BGE 111 II 242 vom 22. Oktober 1985

Datum: 22. Oktober 1985

Artikelreferenzen:  Art. 2 ZGB, Art. 336 OR, Art. 336a OR , Art. 2 Abs. 2 ZGB, Art. 37 Ziff. 1 Abs. 1 StGB, Art. 336 Abs. 1 OR, Art. 336a ff. OR

BGE referenzen:  121 III 60 , 107 II 171, 107 II 170, 105 II 42, 109 II 158, 108 II 192, 107 II 415, 106 II 160, 108 II 192, 107 II 415, 106 II 160

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

111 II 242


50. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 22. Oktober 1985 i.S. X. gegen Y. (Berufung)

Regeste

Art. 2 ZGB ; Art. 336 Abs. 1 OR . Kündigung gegenüber einem vorbestraften Arbeitnehmer; Rechtsmissbrauch?
1. Die Kündigungsfreiheit untersteht grundsätzlich dem Verbot des Rechtsmissbrauchs (E. 2a). Kein Rechtsmissbrauch, wenn von einem Schlafwagenbegleiter nach fünf Jahren klagloser Tätigkeit ein Leumundszeugnis verlangt und ihm wegen einer 12 Jahre zurückliegenden Verurteilung gekündigt wird (E. 2b und c).
2. Art. 37 Ziff. 1 Abs. 1 StGB . Der Resozialisierungsgrundsatz kann keine Reflexwirkungen auf Vertragspflichten zwischen Privatpersonen entfalten (E. 2d).

Sachverhalt ab Seite 242

BGE 111 II 242 S. 242

A.- 1976 stellte die Y. den X. als Schlafwagenbegleiter an. Am 22. Juli 1981 kündigte die Y. den Arbeitsvertrag auf den
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30. September 1981. Sie begründete ihren Schritt damit, sie beschäftige einzig Personal ohne Vorstrafen; bei X. habe sich jedoch nachträglich ergeben, dass er vorbestraft sei.

B.- X. klagte am 12. April 1983 gegen die Y. Er beantragte, die Nichtigkeit der Kündigung festzustellen, ihn wieder als Schlafwagenbegleiter einzusetzen und ihm Ersatz des von der Arbeitslosenversicherung nicht gedeckten Lohnausfalls seit dem 15. Juni 1981 zuzusprechen. Beide kantonalen Instanzen haben die Klage abgewiesen. Das Bundesgericht weist eine gegen das Urteil des Appellationsgerichts vom 11. Januar 1985 eingereichte Berufung ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Zu prüfen bleibt, ob die Vorinstanz Bundesrecht dadurch verletzt hat, dass sie Rechtsmissbrauch verneint und die Gültigkeit der Kündigung bejaht hat.
Das geltende Arbeitsvertragsrecht beruht auf dem Grundsatz der Kündigungsfreiheit. Jeder Vertragspartner kann ein auf unbestimmte Zeit vereinbartes Arbeitsverhältnis kündigen, ohne dafür einen Grund angeben zu müssen. Er muss jedoch die in Art. 336a ff. OR enthaltenen zeitlichen und sachlichen Beschränkungen beachten. Darüber hinaus untersteht die Kündigungsfreiheit dem allgemeinen Verbot des Rechtsmissbrauchs von Art. 2 Abs. 2 ZGB . Das entspricht herrschender Lehre und Rechtsprechung ( BGE 107 II 170 E. 2a mit Zitaten).
a) Art. 2 Abs. 2 ZGB setzt die Bestimmungen des Zivilrechts nicht allgemein für bestimmte Arten von Fällen ausser Kraft, sondern weist den Richter bloss an, besonderen Umständen des einzelnen Falles Rechnung zu tragen ( BGE 105 II 42 E. b mit Hinweis). In Streitigkeiten über die Wirksamkeit einer Kündigung pflegt das Bundesgericht deshalb stets näher zu untersuchen und abzuwägen, ob die Umstände nach der Interessenlage der Parteien auf einen offenbaren Missbrauch dieses Rechts schliessen lassen ( BGE 107 II 171 E. 2c; Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 9. März 1979, publ. in SJ 1981 S. 314 ff. E. 3; vgl. ferner BGE 109 II 158 E. 4, BGE 108 II 192 E. 2, BGE 107 II 415 E. 8, BGE 106 II 160 E. 2c). Es hat dies in den angeführten Entscheiden durchwegs verneint, ebenso in einem weitern nicht veröffentlichten Urteil vom 20. Oktober 1984. Das zeigt, dass für die Anwendung des Art. 2 Abs. 2 ZGB neben gesetzlichen Beschränkungen des Kündigungsrechts
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wenig Raum bleibt. Die Rechtsprechung ist denn auch nicht der Gefahr erlegen, den Grundsatz der Vertragsfreiheit reinen Billigkeitsüberlegungen im Sinn des gerade Angemessenen oder sozial-ethisch Wünschbaren zu opfern, wovor MERZ gewarnt hat (N. 32 und 60 zu Art. 2 ZGB ).
b) Der Kläger macht geltend, die Beklagte habe von ihm erst 1981 und nicht bereits 1976 bei der Anstellung ein Leumundszeugnis verlangt und sie sei mit seiner Arbeit stets zufrieden gewesen. Dass die Beklagte durch ihr Zuwarten bis 1981 stillschweigend auf das Recht verzichtet hätte, ein Leumundszeugnis zu verlangen, wäre nur dann anzunehmen, wenn sie bereits 1976 Anlass gehabt hätte, sich über die Vergangenheit des Klägers zu erkundigen. Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz hat die Beklagte erst 1981 Kenntnis von der Vorstrafe erhalten. Dies erklärt, weshalb sie bis zu diesem Zeitpunkt untätig geblieben ist. Dass sie 1981 sofort handelte, ist unbestritten. Der Kläger kann ihr somit nicht entgegenhalten, sie habe zugewartet und dadurch das Recht auf Erkundigungen eingebüsst. Offen bleibt einzig, was die Beklagte 1981 dazu veranlasste, Erkundigungen einzuholen. Diese Frage braucht jedoch nicht beantwortet zu werden, weil in verbindlicher Weise feststeht, dass einzig die Vorstrafe den Grund für die Kündigung bildete.
c) Der Kläger rügt sodann, dass es die Vorinstanz unterlassen habe, die Interessen der Parteien gegeneinander abzuwägen. Er sei mehr als 50 Jahre alt und ohne Ausbildung, habe folglich ein grosses Interesse an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes. Das Interesse der Beklagten an der Zuverlässigkeit ihres Personals wiege insbesondere deshalb nicht so schwer, weil nach der Feststellung des Appellationsgerichts seine strafrechtliche Verurteilung schon Jahre zurückliege und er während fünf Jahren seine Arbeit als Schlafwagenbegleiter klaglos verrichtet habe.
Dem ist vorweg entgegenzuhalten, dass die Beklagte ohne jede Angabe eines Grundes hätte kündigen dürfen. In diesem Fall wäre der Interessenabwägung ohnehin die Grundlage entzogen gewesen. Wenn ein Arbeitgeber den Grund für seine Kündigung nennt, so räumt Art. 2 Abs. 2 ZGB dem Richter nicht die Befugnis ein, den Entscheid des Arbeitgebers durch eine eigene Interessenabwägung zu ersetzen. Vorbehalten bleibt einzig der Fall offenbaren Rechtsmissbrauchs. Ein solcher liegt hier nicht vor. Der Hinweis auf BGE 107 II 171 E. 2a, wonach die zweckwidrige Verwendung eines Rechtsinstituts den Rechtsmissbrauch kennzeichnet, hilft
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dem Kläger nicht, weil die Vorstrafe dem wahren Kündigungsgrund entsprach und nicht nur einen Vorwand gegenüber einem missliebigen Gewerkschafter abgab. Die Praxis der Beklagten, nur Personen ohne Vorstrafe zu beschäftigen, lässt sich gegenüber Schlafwagenbegleitern mit einer ausgeprägten Vertrauensstellung rechtfertigen. Dazu kommt, dass es sich nicht um eine Vorstrafe für geringfügige Delikte handelte, sondern - wie das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt feststellte - um eine für Vermögensdelikte auffallend hohe Freiheitsstrafe. Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass zum Zeitpunkt der Kündigung die Verurteilung des Klägers schon zwölf Jahre zurücklag und dass er fünf Jahre klaglos bei der Beklagten gearbeitet hat.
d) Der Einwand des Klägers, die Kündigung verunmögliche ihm die Wiedereingliederung in die Gesellschaft und verstosse deshalb gegen einen Grundsatz des Strafvollzugs ( Art. 37 Ziff. 1 Abs. 1 StGB ), ist unbehelflich, da Resozialisierung nur eine staatliche Aufgabe ist, die nicht Reflexwirkungen auf vertragliche Pflichten zwischen Privatpersonen entfalten kann.

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