BGE 111 IB 319 vom 11. Oktober 1985

Datum: 11. Oktober 1985

Artikelreferenzen:  Art. 28 IRSG, Art. 50 IRSG , Art. 28 und 50 Abs. 1 IRSG, Art. 50 Abs. 1 IRSG, Art. 28 Abs. 6 IRSG

BGE referenzen:  106 IB 264

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

111 Ib 319


58. Auszug aus dem Urteil der Anklagekammer vom 11. Oktober 1985 i.S. K. gegen Bundesamt für Polizeiwesen

Regeste

Art. 16 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens (SR 0.353.1), Art. 28 und 50 Abs. 1 IRSG ; vorläufige Auslieferungshaft.
1. Formelle Anforderungen, denen ein Ersuchen um vorläufige Verhaftung genügen muss. Frist, innert der allfällige Verbesserungen und Ergänzungen des Ersuchens nachzureichen sind (E. 3).
2. Fall einer unzureichenden Umschreibung der Tat (E. 4).

Sachverhalt ab Seite 319

BGE 111 Ib 319 S. 319
Gestützt auf einen wegen internationalen Heroinhandels am 12. September 1985 von der Staatsanwaltschaft Turin gegen K. erlassenen Haftbefehl und ein von Interpol Rom am 13. September 1985 per Fernschreiber gestelltes Gesuch um Inhaftnahme zwecks Auslieferung ordnete das Bundesamt für Polizeiwesen (BAP) am 16. September 1985 die Verhaftung des vorgenannten türkischen Staatsangehörigen an, welchem der Auslieferungshaftbefehl am 17. September 1985 ausgehändigt wurde.
Mit Eingabe vom 25. September 1985 führt K. gegen den Auslieferungshaftbefehl Beschwerde bei der Anklagekammer des Bundesgerichts mit den Begehren auf Aufhebung des Haftbefehls und unverzügliche Freilassung des Beschwerdeführers.
BGE 111 Ib 319 S. 320

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3. Nach Art. 16 des von der Schweiz und Italien ratifizierten Europäischen Auslieferungsübereinkommens (SR 0.353.1), der die vorläufige Auslieferungshaft regelt, können die zuständigen Behörden des ersuchenden Staates in dringenden Fällen um vorläufige Verhaftung des Verfolgten ersuchen (Ziff. 1). In dem Ersuchen um vorläufige Verhaftung ist anzuführen, dass eine der in Art. 12 Ziff. 2 Buchstabe a erwähnten Urkunden (z.B. die Urschrift oder eine beglaubigte Abschrift eines Haftbefehls) vorhanden ist und die Absicht besteht, ein Auslieferungsersuchen zu stellen; ferner sind darin die strafbare Handlung, deretwegen um Auslieferung ersucht werden wird, Zeit und Ort ihrer Begehung und, soweit möglich, die Beschreibung der gesuchten Person anzugeben (Ziff. 2).
Diese Bestimmung, die die formellen Anforderungen an ein Ersuchen um vorläufige Verhaftung näher regelt als Art. 28 IRSG und deshalb dieser Norm vorgeht, soll einerseits der ersuchten Behörde namentlich die Feststellung ermöglichen, ob Gründe vorliegen, die der Anordnung bzw. der Aufrechterhaltung der Auslieferungshaft offensichtlich entgegenstehen, und andererseits den Betroffenen in die Lage versetzen, sich mit der Beschwerde gegen seine Verhaftung zu wehren. Zu diesem Zweck muss er insbesondere wissen, was ihm an strafbaren Handlungen vorgeworfen wird. Dabei sind allerdings an das Erfordernis der zeitlichen und örtlichen Umschreibung der Tat nicht zu strenge Anforderungen zu stellen, weil Ersuchen um eine vorläufige Verhaftung in aller Regel noch vor Beginn einer ordentlichen und vertieften Untersuchung des Falles gestellt werden und - soll die Massnahme wirksam sein - auch gestellt werden müssen (s. BGE 106 Ib 264 mit Verweisungen). Entsprechend sieht denn auch Art. 28 Abs. 6 IRSG vor, dass die Verbesserung oder Ergänzung eines Ersuchens verlangt werden kann, wenn dieses den formellen Anforderungen nicht genügt und dass die Anordnung vorläufiger Massnahmen dadurch nicht berührt wird. Diese Regelung hat jedoch nicht den Sinn, das mit der Nachreichung ergänzender Angaben unbestimmt lange zugewartet werden dürfte. Vielmehr ist gemäss Art. 16 Ziff. 4 des Übereinkommens und Art. 50 Abs. 1 IRSG die Haft nach 18 Tagen aufzuheben, im Falle einer begründeten Fristverlängerung spätestens aber nach 40 Tagen.

4. Das Fernschreiben von Interpol Rom, das allein mit dem Auslieferungshaftbefehl dem Beschwerdeführer zur Kenntnis gebracht
BGE 111 Ib 319 S. 321
wurde, und das deshalb auch einzig dem Entscheid zugrunde zu legen ist, enthält zur Hauptsache Ausführungen darüber, dass der Beschwerdeführer in der Zeit von Dezember 1984 bis April 1985 einer namentlich in Turin in Erscheinung getretenen Verbrecherorganisation angehört habe, die sich den Handel mit Betäubungsmitteln von der Türkei nach Italien und anderen Ländern, namentlich auch nach der Schweiz zum Ziel gesetzt hatte, und dass die Zugehörigkeit des K. zu jener Organisation, deren Haupt der türkische Clan T. bilde, durch verschiedene namentlich genannte Beschuldigte bestätigt worden sei. Insoweit haben die Ausführungen der italienischen Behörden offensichtlich Bezug auf den im italienischen Strafrecht bestehenden Tatbestand der "kriminellen Vereinigung" (associazione per delinquere; Art. 75 des Gesetzes vom 22. Dezember 1975 Nr. 685), den es jedoch im schweizerischen Strafrecht nicht gibt (BBl 1980 I 1252 ff.), und der deshalb auch nicht als Auslieferungsdelikt in Betracht kommt. Damit kann also das Ersuchen um vorläufige Verhaftung klarerweise nicht begründet werden.
Die italienischen Behörden hätten vielmehr dartun müssen, welcher Delikte der Beschwerdeführer im Rahmen dieser Organisation konkret beschuldigt wird. Insoweit ist dem Fernschreiben von Interpol Rom nur zu entnehmen, dass K. offenbar in der vorgenannten Zeitperiode "beneficiario di notevoli versamenti effettuati da suddetto personaggio che riveste ruolo di primo piano nell'organizzazione facente capo alla famiglia T." gewesen sei. Es ist indessen nicht ersichtlich, wo und wofür K. die offenbar aus dem Drogenhandel erzielten Gelder erhalten hat, ob dies in Italien oder in der Schweiz der Fall war (wo er seinen Wohnsitz hat), ob er das Geld in die Schweiz verbracht hat, damit es hier "gewaschen" würde, oder ob es Entgelt für eine andere Beteiligung am Drogenhandel darstellt und worin diese allfällige Beteiligung bestand. Insoweit sollte jedoch das italienische Ersuchen minimale Angaben enthalten, damit überhaupt festgestellt werden könnte, wo sich der oder die Tatorte befanden, welcher Gerichtsbarkeit die Delikte unterstehen etc. Nur wenn diese Bedingung erfüllt ist, ist es dem Beschwerdeführer möglich, sich angemessen zu verteidigen.
Diesen Anforderungen genügt das italienische Ersuchen nicht. Es bedarf deshalb der Ergänzung, die vom BAP zu beschaffen ist. Dieses hat allerdings mit seiner Vernehmlassung, in welcher es zu den vorstehenden Fragen keine Stellung bezog, das formelle Auslieferungsbegehren der italienischen Botschaft in Bern eingereicht.
BGE 111 Ib 319 S. 322
Damit kann jedoch der genannte Mangel nicht behoben werden, zumal die Anklagekammer auf den Sachverhalt abzustellen hat, wie er sich im Zeitpunkt des angefochtenen Haftbefehls darbot. Genügt das Ersuchen um vorläufige Verhaftung den staatsvertraglichen oder gesetzlichen Anforderungen nicht, muss das BAP die gebotenen Ergänzungen verlangen und anhand dieser prüfen, ob die Aufrechterhaltung der Haft begründet ist, wobei es dem Betroffenen von den neu eingegangenen Unterlagen und seinen daraus gezogenen Schlussfolgerungen Kenntnis zu geben hat. Bis dahin kann unter den Voraussetzungen der Art. 16 Ziff. 4 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens und Art. 50 Abs. 1 IRSG die vorläufige Verhaftung aufrechterhalten werden.

Dispositiv

Demnach erkennt die Anklagekammer:
Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen abgewiesen.

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