICH HEUBERGER, Das Armenrecht der Aargauischen Zivilprozessordnung, Aarau 1947, S. 91 ff.; KURT MEYER, Das zivilprozessuale Armenrecht im Kanton Zug, Baar 1953, S. 170 ff.).
b) Ob die vorgängige Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege ein Zwischenentscheid sei oder nicht, wurde in BGE 99 Ia 439 ausdrücklich offengelassen, doch scheint das Gericht eher zur Ansicht geneigt zu haben, es handle sich um einen Endentscheid. Nach neuerer Praxis gelten auch Entscheide über vorsorgliche Massnahmen als Endentscheide ( BGE 100 Ia 20 E. 1 mit Hinweisen). Es ist Begriffsmerkmal der Zwischenentscheide, dass sie das Verfahren nicht abschliessen, sondern bloss einen Schritt auf dem Weg zum Endentscheid darstellen (gleichgültig ob in einer Verfahrens- oder einer materiellen Frage). Der Entscheid betreffend unentgeltliche Rechtspflege bzw. unentgeltliche Verbeiständung bringt aber, anders als etwa eine Beweisanordnung, das Verfahren nicht eigentlich seinem Ziel näher, sondern scheint eher eine selbständige verfahrensrechtliche Nebenfrage zu beantworten; begrifflich wäre daher die Qualifizierung als Endentscheid nicht ausgeschlossen. Auf der andern Seite hat das Bundesgericht die Verpflichtung zur Leistung eines Prozesskostenvorschusses als Zwischenentscheid qualifiziert ( BGE 77 I 46 E. 2). Die Freistellung von diesem Vorschuss beseitigt eine Prozesserschwernis und bringt dadurch in einem sehr allgemeinen Sinn das Verfahren vorwärts. Entsprechendes gilt für unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. Da Zwischenentscheide, die einen irreversiblen
BGE 111 Ia 276 S. 279
Nachteil bewirken, anfechtbar sind, besteht keine praktische Notwendigkeit, die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung als Endentscheid einzustufen; dies rechtfertigt sich um so weniger, als das eidg. Verwaltungsverfahrensgesetz (SR 172.021; Art. 45 Abs. 2 lit. h) die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege ausdrücklich zu den Zwischenentscheiden zählt (vgl. auch P. LUDWIG, Endentscheid, Zwischenentscheid und Letztinstanzlichkeit im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren, ZBJV 1974, 161 ff., bes. 176). Es ist vielmehr angezeigt, Beschlüsse betreffend Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege oder Verbeiständung als Zwischenentscheide zu betrachten. Sind sie mit einem nicht behebbaren Nachteil verbunden, weil z. B. dem Gericht oder dem Anwalt innert kurzer Frist ein Kostenvorschuss geleistet werden müsste, so unterliegt der diesbezügliche Entscheid der letzten kantonalen Instanz direkt der staatsrechtlichen Beschwerde. Bleibt ein solcher Nachteil aus, verbleibt die Beschwerde gegen den letztinstanzlichen kantonalen Sachentscheid.
Demnach ist die vorliegende staatsrechtliche Beschwerde zulässigerweise im Anschluss an den Sachentscheid erhoben worden, dessen Dispositiv die Verweigerung der unentgeltlichen Verbeiständung nicht widerrief, sondern stillschweigend bestätigte. Auf die Beschwerde ist daher einzutreten.

3. a) Aus Art. 4 BV wurden Verfahrensgarantien (Anspruch auf rechtliches Gehör, auf unentgeltliche Rechtspflege usw.) früher nur für Zivil- und Strafprozesse abgeleitet, dagegen nicht oder nur in beschränktem Mass für Verwaltungsverfahren. Die Rechtsprechung hat diese Differenzierung schrittweise überwunden und das Verwaltungsstreitverfahren mehr und mehr den Zivil- und Strafprozessen gleichgestellt, nicht nur bezüglich des rechtlichen Gehörs, sondern auch hinsichtlich der unentgeltlichen Rechtspflege. BGE 107 Ia 8 anerkannte im Licht von Art. 4 BV einen Anspruch auf einen unentgeltlichen Rechtsbeistand für ein Administrativverfahren vor einer Kantonsregierung in einer Vormundschaftssache. Im BGE vom 8. März 1985 i.S. G.R. erklärte das Bundesgericht, auch in einem von der Offizialmaxime beherrschten Verwaltungsgerichtsverfahren bestehe - unter bestimmten Voraussetzungen - ein Anspruch der bedürftigen Partei auf einen unentgeltlichen Rechtsbeistand aufgrund der unmittelbar aus Art. 4 BV fliessenden Verfahrensgarantien (publiziert in ZBl 86 (1985) S. 412 ff. und EuGRZ 1985 S. 485 ff.).
BGE 111 Ia 276 S. 280
Der Anspruch hängt von folgenden Voraussetzungen ab: Die gesuchstellende Partei muss bedürftig sein ( BGE 110 Ia 27 E. 2) mit Hinweisen; betr. die wirtschaftlichen Verhältnisse vgl. BGE 106 Ia 82 ; die angestrebte Prozesshandlung darf nicht materiell aussichtslos ( BGE 110 Ia 27 E. 2) oder prozessual unzulässig sein ( BGE 104 Ia 73 E. 1); der Entscheid muss für die gesuchstellende Partei eine erhebliche Tragweite haben; die gesuchstellende Partei darf nicht selber rechtskundig sein; schliesslich müssen sich im Prozess unausweichliche Fragen stellen, die sich nicht leicht beantworten lassen ( BGE 104 Ia 77 E. 3c mit Hinweisen).
b) Die durch den angefochtenen Entscheid stillschweigend bestätigte Verfügung vom 9. Juli 1984 lehnte die Gewährung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes allein mit der Begründung ab, ein entsprechender Anspruch ergebe sich weder nach kantonalem Recht, noch sei ein solcher bisher durch das Bundesgericht aus Art. 4 BV abgeleitet worden, insbesondere nicht für ein von der Offizialmaxime beherrschtes Verfahren. Diese Begründung ist seit dem BGE vom 8. März 1985 i.S. G.R. nicht mehr haltbar. Ob die in jenem Entscheid entwickelten und vorstehend erwähnten Voraussetzungen eines Anspruches auf einen unentgeltlichen Rechtsbeistand erfüllt sind, wurde im angefochtenen Entscheid nicht geprüft. Dieser ist daher aufzuheben.

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