BGE 112 V 376 vom 29. Dezember 1986

Datum: 29. Dezember 1986

Artikelreferenzen:  Art. 117 UVG, Art. 23 MVG, Art. 24 MVG, Art. 25 MVG, Art. 52 MVG , Art. 25 Abs. 3 MVG, Art. 25 Abs. 1 MVG, Art. 25 Abs. 2 MVG, Art. 25bis MVG, Art. 52 Abs. 1 MVG, Art. 23 Abs. 3 MVG, Art. 23 Abs. 1 MVG, Art. 24 Abs. 1 MVG

BGE referenzen:  110 V 117, 112 V 387, 115 V 308, 117 V 71, 121 V 157 , 110 V 117, 105 V 322, 110 V 120, 96 V 113, 110 V 119, 108 V 3, 96 V 112, 110 V 124, 110 V 119, 108 V 3, 96 V 112, 110 V 124

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

112 V 376


66. Auszug aus dem Urteil vom 29. Dezember 1986 i.S. Gasser gegen Bundesamt für Militärversicherung und Versicherungsgericht des Kantons Zürich

Regeste

Art. 25 MVG : Beeinträchtigung der Integrität.
- Der im Rahmen von Art. 25 Abs. 3 MVG zu gewährende Zuschlag für die Integritätsbeeinträchtigung ist nach den für Art. 25 Abs. 1 MVG massgebenden Regeln zu bestimmen und zur Invalidenrente voll hinzuzurechnen (Ergänzung und Präzisierung der Rechtsprechung; Erw. 4).
- Für die Abgeltung eines Integritätsschadens gemäss Art. 25 Abs. 1 MVG ist vom durchschnittlichen Leistungsansatz von 85% und dem Durchschnittseinkommen von Fr. 12'000.-- gemäss dem Urteil Gysler (EVGE 1966 S. 148) auszugehen, das für die heute zu beurteilenden Fälle der zwischenzeitlichen Entwicklung der Konsumentenpreise (nicht aber der Lohnentwicklung) anzupassen ist. Für das Jahr 1983 ergibt dies den Betrag von rund Fr. 25'400.--. Die Verwaltung wird auch künftig die erforderlichen Anpassungen an die Entwicklung der Konsumentenpreise vorzunehmen haben (Erw. 6).
- Die Abgeltung des Integritätsschadens kann im Falle von Art. 25 Abs. 3 MVG in Form eines Zuschlags zur Invalidenrente ausgerichtet oder gemäss Art. 25 Abs. 2 MVG ausgekauft werden (Erw. 7a).
- Die reine Integritätsrente oder der Zuschlag zur Abgeltung eines Integritätsschadens bzw. die Auskaufssumme ist bei der Feststellung einer allfälligen Überentschädigung ( Art. 52 Abs. 1 MVG ) nicht zu berücksichtigen (Erw. 7b).

Sachverhalt ab Seite 378

BGE 112 V 376 S. 378

A.- Der 1929 geborene Peter Gasser erlitt 1970 im Militärdienst eine Tibiakopffraktur rechts und 1971 ebenfalls im Militärdienst eine Schenkelhalsfraktur rechts. Die Militärversicherung anerkannte die volle Bundeshaftung für die Folgen beider Unfälle. Ab 1973 erhielt Peter Gasser zeitlich befristete Invalidenrenten. Letztmals wurde ihm am 21. August 1981 für die Zeit vom 1. April 1981 bis 31. März 1983 eine Rente von monatlich Fr. 780.-- auf der Grundlage einer Erwerbsunfähigkeit von 40% zugesprochen.
Nach Abklärungen in medizinischer und erwerblicher Hinsicht gelangte das Bundesamt für Militärversicherung (BAMV) zum Schluss, dass ab 1. April 1983 keine nennenswerte Erwerbsunfähigkeit mehr bestehe, dagegen ein Integritätsschaden von 20% vorliege. Es stellte ferner fest, dass damit die Integritätseinbusse gegenüber dem aus der Erwerbsunfähigkeit resultierenden Schaden überwiege (Integritätsrente höher als Invalidenrente). Gestützt auf die damalige Rechtspraxis des Eidg. Versicherungsgerichts zu Art. 25 Abs. 3 MVG , wonach der kleinere Schaden im grösseren enthalten und deshalb nur dieser Schaden abzugelten sei ( BGE 110 V 120 Erw. 1b, BGE 105 V 322 Erw. 1b, BGE 96 V 113 Erw. 2d, EVGE 1966 S. 151 Erw. 2), sprach das BAMV deshalb Peter Gasser mit Verfügung vom 23. November 1983 eine ab 1. April 1983 laufende Integritätsrente von monatlich Fr. 530.90 zu. Für die Berechnung dieser Rente ging es von den mit den Urteilen Gysler (EVGE 1966 S. 148) und Lendi (EVGE 1968 S. 88) eingeführten Bezugsgrössen des durchschnittlichen Leistungsansatzes von 85% und des mittleren anrechenbaren Jahresverdienstes aus (Fr. 37'475.--, Stand gemäss Art. 4 Abs. 2 des Bundesbeschlusses vom 9. Oktober 1981 über die Anpassung der Leistungen der Militärversicherung an die veränderten Erwerbseinkommen; AS 1981 1638).

B.- Hiegegen erhob Peter Gasser Beschwerde und beantragte die Zusprechung einer Invalidenrente auf der Grundlage einer Invalidität von 45%. Das Versicherungsgericht des Kantons Zürich wies die Beschwerde mit Entscheid vom 20. November 1984
BGE 112 V 376 S. 379
ab. Die Begründung lautete im wesentlichen dahin, die angefochtene Verfügung vom 23. November 1983 beruhe auf der damals geltenden Rechtsprechung und lasse sich nicht beanstanden. Denn einerseits könne gegen die Bemessung des Integritätsschadens mit 20% nichts Stichhaltiges eingewendet werden und anderseits bestehe kein unfallbedingter Erwerbsausfall oder höchstens ein solcher, der kleiner wäre als die Entschädigung für die Integritätseinbusse.

C.- Peter Gasser lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, es sei ihm ab 1. April 1983 auf beschränkte Zeit eine Rente auf der Basis eines Invaliditätsgrades von mindestens 40% auszurichten. In der Begründung führt er unter anderem aus, nach dem Erlass der angefochtenen Verfügung vom 23. November 1983 habe das Eidg. Versicherungsgericht mit dem Urteil Andres vom 23. Mai 1984 ( BGE 110 V 117 ) zu Art. 25 Abs. 3 MVG eine neue Rechtspraxis begründet. Danach könne beim Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit und Integritätseinbusse nicht mehr bloss eine Rente für den höheren Schaden zugesprochen werden; vielmehr seien beide Schäden kumulativ - durch Gewährung einer einzigen Rente - abzugelten. Diese neue Rechtsprechung sei entgegen der Auffassung der Vorinstanz im vorliegenden Fall anzuwenden. Hinsichtlich der Bemessung der beiden Schäden beantragt Peter Gasser, es seien die medizinischen Verhältnisse durch eine Begutachtung näher abklären zu lassen.
In seiner Vernehmlassung vom 14. Juni 1985 sprach sich das BAMV ebenfalls für die Anwendbarkeit der neuen Rechtspraxis zu Art. 23 Abs. 3 MVG aus und erklärte weiter, die Erwerbsunfähigkeit Peter Gassers betrage schätzungsweise 20%. Bei einem hypothetischen Jahresverdienst von Fr. 30'000.-- und einem Leistungsansatz von 90% ergebe sich ab 1. April 1983 für die Invalidenrente ein monatliches Betreffnis von Fr. 450.--. Die Beeinträchtigung der körperlichen Integrität sei wie in der Verfügung vom 23. November 1983 mit 20% zu veranschlagen. Dagegen sei die Integritätsrente nicht mehr auf der Grundlage des Mittelwertes zwischen dem gesetzlichen Verdienstmaximum und dem gesetzlichen Verdienstminimum (EVGE 1966 S. 148, 1968 S. 88) zu berechnen, sondern aufgrund der von der Militärversicherung im Anschluss an das Urteil Andres ( BGE 110 V 117 ) eingeführte neue Rentenbasis von Fr. 15'000.--. Daraus resultiere eine Integritätsrente von Fr. 212.50, welche der Invalidenrente von Fr. 450.-- voll zuzurechnen sei.
BGE 112 V 376 S. 380

Erwägungen

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1. Kann von der Fortsetzung der ärztlichen Behandlung keine namhafte Besserung des Gesundheitszustandes erwartet werden, so ist eine Invalidenrente auszurichten, wenn der versicherte Gesundheitsschaden eine voraussichtlich bleibende Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit hinterlässt, oder eine Integritätsrente, wenn er eine erhebliche Beeinträchtigung der körperlichen oder psychischen Integrität zur Folge hat (siehe Art. 23 Abs. 1 MVG ).
a) Im Falle der Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit sieht Art. 24 Abs. 1 MVG die Ausrichtung einer Invalidenrente auf bestimmte oder unbestimmte Zeit vor. Für die Bemessung des Invaliditätsgrades wird praxisgemäss - wie im Bereiche der Invalidenversicherung und der obligatorischen Unfallversicherung - das Erwerbseinkommen, das der Versicherte nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihm zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das er erzielen könnte, wenn er nicht invalid geworden wäre ( BGE 110 V 119 Erw. 1a, BGE 105 V 322 , BGE 96 V 112 ) ...
b) Die Rente für erhebliche Beeinträchtigung der körperlichen oder psychischen Integrität wird in Würdigung aller Umstände nach billigem Ermessen festgesetzt ( Art. 25 Abs. 1 MVG ). Sie kann jederzeit von Amtes wegen oder auf Begehren des Versicherten ausgekauft werden ( Art. 25 Abs. 2 MVG ).
Ein Integritätsschaden gibt grundsätzlich dann Anspruch auf eine Rente der Militärversicherung, wenn der Versicherte objektiverweise im Lebensgenuss erheblich eingeschränkt ist. Rechtserheblich in diesem Sinne ist die Störung primärer Lebensfunktionen, nicht aber die blosse Behinderung in der sonstigen Lebensgestaltung wie beispielsweise beim Sport, bei der Teilnahme an gesellschaftlichen Anlässen und dergleichen ( BGE 110 V 119 Erw. 1a mit Hinweisen).
c) Bei gleichzeitigem Vorliegen von Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit und erheblicher Beeinträchtigung der körperlichen oder psychischen Integrität wird nur eine Rente zugesprochen, bei deren Berechnung jedoch beiden Beeinträchtigungen Rechnung getragen wird ( Art. 25 Abs. 3 MVG ). Nach der Rechtspraxis gemäss den Urteilen Gysler (EVGE 1966 S. 151 Erw. 2), Rey ( BGE 96 V 113 Erw. 2d) und Pulver ( BGE 105 V 322 Erw. 1b) galt bei diesem Zusammentreffen der Integritätsschaden regelmässig als im
BGE 112 V 376 S. 381
Invaliditätsansatz mitenthalten, wenn die Verminderung der Erwerbsfähigkeit schwerer wog. Beeinträchtigte der körperliche oder psychische Nachteil die Erwerbsfähigkeit in geringerem Masse oder gar nicht, jedoch in erheblicher Weise die körperliche oder psychische Integrität, so war lediglich eine Integritätsrente auszurichten. Die gesetzliche Regelung, wonach nur eine Rente auszurichten, aber beiden Beeinträchtigungen Rechnung zu tragen ist ( Art. 25 Abs. 3 MVG ), wurde in dem Sinne verstanden, dass der im Einzelfall überwiegende Schaden voll zu entschädigen sei. Dabei war in der Weise vorzugehen, dass die Rente für die beiden Schadensarten nach den hiefür massgebenden Bemessungs- und Berechnungsregeln getrennt festgesetzt und dem Versicherten die jeweils höhere Rente zugesprochen wurde. Mit dem Urteil Andres ( BGE 110 V 117 ) ist das Eidg. Versicherungsgericht von dieser Praxis abgegangen und hat erkannt, dass nicht mehr wie bis anhin nur der überwiegende Schaden abzugelten ist, sondern beide Schäden kumulativ - durch Gewährung einer einzigen Rente - zu entschädigen sind. In einem solchen Fall ist die Beeinträchtigung der Integrität durch eine Erhöhung der Invalidenrente ( Art. 24 MVG ) zu entschädigen, und zwar mit einem Zuschlag in Franken, der nach billigem Ermessen festgesetzt und nach dem Grad an Beeinträchtigung abgestuft wird ( BGE 110 V 124 Erw. 2e und 3).

2. a) (Ausführungen darüber, dass Invalidität und Integritätsschaden auf je 20% zu veranschlagen sind.)

3. a) Sind Erwerbsunfähigkeit (20%) und Integritätsschaden (20%) gegeben, so stellt sich die Frage, wie die Rente gemäss Art. 25 Abs. 3 MVG zu bestimmen ist. Beschwerdeführer und BAMV nehmen hiebei zu Recht an, dass die neue Rechtsprechung zu Art. 25 Abs. 3 MVG gemäss Urteil Andres ( BGE 110 V 117 ) auch im vorliegenden Fall zu beachten ist ( BGE 108 V 3 mit Hinweisen). Nach dieser Rechtsprechung ist die Beeinträchtigung der Integrität durch eine Erhöhung der Invalidenrente in Form eines Zuschlages in Franken zu entschädigen. Die Frage, wie dieser Zuschlag zu berechnen sei, hat das Eidg. Versicherungsgericht in der Meinung offengelassen, dass es dem BAMV anheimgestellt werden könne, eine sachgerechte Lösung auszuarbeiten.
b) Das BAMV gelangte zum Schluss, dass nur die volle Kumulierbarkeit der beiden Renten zu befriedigenden Ergebnissen führen könne. Wer die Integritätsrente als reine Genugtuungsleistung anerkenne, müsse im Rahmen von Art. 25 Abs. 3 MVG die unbeschränkte Kumulation mit der Invalidenrente befürworten. Der
BGE 112 V 376 S. 382
Wortlaut dieser Bestimmung stehe dem nicht entgegen, und angesichts der Anerkennung der Integritätsrente als Genugtuungsleistung dürften historische Motive zur Begründung eines Verbots integraler Kumulation nicht mehr herangezogen werden.
c) Die Bejahung der vollen Kumulierbarkeit führte das BAMV sodann zur Frage, ob in diesem Fall das Leistungsniveau der Integritätsrente, berechnet nach dem mittleren Jahresverdienst, noch angemessen sei bzw. ob nicht auch die Rechtspraxis zu Art. 25 Abs. 1 MVG neu überdacht werden müsse. Es erklärte hiezu, die auf der Grundlage des mittleren Jahresverdienstes berechneten Integritätsrenten gemäss der mit den Urteilen Gysler (EVGE 1966 S. 148) und Lendi (EVGE 1968 S. 88) begründeten Praxis seien von Anfang an zu grosszügig bemessen gewesen. Da der besagte Mittelwert im Laufe der Jahre der Entwicklung sowohl der Teuerung als auch der Löhne gefolgt sei, hätten sich mit der Zeit Entschädigungen für Integritätseinbussen ergeben, die in einem immer grösseren Missverhältnis zum jeweiligen Schaden gestanden hätten. Die Kumulierbarkeit von Invalidenrente und Integritätsentschädigung im Rahmen von Art. 25 Abs. 3 MVG müsste deshalb exzessive Gesamtleistungen zur Folge haben, wenn weiterhin die bisherige Mittelwert-Praxis angewendet würde. Die Kumulationsfrage könne demzufolge nur befriedigend gelöst werden, wenn auch die Bemessungspraxis für die reine Integritätsrente gemäss Art. 25 Abs. 1 MVG geändert werde. Das BAMV entschied daraufhin, die Verwaltungspraxis mit Wirkung ab 1. Januar 1985 dahin zu ändern, dass inskünftig alle Integritätsrenten (Art. 25 Abs. 1 und 3) neu auf der Berechnungsgrundlage von Fr. 15'000.-- zugesprochen würden, wobei im Rahmen von Art. 25 Abs. 3 die Leistungen voll zu kumulieren seien. Dagegen würde am Leistungsansatz von 85% und der Art und Weise der Feststellung der Integritätseinbusse weiterhin festgehalten. Im folgenden ist zu prüfen, ob diese Verwaltungspraxis geschützt werden kann.

4. a) Für die Beantwortung der im Urteil Andres ( BGE 110 V 117 ) offengebliebenen Frage, wie der Zuschlag für die Abgeltung des Integritätsschadens im Bereiche von Art. 25 Abs. 3 MVG zu bemessen sei, ist wegleitend davon auszugehen, dass das Mass der Entschädigung für Integritätseinbussen im Rahmen der Absätze 1 und 3 nach der gleichen Methode zu bestimmen ist. Die Entschädigung für Integritätsverluste soll für alle gleich sein, ob diese mit einer Erwerbsunfähigkeit verbunden sind oder nicht. Denn es wäre stossend, wenn der gleiche Integritätsschaden nicht in gleichem
BGE 112 V 376 S. 383
Umfange entschädigt würde, je nachdem ob ein Anwendungsfall von Absatz 1 oder Absatz 3 MVG vorliegt. Die Ansprüche aus Erwerbsunfähigkeit und Integritätsschaden müssen deshalb im Bereiche von Art. 25 Abs. 3 MVG voll kumulierbar sein. Wie das BAMV zutreffend festhält, steht dem der Wortlaut von Art. 25 Abs. 3 MVG nicht entgegen. Auch entstehungsgeschichtliche Motive zu Art. 25 Abs. 3 MVG oder die Rechtsnatur der Abgeltungen für Integritätsschäden vermögen, zumal die Integritätsrente als Leistung mit Genugtuungscharakter anerkannt ist, die volle Kumulierbarkeit nicht auszuschliessen.
b) Das Urteil Andres ist in diesem Sinne zu präzisieren, soweit es dahin verstanden wurde, dass nur eine Teilkumulation zulässig sei. Beigefügt sei, dass die Erwerbsunfähigkeit lediglich aus Gründen der Praktikabilität den Ausgangspunkt für die Ermittlung der Gesamtrente gemäss Art. 25 Abs. 3 MVG bildet und nur insofern der Invalidenrente eine gewisse Priorität zukommt; das quantitative Verhältnis zwischen Invalidenrente und Entschädigung für Integritätsverlust ist ohne Bedeutung. Soweit das Urteil Andres anders aufgefasst wurde, wird es hiermit ebenfalls klargestellt.

5. a) Für die Berechnung der Integritätsrente waren bislang ein Leistungsansatz von 85% und der Mittelwert zwischen dem gesetzlichen Verdienstmaximum und dem gesetzlichen Verdienstminimum massgebend ( BGE 110 V 120 Erw. 1a, BGE 105 V 322 Erw. 1a, EVGE 1968 S. 88 und 1966 S. 148). Bei der Begründung dieser Rechtspraxis im Urteil Gysler (BGE 1966 S. 148) betrug dieser Mittelwert Fr. 12'000.--. Im Bundesbeschluss über die Anpassung der Leistungen der Militärversicherung an die veränderten Erwerbseinkommen vom 6. Oktober 1972 wurde mit Art. 4 der genannte Mittelwert erstmals der Reallohnentwicklung angepasst und neu mit Fr. 22'749.-- festgelegt (AS 1972 2416; BBl 1972 I 728). Dies geschah gestützt auf den am 19. Dezember 1963 eingeführten Art. 25bis MVG (AS 1964 253), der bestimmte, dass die Renten der Teuerung und den veränderten Erwerbseinkommen anzupassen sind (BBl 1963 I 858; siehe auch BBl 1969 I 291 ff.). Es folgten weitere Anpassungen mit den Bundesbeschlüssen vom 4. Oktober 1974 (Art. 5; AS 1974 1538; BBl 1974 I 619; Fr. 28'260.--) und vom 9. Oktober 1981 (Art. 4 Abs. 2; AS 1981 1638; BBl 1981 I 661; Fr. 37'475.--). Mit Art. 4 Abs. 2 der Verordnung vom 19. Oktober 1983 (AS 1983 1543) erhöhte der Bundesrat, der aufgrund des auf den 1. Januar 1984 revidierten Art. 25bis MVG (vgl. Art. 117 UVG ) nunmehr auch für die
BGE 112 V 376 S. 384
Anpassung der Renten an die veränderten Erwerbseinkommen zuständig geworden war, den Durchschnittsverdienst auf Fr. 41'972.--. Dem BAMV ist beizupflichten, dass die volle Kumulation von Invalidenrente und Integritätszuschlag unangemessen hohe Leistungen zur Folge hätte, wenn letzterer auf der Grundlage von Fr. 37'475.-- (ab 1982) bzw. Fr. 41'972.-- (ab 1984) berechnet würde. Es ist deshalb zu Recht nach einer neuen Lösung gesucht worden.
b) Dazu war das BAMV in formeller Hinsicht berechtigt. Mit den obgenannten Bestimmungen über die Anpassung des für die Berechnung der Integritätsrente massgebenden Durchschnittsverdienstes an die veränderten Erwerbseinkommen (wie auch in den bundesrätlichen Verordnungen über die Teuerungsanpassung vom 26. November 1975 - Art. 3/AS 1975 2267 - und vom 14. November 1979 - Art. 4/AS 1979 2056) wurde nicht dieser Mittelwert in normativer Weise als verbindlich erklärt. Wenn darin festgehalten wurde, um wieviel der Mittelwert aufgrund der Teuerung bzw. der Lohnentwicklung anzuheben ist, so kommt dem Umfang dieser Erhöhung wie auch der Tatsache, dass eine Anpassung an die veränderten Verhältnisse vorgenommen wurde, keine normative Kraft und Verbindlichkeit zu. Normativen Charakter haben die genannten Bestimmungen nur insoweit, als darin eine Erhöhung des höchstanrechenbaren Jahresverdienstes enthalten ist, während der neue Mittelwert lediglich eine rein rechnerische Anpassung ohne normative Bedeutung darstellt. Die Massgeblichkeit des Mittelwertes beruhte mithin nicht auf einem Erlass, sondern trotz der genannten Beschlüsse und Verordnungen nach wie vor auf der durch die Urteile Gysler und Lendi eingeleiteten Rechtspraxis. Davon durfte die Verwaltung abweichen, da hiefür im Anschluss an das Urteil Andres zureichende Gründe bestanden.
c) Die neue Lösung des BAMV lautet dahin, die Integritätsrenten ab 1. Januar 1985 nicht mehr nach Massgabe des Mittelwertes zwischen dem Verdienstmaximum und dem Verdienstminimum, sondern auf der Grundlage von Fr. 15'000.-- (und wie bisher eines Leistungsansatzes von 85%) zu berechnen. Das ist indes nicht haltbar, da diese neue Verwaltungspraxis im Rahmen von Art. 25 Abs. 1 MVG die Leistungen massiv abbaut und auch im Bereiche von Art. 25 Abs. 3 MVG keine angemessenen Lösungen erlaubt. Überdies wäre fraglich, ob eine so abrupte einschneidende Praxisänderung mit dem Vertrauensprinzip vereinbar wäre.
BGE 112 V 376 S. 385
Das BAMV hat mit der neuen Rentenbasis von Fr. 15'000.-- offenkundig eine gewisse Angleichung an die Integritätsentschädigung bei der obligatorischen Unfallversicherung beabsichtigt (siehe auch MAULER, La réparation du tort moral dans l'assurance militaire, in SJZ 81/1985 S. 333, insbesondere S. 340). Angesichts der Sondersituation auf dem Gebiet der Militärversicherung (Wehrpflicht, besonderes Rechtsverhältnis, erhöhtes Unfallrisiko, Staatshaftung, Entschädigung in Rentenform usw.) und der leistungsbestimmenden Faktoren bei der Unfallversicherung (namentlich die Belastbarkeit der Versicherungsträger) sind jedoch Vergleiche nicht schlüssig; die Herabsetzung der Leistungen der Militärversicherung im Hinblick auf die Ansätze bei der obligatorischen Unfallversicherung entbehrt eines zureichenden sachlichen Grundes.

6. Demgegenüber ermöglicht die mit den Urteilen Gysler (EVGE 1966 S. 148) und Lendi (EVGE 1968 S. 88) eingeführte Praxis des Mittelwertes auch im Anschluss an das Urteil Andres ( BGE 110 V 117 ) und die volle Kumulierbarkeit der Ansprüche (vorstehend Erw. 4) sachgerechte Lösungen. Diese Rechtsprechung hatte anfänglich - entgegen der Auffassung der Militärversicherung - durchaus verhältnismässige Leistungen begründet. Wenn es im Laufe der Jahre zu überhöhten Entschädigungen der Integritätseinbussen gekommen ist, so ist das nicht auf den Mittelwert gemäss den Urteilen Gysler und Lendi als Prinzip, sondern auf die Tatsache zurückzuführen, dass dieser Mittelwert ab 1972 nicht nur der Teuerung, sondern zusätzlich auch der Lohnentwicklung fortlaufend angepasst wurde. Das war offensichtlich nicht sachgerecht, da die Integritätsrenten von der Lohnentwicklung nicht berührt werden. Wie bereits im Urteil Gysler erkannt wurde, hat der Integritätsschaden und seine Abgeltung mit Lohn nichts zu tun, weshalb dieser keine geeignete Berechnungsgrundlage für die Integritätsrente bilden kann. Obgleich in diesem Urteil die massgebende Berechnungsgrundlage mit dem Mittelwert zwischen dem gesetzlichen Verdienstmaximum von Fr. 21'000.-- und dem Verdienstminimum von Fr. 3'000.-- festgelegt wurde, handelte es sich dennoch um eine Grösse ohne Lohncharakter. Der Mittelwert ist demzufolge der Lohnentwicklung nicht anzupassen. Wenn Art. 25bis MVG generell "die Renten" erwähnt, so kann sich die Bestimmung, soweit es um die Anpassung an die eingetretene Änderung der Erwerbseinkommen geht, vernünftigerweise nur auf die Invaliden- und Hinterlassenenrenten beziehen. Die bisherige
BGE 112 V 376 S. 386
Praxis zu Art. 25 Abs. 1 MVG ist mithin zu korrigieren, indem der im Jahre 1966 gültige Mittelwert von Fr. 12'000.-- lediglich der seitherigen Entwicklung der Konsumentenpreise angepasst wird. Danach beträgt der im Jahre 1983 massgebende Mittelwert rund 25'400 Franken (Fr. 12'000.-- x 2,12). Diese Lösung erlaubt nicht nur für Tatbestände des Art. 25 Abs. 3 MVG , sondern auch im Rahmen von Art. 25 Abs. 1 MVG angemessene Abgeltungen, indem die bisher aus den obgenannten Gründen überhöhten Leistungen auf ein sachgerechtes Mass zurückgestuft werden. Beizufügen bleibt, dass das BAMV zu gebotener Zeit die jeweils notwendige Anpassung an die zwischenzeitliche Teuerung vorzunehmen haben wird.

7. a) Das BAMV hat auch in der Frage des Rentenauskaufs gemäss Art. 25 Abs. 2 MVG eine neue Verwaltungspraxis eingeführt, indem es in der Regel auch im Rahmen von Art. 25 Abs. 3 MVG die Integritätsrente auskauft. Es hat sich den Auskauf ausdrücklich auch für den vorliegenden Fall vorbehalten. Dieser neuen Praxis ist zuzustimmen. An der bisherigen Rechtsprechung, wonach der Auskauf nur für reine Integritätsrenten gemäss Art. 25 Abs. 1 MVG zugelassen war (EVGE 1956 S. 155), kann deshalb nicht festgehalten werden, weil der Zuschlag zur Abgeltung eines Integritätsschadens im Rahmen von Art. 25 Abs. 3 MVG nach den gleichen Regeln wie die reine Integritätsrente gemäss Art. 25 Abs. 1 MVG zu ermitteln und eine volle Kumulation der Ansprüche möglich ist. Wenn Art. 25 Abs. 2 MVG dem Wortlaut nach und unter dem Blickwinkel der Systematik primär auf Art. 25 Abs. 1 MVG Bezug nimmt, so schliesst das den Auskauf des Zuschlags für die Abgeltung eines Integritätsschadens im Bereiche von Art. 25 Abs. 3 MVG nicht aus. Mit der neuen Rechtsprechung zu Art. 25 Abs. 3 MVG sind die wesentlichen Motive für die Praxis gemäss EVGE 1956 S. 155 dahingefallen. Eine unterschiedliche Behandlung des Auskaufs in den Fällen von Art. 25 Abs. 1 und Abs. 3 MVG lässt sich sachlich nicht mehr rechtfertigen.
b) Beizufügen bleibt, dass die Entschädigung für Integritätsverluste sowohl in der Form der reinen Integritätsrente ( Art. 25 Abs. 1 MVG ) oder des Zuschlags zur Abgeltung eines Integritätsschadens ( Art. 25 Abs. 3 MVG ) als auch in der Form einer Auskaufssumme bei der Feststellung einer allfälligen Überentschädigung ( Art. 52 Abs. 1 MVG ) nicht zu berücksichtigen ist. Eine allfällige Überentschädigung ist grundsätzlich an der Gesamtheit der materiellen Einbussen zu messen. Es liesse sich deshalb nicht rechtfertigen, bei
BGE 112 V 376 S. 387
deren Ermittlung auch die Abgeltung für einen Integritätsschaden mit einzubeziehen.

8. a) Eine neue Rechtspraxis ist grundsätzlich auf die im Zeitpunkt der Änderung noch nicht erledigten sowie auf künftige Fälle anwendbar ( BGE 108 V 3 mit Hinweisen). Deshalb ist der Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Rente gemäss Art. 25 Abs. 3 MVG für die Zeit ab 1. April 1983 nach der hievor dargelegten Berechnungspraxis festzulegen. Dem steht, wie sich aus Erw. 5b hievor ergibt, Art. 4 Abs. 2 des Bundesbeschlusses vom 9. Oktober 1981 bzw. Art. 4 Abs. 2 der bundesrätlichen Verordnung vom 19. Oktober 1983 nicht entgegen.
b) Aus dem Gesagten folgt, dass der Beschwerdeführer für die Zeit ab 1. April 1983 Anspruch auf eine Invalidenrente hat, die auf der Basis einer Invalidität von 20% und des im vorliegenden Fall anrechenbaren Jahresverdienstes von Fr. 30'000.-- zu ermitteln ist. Zu dieser ist ein Integritätsschadenszuschlag hinzuzuzählen, der nach Massgabe einer Integritätseinbusse von 20% und auf der Grundlage einer Rentenbasis von Fr. 25'400.-- zu berechnen ist. Die Sache geht an die Verwaltung zurück, damit diese über die Rente gemäss Art. 25 Abs. 3 MVG im hievor genannten Sinne verfügungsweise befinde.

Dispositiv

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 20. November 1984 und die Verfügung des Bundesamtes für Militärversicherung vom 23. November 1983 aufgehoben und es wird die Sache an das Bundesamt zurückgewiesen, damit es im Sinne der Erwägungen verfahre.

Diese Seite ist durch reCAPTCHA geschützt und die Google Datenschutzrichtlinie und Nutzungsbedingungen gelten.

Feedback
Laden