BGE 112 IA 275 vom 13. November 1986

Datum: 13. November 1986

Artikelreferenzen:  Art. 22ter BV

BGE referenzen:  111 IA 96, 110 IA 33, 106 IA 168, 110 IA 86, 108 IA 184, 105 IB 81, 98 IA 595, 97 I 626, 108 IA 184, 105 IB 81, 98 IA 595, 97 I 626

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

112 Ia 275


43. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 13. November 1986 i.S. Politische Gemeinde Sent gegen X. und Mitbeteiligte und Regierung des Kantons Graubünden (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

Gemeindeautonomie; Aufhebung von Privatgräbern.
1. Rechtsnatur der Privatgräber (E. 4a); Tragweite wohlerworbener Rechte (E. 4b); Voraussetzungen, unter denen solche Rechte beschränkt oder entzogen werden können (E. 5a, b und d).
2. Ist die kantonale Behörde von Gesetzes wegen verpflichtet, den Sachverhalt von Amtes wegen zu ermitteln, so verletzt sie die Gemeindeautonomie, wenn sie eine Bestimmung eines Gemeindereglementes aufhebt, ohne die rechtserheblichen Verhältnisse abzuklären (E. 5c).

Sachverhalt ab Seite 275

BGE 112 Ia 275 S. 275
In der bündnerischen Gemeinde Sent bestand seit dem Jahre 1906 ein Reglement über die Bestattungen (Uorden da sunteri e funerals). Nach diesem Gemeindeerlass wurde zwischen öffentlichen und privaten Gräbern unterschieden. Für die Privatgräber, welche gegen eine Geldleistung von ursprünglich Fr. 100.--, später Fr. 300.--, erworben werden konnten, waren gewisse Teile des Gemeindefriedhofes reserviert.
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Da die Gemeinde Sent zur Auffassung gelangte, die Verhältnisse auf dem Friedhof vermöchten den heutigen Anforderungen nicht mehr zu genügen, liess sie durch eine Kommission einen Entwurf für eine neue Friedhofordnung ausarbeiten, in welchem unter anderem die Aufhebung der Privatgrabstätten vorgesehen war. Der Entwurf der Friedhofordnung wurde mit dem zur Genehmigung zuständigen Sanitätsdepartement des Kantons Graubünden besprochen und unter Berücksichtigung von dessen Anregungen bereinigt. Am 10. Dezember 1984 hiessen die Stimmberechtigten von Sent das neue Reglement gut, und am 17. Dezember 1984 erteilte ihm der Vorsteher des Sanitätsdepartements des Kantons Graubünden die kantonale Genehmigung.
Vierunddreissig Personen, die sich als an Privatgräbern in Sent berechtigt betrachten, erhoben bei der Regierung des Kantons Graubünden eine verfassungsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, das Friedhofreglement der Gemeinde Sent vom 10./11. Dezember 1984 sei aufzuheben, soweit damit Privatgrabrechte eingeschränkt oder aufgehoben würden. Nach Anhörung der Gemeinde zur Sache selbst entschied die Regierung des Kantons Graubünden am 21. April 1986 wie folgt:
"1. Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Satz '...Id existan be fossas publicas...' in Art. 8 des 'Reglamaint da sepultüra e da sunteri dal cumün da Sent' vom 10. Dezember 1984 aufgehoben.
2. Die Gemeinde Sent wird verpflichtet, die Aufhebung des Satzes '...Id existan be fossas publicas...' in Art. 8 des Reglementes vom 10. Dezember 1984 im amtlichen Publikationsorgan der Gemeinde Sent unter Mitteilung an das Sanitätsdepartement zu veröffentlichen.
(3. und 4. Kosten- und Entschädigungsfolgen)."
Die Begründung dieses Entscheides geht im wesentlichen dahin, die Beschwerdeführer hätten sich als Konzessionäre an den Privatgräbern ihrer Familien wohlerworbene Rechte verschafft. Der solche Rechte begründende Akt sei unwiderruflich, soweit er nicht selbst oder eine schon bei der Begründung des Rechtes geltende allgemeine Vorschrift unter bestimmten Voraussetzungen den Widerruf zulasse. Im übrigen habe die Gemeinde Sent nicht geltend gemacht, die Aufhebung der Grabkonzession liege im öffentlichen Interesse oder der Entzug lasse sich unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit rechtfertigen. Schliesslich sei für den Entzug der Konzessionen auch keine Entschädigung vorgesehen. Ob auch kulturhistorische Gründe gegen die Aufhebung der Privatgräber
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sprächen, brauche bei dieser Sachlage nicht näher geprüft zu werden.
Die Gemeinde Sent führt gegen diesen Beschluss staatsrechtliche Beschwerde. Sie rügt eine Verletzung der Gemeindeautonomie und beantragt, den angefochtenen Entscheid aufzuheben.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde der Gemeinde Sent im Sinne der Erwägungen gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

4. a) Die Regierung hat hinsichtlich der Rechtsnatur von Privatgräbern auf ihren Entscheid vom 18. November 1935 verwiesen, welcher die ständige bündnerische Praxis zum Ausdruck bringe (veröffentlicht in Rekurspraxis des Kleinen und Grossen Rates von Graubünden, Band VI, Nr. 5480). Demnach sind die durch Erwerb eines Privatgrabes begründeten Ansprüche nicht privatrechtlicher Natur, sondern in Anwendung öffentlichen Rechtes eingeräumte Konzessionen, durch welche wohlerworbene Rechte begründet werden. Es ist nicht erforderlich, diese Frage näher zu prüfen, da auch die Beschwerdeführerin von diesem rechtlichen Standpunkt ausgeht. Er entspricht zudem der Auffassung des Bundesgerichts, wie sie in einem Urteil aus jüngster Zeit zum Ausdruck kommt (ZBl 86/1985, S. 498 ff.). Streitig ist einzig, ob die Regierung aufgrund dieser Natur der Grabrechte die Bestimmung der neuen Friedhofordnung von Sent, wonach künftig nur noch öffentliche Gräber bestehen, als verfassungswidrig aufheben durfte.
b) Die Tragweite des angefochtenen Entscheides ist nicht leicht zu bestimmen. Er enthält Wendungen, die dafür sprechen, die Regierung betrachte die umstrittenen Sondernutzungskonzessionen überhaupt als unwiderruflich, weil sie selbst keinen entsprechenden Vorbehalt enthalten und auch im Zeitpunkt ihrer Begründung keine geltende allgemeine Vorschrift unter bestimmten Voraussetzungen ihren Widerruf zugelassen habe. Andere Stellen könnten demgegenüber so ausgelegt werden, dass die Regierung einen Entzug der Konzessionen bei Nachweis eines überwiegenden öffentlichen Interesses, Einhaltung des Prinzips der Verhältnismässigkeit und Zusicherung einer Entschädigung für zulässig betrachten würde. Die erste Auffassung wäre klarerweise bundesrechtswidrig. Eine Sondernutzungskonzession begründet zwar nach herrschender Lehre ein wohlerworbenes Recht, welches unter dem
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Schutz der Eigentumsgarantie steht. Aber auch dieses verfassungsmässige Recht kann unter bestimmten Bedingungen eingeschränkt werden. Der Gedanke, wohlerworbene Rechte seien schlechthin gesetzesbeständig und damit unentziehbar, würde bedeuten, diese Rechte gingen in ihrer Tragweite über die Eigentumsgarantie hinaus, was der übereinstimmenden neueren Lehre sowie der Rechtsprechung widersprechen würde. Es sei hiefür auf das bereits erwähnte, in ZBl 86/1985, S. 498 ff. veröffentlichte Urteil des Bundesgerichts und auf die dort angeführte Literatur verwiesen.

5. a) In der Vernehmlassung bringt die Regierung zum Ausdruck, sie betrachte die Konzessionen nicht als unwiderruflich, jedoch halte sie die von Lehre und Rechtsprechung geforderten Voraussetzungen für ihren Entzug hier nicht für erfüllt. Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Auffassung bereits dem angefochtenen Entscheid selbst zugrunde lag; jedenfalls war dies nicht klar ersichtlich. Auch so verstanden hält der Entscheid der Prüfung unter dem Gesichtswinkel der Gemeindeautonomie nicht stand.
b) Kann ein durch Sondernutzungskonzession erworbenes Recht nicht weiter gehen als das Eigentum, so muss es - abgesehen vom Erlöschen durch Fristablauf - auch unter denselben Voraussetzungen eingeschränkt oder aufgehoben werden können wie dieses (vgl. ZBl 86/1985, S. 502 und aus der dort angeführten Literatur vor allem WALTER KÄMPFER, Zur Gesetzesbeständigkeit "wohlerworbener Rechte", in: Mélanges Henri Zwahlen, Lausanne 1977, S. 355). Eingriffe in solche Rechte sind somit in analoger Anwendung der zu Art. 22ter BV entwickelten Grundsätze zulässig, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und dafür volle Entschädigung geleistet wird, soweit der Eingriff einer Enteignung gleichkommt ( BGE 111 Ia 96 E. 2; BGE 110 Ia 33 E. 4; BGE 106 Ia 168 E. 1b). Ob dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit in diesem Zusammenhang die Bedeutung einer weiteren selbständigen Eingriffsvoraussetzung zukommt oder ob diesem nicht notwendigerweise bei der Abwägung der öffentlichen Interessen am Eingriff gegenüber den privaten an dessen Unterlassung Rechnung zu tragen sei, ist eine Frage von bloss formeller Tragweite, die hier offenbleiben kann.
c) Im angefochtenen Entscheid wird erklärt, die Gemeinde Sent habe das Vorliegen eines öffentlichen Interesses und die Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit nicht dargetan. Es trifft zu, dass die Vernehmlassung der Gemeinde im kantonalen Beschwerdeverfahren vom 6. März 1986 in dieser Hinsicht Lücken
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aufweist. Indessen war die Regierung von Gesetzes wegen gehalten, den Sachverhalt von Amtes wegen zu ermitteln (Art. 27 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 des Gesetzes über das Verfahren in Verwaltungs- und Verfassungssachen vom 3. Oktober 1982; vgl. auch HANSJÖRG KISTLER, Die Verwaltungsrechtspflege im Kanton Graubünden, Zürich 1979, S. 161 ff.). Sie durfte sich um so weniger damit begnügen, die Vernehmlassung der Gemeinde als ungenügend zu erklären, als die privaten Berechtigten in ihrer verfassungsrechtlichen Beschwerde die wesentlichen Gründe, welche die Gemeindeversammlung zu einer Neuregelung veranlasst hatten, selbst wenigstens in summarischer Form dargelegt sowie beantragt hatten, weitere Sachverhaltsermittlungen von Amtes wegen und eventuell einen Augenschein auf dem Friedhof von Sent vorzunehmen. Zudem hatte die Gemeinde sowohl in ihrer Vernehmlassung vom 6. Februar wie in derjenigen vom 6. März 1986 ihre Bereitschaft bekundet, die Angelegenheit im Sinne aller in schicklicher Weise erledigen zu helfen, aber unter Wahrung der beidseitigen Interessen. Zieht man schliesslich in Betracht, dass Reglemente wie andere generell-abstrakte Normen kaum je eine Begründung aufweisen und dass andererseits eine Neuordnung der vorliegenden Art von der Sache her nur mit Rücksicht auf das öffentliche Interesse erfolgen konnte, so erscheint es als unzulässiger Eingriff in die Gemeindeautonomie, wenn die Regierung den Satz der Friedhofordnung, welcher die Aufhebung der Privatgräber zur Folge hat, ohne nähere Abklärung der Verhältnisse strich. Sie wäre aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen verpflichtet gewesen, die Gründe, die zur Neuregelung Anlass boten, zu prüfen und sodann eine Abwägung der öffentlichen gegenüber den privaten Interessen vorzunehmen.
Die Gemeinde Sent macht auch geltend, die Frage der Privatgräber sei zwischen ihr und dem Sanitätsdepartement diskutiert worden. Sowohl die Regierung wie die privaten Beschwerdegegner bestreiten dies mit Hinweis auf die Akten. Welche Sicht der Dinge den Tatsachen entspricht, lässt sich aufgrund der dem Bundesgericht vorliegenden Unterlagen nicht klar entscheiden. Dies ist aber auch nicht notwendig, denn selbst wenn die Aufhebung der Privatgräber im Rahmen des Genehmigungsverfahrens nicht besprochen wurde, so hätte dies die Regierung als Rechtsmittelinstanz nicht davon entbunden, den rechtserheblichen Sachverhalt von Amtes wegen abzuklären und eine umfassende Interessenabwägung vorzunehmen (vgl. dazu BGE 110 Ia 86 E. 4b).
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d) Aus der Vernehmlassung ist zu schliessen, dass die Regierung sich zu einer solchen Prüfung unter anderem deshalb nicht für verpflichtet hielt, weil die Aufhebung der Privatgräber "nicht der geltenden Rechtsordnung entspreche". Soweit damit das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage gemeint sein sollte, geht der Einwand deshalb fehl, weil das kantonale Recht die Gemeinden nicht verpflichtet, Privatgräber zuzulassen, sondern diese von der Gemeinde Sent durch kommunales Recht geschaffen worden sind. Es muss demgemäss auch genügen, wenn ein kommunaler Rechtssetzungsakt derselben Stufe diese Regelung ändert (vgl. dazu BGE 108 Ia 184 E. 3d mit Hinweis; BGE 105 Ib 81 E. 6a).
Es scheint allerdings, dass die Regierung weniger diesen Punkt beanstanden will als vielmehr das Fehlen gemeinderechtlicher Grundlagen für die Entschädigung der Berechtigten an den aufgehobenen Privatgräbern. Auch dieser Einwand ist jedoch unbegründet. Geht man davon aus, dass die Konzessionäre eine mit dinglich Berechtigten vergleichbare Stellung einnehmen, so darf allerdings die Konzession grundsätzlich nur gegen Entschädigung aufgehoben werden. Über die Frage, ob ein bewertbarer Schaden entstehe, wenn ja, für welche Personen und in welcher Höhe, ist indessen nicht in diesem Verfahren zu entscheiden. Die Argumentation der Regierung verkennt, dass die Entschädigung nicht Voraussetzung, sondern Folge des Eingriffs in Rechte dinglicher oder verwandter Natur darstellt. Die Verhältnisse lassen sich mit denjenigen bei Erlass eines neuen Zonenplanes vergleichen, durch den ein bisher überbaubares und einer Bauzone zugeteiltes Grundstück in eine nicht mehr überbaubare Zone eingewiesen wird. Zwar kann es in diesen Fällen immer nur um materielle und nicht um formelle Enteignung gehen; indessen muss auch vorliegend gelten, dass die Zulässigkeit des Eingriffs zunächst nach den übrigen angeführten Gesichtspunkten zu prüfen ist und die Frage der Enteignungsentschädigung anschliessend in einem besonderen Verfahren durch die hiefür zuständigen Behörden zu beurteilen bleibt (vgl. dazu BGE 98 Ia 595 E. 5; BGE 97 I 626 E. 5). Anders wäre es höchstens, wenn das neue Reglement Entschädigungen von vornherein für alle Fälle ausschlösse; allein dies ist nicht der Fall, und die Gemeinde bemerkt in der staatsrechtlichen Beschwerde sogar ausdrücklich, sie betrachte es als selbstverständlich, dass sowohl genutzte wie nicht genutzte Grabrechte nur gegen Entschädigung abgelöst würden. Schliesslich ist zu diesem Punkt beizufügen, dass eine generelle Regelung der Entschädigungsfrage schon im Reglement wegen
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der grossen Verschiedenheit hinsichtlich der einzelnen Gräber praktisch kaum möglich wäre. Auch dieser Einwand ist somit nicht geeignet, die Nichtgenehmigung des streitigen Satzes der Friedhofordnung von Sent zu rechtfertigen.

6. Aus allen diesen Gründen erscheint der Entscheid der Regierung des Kantons Graubünden als unzulässiger Eingriff in den Autonomiebereich der Gemeinde Sent und ist aufzuheben. Mit den von beiden Parteien vorgetragenen materiellen Argumenten hat sich das Bundesgericht nicht zu befassen. Es wird vielmehr Sache der Regierung sein, nach Vornahme der notwendigen Erhebungen und allenfalls nach Durchführung eines Augenscheins erneut darüber zu befinden, ob der vorgesehene Eingriff in wohlerworbene Rechte der privaten Beschwerdegegner im öffentlichen Interesse liege und verhältnismässig sei.

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