Urteilskopf
112 II 479
80. Urteil der II. Zivilabteilung vom 2. Oktober 1986 i.S. X. gegen X. (Berufung)
Regeste
Entmündigung;
Art. 373 Abs. 1 ZGB
.
Das kantonale Verfahrensrecht darf den bundesrechtlichen Anspruch des Privaten auf Einleitung des Entmündigungsverfahrens gegen einen Verwandten im Sinne von
Art. 328 ZGB
und auf einen Sachentscheid der für die Entmündigung zuständigen Behörde nicht beschränken.
Mit Eingabe vom 18. Mai 1984 stellte A. X. bei der Vormundschaftsbehörde der Gemeinde Z. das Begehren um Entmündigung ihres Vaters B. X. sowie um vorläufigen Entzug seiner Handlungsfähigkeit
BGE 112 II 479 S. 480
mit sofortiger Wirkung. Die Vormundschaftsbehörde überwies die Sache am 13. August 1984 an den zuständigen Regierungsstatthalter mit dem Antrag, Entmündigungsbegehren und Gesuch um sofortigen Entzug der Handlungsfähigkeit seien abzuweisen. Der Regierungsstatthalter hielt dafür, dass A. X. als unterstützungsberechtigter und unterstützungspflichtiger Verwandter im Entmündigungsverfahren Parteistellung zukomme und dass sie demzufolge Anspruch auf eine gerichtliche Beurteilung ihres Begehrens habe; mit Verfügung vom 30. August 1984 überwies er die Sache deshalb an das Zivilamtsgericht. Der Gerichtspräsident wies die Akten am 5. Oktober 1984 an den Regierungsstatthalter zurück. Eine von A. X. hiergegen eingereichte Appellation hiess der Appellationshof (I. Zivilkammer) des Kantons Bern am 6. November 1984 in dem Sinne gut, dass er die Verfügung des Gerichtspräsidenten vom 5. Oktober 1984 aufhob und die Sache zur Entscheidung durch die zuständige Instanz (Zivilamtsgericht) an den Gerichtspräsidenten zurückwies.
Durch Entscheid vom 25. April 1985 erkannte das Zivilamtsgericht hierauf, dass auf das Entmündigungsgesuch von A. X. nicht eingetreten werde, und am 2. Juli 1985 entschied der Appellationshof (I. Zivilkammer) des Kantons Bern, dass auch auf die hiergegen erhobene Appellation nicht eingetreten werde.
Den zweiten Entscheid hat A. X. sowohl mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 BV
als auch mit Berufung beim Bundesgericht angefochten. Ihre Berufungsanträge lauten wie folgt:
"1. Der Entscheid der I. Zivilkammer des Appellationshofes des Kantons Bern vom 2. Juli 1985 sei aufzuheben.
2. Es sei gerichtlich festzustellen, dass die Berufungsklägerin im gerichtlichen Bevormundungsverfahren gemäss Art. 34 Bern. EG z ZGB Parteistellung und Prozessfähigkeit hat.
3. Die Sache sei an die kantonale Instanz zurückzuweisen, verbunden
mit der Anweisung, auf die Appellation der Berufungsklägerin im
Bevormundungsverfahren gegen den Berufungsbeklagten sei einzutreten." Der Berufungsbeklagte schliesst auf Abweisung der Berufung.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Berufung an das Bundesgericht ist unter anderem zulässig in Fällen, da es um eine Entmündigung oder die Aufhebung einer Vormundschaft geht (
Art. 44 lit. e OG
). Darunter fallen
BGE 112 II 479 S. 481
auch Entscheide, in denen eine Entmündigung abgelehnt wurde (vgl.
BGE 90 II 362
E. 1; SCHNYDER/MURER, N. 197 zu
Art. 373 ZGB
). Solchen gleichzustellen sind Nichteintretensentscheide, laufen doch diese in ihrer Wirkung auf eine Verneinung des materiellen Anspruchs hinaus (vgl. BIRCHMEIER, Bundesrechtspflege, S. 164 f.), so dass auf die Berufung einzutreten ist (vgl. auch
BGE 64 II 179
ff.;
BGE 59 II 344
ff.).
2.
Abgesehen davon, dass verschiedene Behörden von Bundesrechts wegen verpflichtet sind, durch Anzeige ein Entmündigungsverfahren in Gang zu setzen (vgl. die Art. 368 Abs. 2, 369 Abs. 2 und 371 Abs. 2 ZGB), erklärt das Gesetz einerseits die betroffene Person selbst (
Art. 372 ZGB
) und andererseits die Vormundschaftsbehörde des Heimatortes (
Art. 378 ZGB
) für berechtigt, die Entmündigung zu beantragen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts kommt das gleiche Recht - und zwar von Bundesrechts wegen - daneben auch den gemäss
Art. 328 ZGB
unterstützungsberechtigten und unterstützungspflichtigen Verwandten zu (
BGE 62 II 269
f. E. 1). Diese Auffassung wird im Schrifttum allgemein gebilligt (vgl. GUHL, in: ZBJV 73/1937, S. 538; EGGER, N. 40 zu
Art. 373 ZGB
; SCHNYDER/MURER, N. 88 zu
Art. 373 ZGB
; HAUSER, in: ZVW 14/1959, S. 83 f.). Die von VOYAME (Droit privé fédéral et procédure civile cantonale, in: ZSR 80/1961 II S. 126 f.) gegen das erwähnte Urteil erhobene Kritik betrifft die bundesgerichtlichen Feststellungen zum Antragsrecht von Privatpersonen, die das kantonale Recht neben den erwähnten Verwandten als zur Stellung eines Entmündigungsbegehrens legitimiert erklären sollte. Sie ist hier deshalb ohne Belang, zumal sich die Berufungsklägerin ausdrücklich auf
Art. 328 ZGB
beruft.
3.
In
BGE 62 II 270
E. 1 hat das Bundesgericht ausgeführt, dass den von
Art. 328 ZGB
erfassten Personen von Bundesrechts wegen das Recht zustehe, den Schutz zu verlangen, den ihnen die Entmündigung des betroffenen Verwandten vermitteln soll ("droit à solliciter la protection que l'interdiction est censée leur assurer"). Es hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es nicht angehe, jemanden der Gefahr auszusetzen, ein Familienmitglied unterstützen zu müssen, nachdem dieses sein Vermögen verprasst habe, ohne dass er dagegen etwas hätte unternehmen können. Das dem Verwandten eingeräumte Antragsrecht verleiht diesem mit andern Worten grundsätzlich einen persönlichen Anspruch auf Einleitung des Entmündigungsverfahrens und auf einen entsprechenden Sachentscheid über die Entmündigung; insofern unterscheidet sich
BGE 112 II 479 S. 482
seine Stellung von derjenigen eines blossen Anzeigeerstatters (vgl. SCHNYDER/MURER, N. 95 zu
Art. 373 ZGB
).
4.
Es trifft zu, dass die sachliche Zuständigkeit und das Verfahren sich auch bei der Entmündigung grundsätzlich nach dem kantonalen Recht bestimmen (so ausdrücklich im Sinne eines unechten Vorbehaltes
Art. 373 Abs. 1 ZGB
). Das Gesetz sieht in
Art. 373 Abs. 2 ZGB
einzig vor, dass die Weiterziehung an das Bundesgericht vorbehalten bleibe. Die Kantone sind somit namentlich frei, zu bestimmen, ob eine richterliche oder eine administrative Behörde für Entmündigungsentscheide zuständig sein soll (so ausdrücklich Art. 54 Abs. 2 Schlusstitel ZGB). Dies gilt auch hinsichtlich der kantonalen Rechtsmittelinstanzen. Die Freiheit der Kantone in der Gestaltung des Entmündigungsverfahrens ist allerdings insofern eingeschränkt, als die verfahrensrechtlichen Bestimmungen der Verwirklichung des Bundeszivilrechts nicht entgegenstehen dürfen (vgl.
BGE 95 II 67
f. E. b mit Hinweis).
5.
a) Gemäss Art. 31 Abs. 1 des bernischen EG zum ZGB hat die Vormundschaftsbehörde, welcher der Eintritt eines Bevormundungsfalles in der Gemeinde zur Kenntnis kommt, die Pflicht, beim Regierungsstatthalter den Antrag auf Entmündigung zu stellen. Unterzieht sich der Interdizend dem vormundschaftsbehördlichen Antrag, verfügt der Regierungsstatthalter ohne weiteres die Entmündigung (Art. 32 EG zum ZGB); in den andern Fällen gehen die Akten an den Gerichtspräsidenten weiter (Art. 34 Abs. 1 EG zum ZGB). Dieser führt alsdann die notwendigen Erhebungen durch (Art. 34 Abs. 2 und 3 EG zum ZGB), worauf das Amtsgericht den Entscheid fällt (Art. 35 EG zum ZGB). Diesen können der Interdizend und die antragstellende Behörde an den Appellationshof des Obergerichts weiterziehen (Art. 36 Abs. 1 EG zum ZGB).
b) In einem Fall wie dem vorliegenden, wo der Berufungsbeklagte sich einer Entmündigung stets widersetzt hatte, ist ein materieller Entscheid der Verwaltungsbehörde (Regierungsstatthalter) nach dem Gesagten von vornherein ausgeschlossen. Der Regierungsstatthalter hat die zur Beurteilung stehende Sache am 30. August 1984 denn auch ohne Weiterungen an das Zivilamtsgericht überwiesen, und der Appellationshof (I. Zivilkammer) hat in seinem Entscheid vom 6. November 1984 die Zuständigkeit jenes Gerichts zur weiteren Behandlung des Falles bestätigt. Die Vorinstanz stellte sich dabei allerdings auf den Standpunkt, dass das Zivilamtsgericht zunächst vorfrageweise zu prüfen habe, ob überhaupt
BGE 112 II 479 S. 483
ein "strittiger Fall" im Sinne von Art. 34 EG zum ZGB gegeben sei.
In seinem Entscheid vom 25. April 1985 verneinte das Amtsgericht diese Frage, im wesentlichen mit der Begründung, die Vormundschaftsbehörde habe nicht beantragt, dass der Berufungsbeklagte zu entmündigen sei, und die Berufungsklägerin könne nicht an die Stelle der Vormundschaftsbehörde treten. Das Amtsgericht vertrat weiter die Ansicht, dass die Vormundschaftsbehörde, welche die Voraussetzungen einer Entmündigung nicht für erfüllt halte, ihren Standpunkt in einer formellen Verfügung dem antragstellenden Verwandten zu eröffnen habe, damit dieser die Sache im Sinne von Art. 10 EG zum ZGB an den Regierungsstatthalter als Aufsichtsbehörde weiterziehen könne. Dieser Weg sei im vorliegenden Fall noch nicht ausgeschöpft worden und die vormundschaftlichen Behörden hätten das Nötige noch nachzuholen. Liege beim gegenwärtigen Stand der Dinge kein strittiger Fall vor, sei das Amtsgericht zur Fällung eines materiellen Entscheides über die beantragte Entmündigung nicht zuständig, so dass auf das Gesuch der Berufungsklägerin nicht einzutreten sei.
Die Vorinstanz hat diesen Entscheid im Ergebnis geschützt, indem sie auf die Appellation der Berufungsklägerin nicht eintrat. Auch sie hielt dafür, dass der Verwandte, dessen Begehren um Entmündigung die Vormundschaftsbehörde keine Folge gegeben habe, nicht berechtigt sei, den Antrag selbst beim Gericht zu stellen. Der Appellationshof räumt zwar ein, dass dem antragsberechtigten Verwandten ein Anspruch auf einen materiellen Entscheid und im Falle der Ablehnung der Entmündigung von Bundesrechts wegen ein Beschwerderecht zustehe. Diesen Ansprüchen ist nach seiner Auffassung indessen insofern Genüge getan, als der Weigerung der antragstellenden Vormundschaftsbehörde, das Entmündigungsverfahren zu eröffnen, der Charakter eines materiellen Entscheides auf Nicht-Entmündigung beizumessen sei. Für diese letzte Feststellung beruft sich die Vorinstanz auf SCHNYDER/MURER (N. 96 zu
Art. 373 ZGB
). Diese Autoren führen aus, dass die Behörde, bei der ein Antrag auf Entmündigung eingereicht wurde, das Verfahren nicht in jedem Falle eröffnen müsse; liege offensichtlich kein Entmündigungsgrund vor, werde sie das Begehren ohne weiteres zurückweisen, was materiell als Entscheid der zuständigen Behörde auf Nicht-Entmündigung zu betrachten sei. Unter Hinweis auf einen in JdT 98/1950 III S. 125 veröffentlichten Entscheid vertreten sie sodann die Ansicht, dass einem solchen
BGE 112 II 479 S. 484
Beschluss der zuständigen Behörde die Tragweite eines anfechtbaren Entscheides zukomme. Der angeführte Entscheid der Rekurskammer des Waadtländer Kantonsgerichtes behandelte die Frage der Legitimation zum Rekurs gegen einen Entscheid auf Nicht-Entmündigung, und es wurde darin festgehalten, dass der auf Grund seiner familienrechtlichen Stellung antragsberechtigte Private auch dann rekurrieren könne, wenn das Verfahren nicht auf sein Betreiben hin eröffnet worden sei; in keinem Fall aber sei das Friedensgericht (Justice de paix) dazu legitimiert. Aus letzterem erhellt, dass die Anfechtung eines Entscheides des für Fälle der vorliegenden Art (fehlendes Einverständnis des Interdizenden) zuständigen Kantonsgerichts (vgl. Art. 94 f. des Waadtländer EG zum ZGB), mithin eines eigentlichen materiellen Entscheids betreffend Entmündigung, zur Frage gestanden haben muss. Es hatte sich somit nicht um einen Nichteintretensentscheid der seiner Stellung nach mit der Vormundschaftsbehörde nach bernischem Recht vergleichbaren Justice de paix gehandelt (vgl. die erwähnten Bestimmungen des Waadtländer EG zum ZGB). Der angeführte Rekursentscheid ist deshalb in keiner Weise geeignet, den Standpunkt der Vorinstanz zu stützen. Dagegen geht aus ihm hervor, dass dem antragsberechtigten Privaten nach dem waadtländischen Verfahrensrecht ein Anspruch auf einen materiellen Entscheid darüber zusteht, ob ein ihm gegenüber unterstützungsberechtigter bzw. unterstützungspflichtiger Verwandter zu entmündigen sei oder nicht. Diese Ordnung entspricht denn auch dem, was aus
BGE 62 II 268
ff. abzuleiten ist. Der Rechtsschutz, der den kraft ihrer familienrechtlichen Stellung Antragsberechtigten - von Bundesrechts wegen - gewährt wird, kommt nur dann zum Tragen, wenn diese selbst bei der für den Entmündigungsentscheid zuständigen Instanz (und nicht nur bei der antragstellenden Behörde) die Entmündigung verlangen, d.h. ein Sachurteil erwirken können, und ihnen im Verfahren eine eigentliche Parteistellung zukommt (vgl. GULDENER, Bundesprivatrecht und kantonales Zivilprozessrecht, in: ZSR 80/1961 II S. 25; VOYAME, a.a.O. S. 118 f. und 131). Der Meinung, der antragsberechtigte Private solle sich direkt an die Entmündigungsinstanz wenden können, scheint auch Egger zu sein, wenn er ausführt, die antragsberechtigte Behörde könne den Privaten stets dann gewähren lassen, wenn sie selbst die Voraussetzungen einer Entmündigung nicht für erfüllt erachte (vgl. N. 29 zu
Art. 373 ZGB
). Für ein nach Bundeszivilrecht genügendes Interesse, wie es nach dem Gesagten hier gegeben ist,
BGE 112 II 479 S. 485
hat der kantonale Prozess unter allen Umständen den verfahrensmässigen Weg zu öffnen, der zum autoritativen Entscheid über die Rechtsbehauptung führt (vgl. KUMMER, Das Klagerecht und die materielle Rechtskraft im schweizerischen Recht, S. 21). Prozessrechtliche Bestimmungen der Kantone, welche die Verwirklichung des Bundeszivilrechts verunmöglichen, missachten die derogatorische Kraft des Bundesrechts (vgl.
BGE 94 II 144
E. 2) und dürfen deshalb nicht zur Anwendung gelangen.
c) Aus dem Gesagten erhellt, dass der angefochtene Entscheid gegen Bundesrecht verstösst. Mit dem Amtsgericht gesteht der Appellationshof der Berufungsklägerin einzig die Möglichkeit zu, den Beschluss der Vormundschaftsbehörde, von der Stellung eines Entmündigungsantrages abzusehen, im Sinne von Art. 10 Abs. 1 EG zum ZGB (auf dem Verwaltungsweg) an den Regierungsstatthalter und nötigenfalls noch an den Regierungsrat weiterzuziehen. Damit würde sich die Stellung der Berufungsklägerin jedoch nicht von derjenigen eines blossen Anzeigeerstatters unterscheiden (vgl. SCHNYDER/MURER, N. 84 zu
Art. 373 ZGB
). Wohl weist die Vorinstanz darauf hin, dass die Vormundschaftsbehörde gemäss Art. 31 Abs. 2 EG zum ZGB für den Schaden verantwortlich wäre, der der Berufungsklägerin wegen eines unterlassenen Entmündigungsantrages allenfalls erwachsen könnte. Entgegen ihrer Auffassung ist darin indessen kein ausreichender Rechtsschutz des nach Bundesrecht antragsberechtigten Verwandten zu erblicken. Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben, und der Appellationshof ist anzuweisen, in einem neuen Entscheid der Berufungsklägerin im Rahmen des kantonalen Verfahrensrechts einen Weg zu öffnen, der im Sinne der vorstehenden Erwägungen mit dem Bundeszivilrecht in Einklang steht.
6.
Die Einwendungen des Berufungsbeklagten sind unbehelflich. Dass die Berufungsklägerin nicht zum Kreise derjenigen Personen gehöre, die im Sinne von
Art. 328 ZGB
ihm gegenüber unterstützungsberechtigt bzw. unterstützungspflichtig wären, macht er nicht geltend. Die Legitimation zum Antrag auf Entmündigung von weiteren Voraussetzungen abhängig zu machen, ginge nicht an. Die vom Berufungsbeklagten aufgeworfene Frage der Gefährdung der wirtschaftlichen Interessen der Berufungsklägerin geht weitgehend in derjenigen auf, ob ein Entmündigungsgrund gegeben sei, was im Sachentscheid zu beurteilen ist.