Urteilskopf
113 Ia 241
39. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 23. April 1987 i.S. Sozialdemokratische Partei Ostermundigen gegen Einwohnergemeinde Bern, Vereinigte Schützengesellschaften der Stadt Bern und Regierungsrat des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste
Art. 85 lit. a und 88 OG
; Legitimation einer politischen Partei zur Anfechtung einer teilweisen Nichtgenehmigung und Abänderung eines kommunalen Lärmschutzreglementes durch die Aufsichtsbehörde.
1. Die Beschwerdeführerin ist zur Beschwerde wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte nicht legitimiert, da sie einzig öffentliche Interessen wahrnimmt (E. 1).
2. Auch die Stimmrechtsbeschwerde ist unzulässig, da die Frage, ob eine kantonale Aufsichts- bzw. Genehmigungsbehörde eine kommunale Vorlage teilweise nicht genehmigen und abändern durfte, von hier nicht vorliegenden Ausnahmen abgesehen keine solche der Verletzung des Stimmrechts darstellt (E. 2).
3. Da die Beschwerdeführerin weder aufgrund von Art. 85 lit. a noch
Art. 88 OG
zur staatsrechtlichen Beschwerde legitimiert ist, ist sie auch nicht befugt, vorfrage- oder hilfsweise eine Verletzung der Gemeindeautonomie zu rügen (E. 3). Hingegen kann sie sich - ungeachtet der fehlenden Legitimation in der Sache selbst - über die Verletzung jener Parteirechte beklagen, die ihr nach dem kantonalen Verfahrensrecht zustehen (E. 4).
Der Grosse Gemeinderat von Ostermundigen beschloss am 22. März 1984 ein neues Reglement zum Schutz vor Lärm (Lärmschutzreglement), das in Art. 14 auch Vorschriften über den Schiessbetrieb auf dem Schiessplatz Oberfeld enthielt. Dagegen reichten die Einwohnergemeinde Bern und die Vereinigten Schützengesellschaften der Stadt Bern (VSGB) Einsprache ein, die sich in verschiedener Hinsicht gegen die in der genannten Bestimmung vorgesehenen Einschränkungen des Schiessbetriebs richtete. Aufgrund eines von der POCH Ostermundigen ergriffenen Referendums kam es am 23. September 1984 zu einer Gemeindeabstimmung, in welcher das Lärmschutzreglement angenommen wurde. In der Folge wurde das Reglement von der Polizeidirektion des Kantons Bern mit Ausnahme von Art. 14 genehmigt; diese Vorschrift wurde insoweit im Sinne der erwähnten Einsprache abgeändert, als die zulässigen Schiesszeiten geringfügig verlängert wurden.
Gegen diesen Entscheid vom 14. Februar 1985 erhoben die Sozialdemokratische Partei Ostermundigen und acht weitere Beschwerdeführer beim Regierungsrat des Kantons Bern Beschwerde. Sie verlangten die Genehmigung der umstrittenen Bestimmung in der von den Stimmbürgern beschlossenen Form. Demgegenüber beantragten die Einwohnergemeinde Bern und die VSGB, die ebenfalls mit Beschwerde an den Regierungsrat gelangten,
BGE 113 Ia 241 S. 243
eine gegenüber dem Entscheid der Polizeidirektion grosszügigere Regelung des Schiessbetriebes.
Mit Entscheid vom 29. Januar 1986 hiess der Regierungsrat des Kantons Bern sowohl die Beschwerden der Sozialdemokratischen Partei Ostermundigen und der weiteren acht Beschwerdeführer wie diejenige der Einwohnergemeinde Bern und der VSGB teilweise gut, änderte in diesem Sinne Art. 14 des Lärmschutzreglementes ab und bestätigte im übrigen den Genehmigungsbeschluss der Polizeidirektion. Die Kosten wurden sämtlichen Beschwerdeführern je zu 1/11 auferlegt.
Gegen diesen Entscheid führt die Sozialdemokratische Partei Ostermundigen staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht wegen Verletzung von
Art. 4 BV
und der Gemeindeautonomie sowie sinngemäss auch wegen Verletzung des politischen Stimmrechts (
Art. 85 lit. a OG
).
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
Aus den Erwägungen:
1.
Die Beschwerdeführerin rügt vorab eine Verletzung verfassungsmässiger Rechte im Sinne von
Art. 84 Abs. 1 lit. a OG
, indem sie dem Regierungsrat vorwirft, in seinem Entscheid Art. 46 des Gemeindegesetzes des Kantons Bern vom 20. Mai 1973 (GG) i.V.m. Art. 35 und 43 Abs. 1 Ziff. 3 der Gemeindeordnung von Ostermundigen vom 6. Juni/23. August 1982 (GO) verletzt und dem Lärmschutzreglement willkürlich die Genehmigung versagt zu haben.
b) Nach
Art. 88 OG
steht das Recht, staatsrechtliche Beschwerde zu führen, Bürgern (Privaten) und Korporationen bezüglich solcher Rechtsverletzungen zu, die sie durch allgemein verbindliche oder sie persönlich treffende Erlasse oder Verfügungen erlitten haben. Nach ständiger Rechtsprechung ermöglicht die staatsrechtliche Beschwerde der Beschwerdeführerin somit lediglich die Geltendmachung ihrer persönlichen rechtlich geschützten Interessen. Zur Verfolgung rein tatsächlicher Interessen oder allgemeiner öffentlicher Interessen ist die staatsrechtliche Beschwerde nicht gegeben. Die Tatsache, dass die Beschwerdeführerin im kantonalen Verfahren Parteistellung innehatte, vermag daran nichts zu ändern, denn die Legitimation im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren beurteilt sich ausschliesslich nach
Art. 88 OG
(
BGE 110 Ia 74
E. 1 mit Hinweisen).
BGE 113 Ia 241 S. 244
Nach ständiger Rechtsprechung verschafft das allgemeine Willkürverbot, das bei jeder staatlichen Tätigkeit zu beachten ist, für sich allein der Betroffenen noch keine geschützte Rechtsstellung im Sinne von
Art. 88 OG
. Eine Legitimation zur Willkürbeschwerde besteht erst dann, wenn der angefochtene Entscheid die Beschwerdeführerin in ihrer vorhandenen Rechtsstellung berührt und damit in ihre rechtlich geschützten Interessen eingreift. Die Geltendmachung des Willkürverbots setzt somit eine Berechtigung in der Sache voraus. Aus
Art. 4 BV
folgt kein selbständiger allgemeiner Anspruch auf willkürfreies staatliches Handeln (
BGE 112 Ia 178
E. 3c;
BGE 110 Ia 75
E. 2a, je mit Hinweisen).
c) Die Beschwerdeführerin macht nicht geltend, selber im soeben dargelegten Sinn betroffen zu sein. Als privatrechtliche Vereinigung könnte ihr die Beschwerdelegitimation daneben allenfalls zur Wahrung der Interessen ihrer Mitglieder zugestanden werden. Dies setzte aber u.a. voraus, dass eine Mehrheit oder mindestens eine Grosszahl ihrer Mitglieder betroffen und zur staatsrechtlichen Beschwerde legitimiert wären (
BGE 112 Ia 33
E. 2a mit Hinweisen). Die Beschwerdeführerin legt aber nicht dar, inwiefern eine Mehrheit oder zumindest eine Grosszahl ihrer Mitglieder aufgrund ihrer nachbarlichen Beziehung zum Schiessplatz Oberfeld von den Auswirkungen des Schiessbetriebs in einem besonderen Mass beeinträchtigt würden. Sie macht lediglich geltend, sämtliche Mitglieder seien als stimmberechtigte Gemeindebürger durch den angefochtenen Entscheid betroffen, da dadurch die allgemeinen Interessen der Gemeinde berührt würden. Zur Wahrung solcher öffentlicher Interessen ist indessen die Beschwerdeführerin - wie ausgeführt - nicht legitimiert. Es liegt im Ergebnis eine Popularbeschwerde vor, die nicht zulässig ist (vgl. dazu WALTER KÄLIN, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, Bern 1984, S. 226/227). Auf die Beschwerde ist deshalb insoweit ohne Prüfung weiterer Sachurteilsvoraussetzungen nicht einzutreten.
2.
Im weiteren rügt die Beschwerdeführerin der Sache nach, der Regierungsrat habe mit seinem Entscheid in das politische Stimmrecht ihrer Mitglieder eingegriffen. Sie führt dazu aus, gemäss Art. 35 i.V.m. Art. 43 Abs. 1 Ziff. 3 GO entscheide die Stimmbürgerschaft von Ostermundigen über Fragen des Lärmschutzes, insbesondere wenn das Referendum ergriffen worden sei. Indem der Regierungsrat seinerseits eine Zweckmässigkeitsprüfung vorgenommen habe, habe er politische Rechte der Stimmbürger ausgehöhlt.
BGE 113 Ia 241 S. 245
a) Neben den stimmberechtigten Bürgern sind grundsätzlich auch die politischen Parteien, die im Gebiet des betreffenden Gemeinwesens tätig sind, zur Erhebung einer Stimmrechtsbeschwerde befugt (
BGE 111 Ia 116
E. 1a mit Hinweisen). Dies trifft auf die Beschwerdeführerin zu, weshalb sie insofern grundsätzlich zur Beschwerde legitimiert ist. Im folgenden ist zu prüfen, ob der angefochtene Beschluss Gegenstand einer Stimmrechtsbeschwerde sein kann.
b) Der Regierungsrat hat nicht das Resultat der Abstimmung abgeändert, d.h. die Rechtmässigkeit der Abstimmung über das Lärmschutzreglement oder die Ermittlung des Abstimmungsresultates in Frage gestellt. Er hat vielmehr im Genehmigungsverfahren aus Gründen des übergeordneten eidgenössischen Rechts (MO) eine Bestimmung des Reglementes teilweise abgeändert bzw. der ursprünglichen Fassung die Genehmigung versagt. Dies erfolgte kraft der dem Staat gemäss Staatsverfassung und Gemeindegesetz (Art. 44 ff. GG) zustehenden Oberaufsicht über die Gemeinden. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung stellt die Frage, ob eine kantonale Aufsichts- bzw. Genehmigungsbehörde eine kommunale Vorlage nicht bzw. nur teilweise genehmigen durfte, keine solche der Verletzung des Stimmrechts dar. Dies gilt selbst dann, wenn die kantonale Behörde in einer an und für sich in die Kompetenz der Gemeindeversammlung fallenden Angelegenheit selber eine sachliche Anordnung trifft und die Angelegenheit insoweit der freien Beurteilung durch den Stimmbürger entzieht (
BGE 111 Ia 137
E. 3;
BGE 100 Ia 429
/430; Urteil vom 20. September 1978 in: ZBl 80/1979 S. 94; vgl. auch WALTER KÄLIN, a.a.O., S. 163 A. 179; ANDREAS AUER, Les droits politiques dans les cantons suisses, Genève 1978, S. 77/78; ANDREAS AUER, Die schweizerische Verfassungsgerichtsbarkeit, Basel 1984, S. 233). Auch eine Beschwerde wegen Verletzung des Grundsatzes der Gewaltentrennung scheidet hier nach der Natur der Sache aus (vgl.
BGE 111 Ia 137
E. 3).
Ausnahmsweise ist nach der erwähnten Rechtsprechung die Stimmrechtsbeschwerde dann zulässig, wenn die Anordnung der kantonalen Behörde darauf hinausläuft, dass die Mitwirkungsrechte der Stimmberechtigten in einem wesentlichen Teilbereich der kommunalen Selbstverwaltung überhaupt ausgeschaltet werden (
BGE 100 Ia 430
mit Hinweisen; Urteil vom 20. September 1978, a.a.O., S. 94). Ein solcher Ausnahmefall liegt indessen hier angesichts des Umstands, dass die kantonalen Behörden die ursprüngliche Fassung des Lärmschutzreglementes insgesamt eher
BGE 113 Ia 241 S. 246
geringfügig abgeändert haben, klarerweise nicht vor. Auf die Stimmrechtsbeschwerde kann deshalb ebenfalls nicht eingetreten werden.
3.
Die Beschwerdeführerin rügt auch die Verletzung der Gemeindeautonomie. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist der Private, der wegen Verletzung anderer verfassungsmässiger Rechte staatsrechtliche Beschwerde führt, befugt, vorfrage- oder hilfsweise auch eine Verletzung der Gemeindeautonomie zu rügen. Der Private kann also somit die Rüge der Autonomieverletzung nicht als selbständigen Beschwerdegrund vorbringen, sondern nur zur Unterstützung einer andern Verfassungsrüge, zu deren Erhebung er legitimiert ist (
BGE 105 Ia 48
E. 2;
BGE 100 Ia 428
/429, je mit Hinweisen). In gleicher Weise kann die Frage, ob ein kantonaler Entscheid die Gemeindeautonomie verletze, auch im Rahmen einer Stimmrechtsbeschwerde nach
Art. 85 lit. a OG
aufgeworfen werden. Voraussetzung ist jedoch, dass ein Eingriff in die politischen Rechte der Stimmbürger vorliegt; nur dann ist der einzelne Stimmberechtigte oder die politische Partei, welche die Interessen der Mitglieder wahrnimmt, gestützt auf
Art. 85 lit. a OG
zur Beschwerde legitimiert (
BGE 100 Ia 429
mit Hinweis). Da jedoch die Beschwerdeführerin weder aufgrund von
Art. 88 OG
noch
Art. 85 lit. a OG
legitimiert ist, staatsrechtliche Beschwerde zu führen, ist sie auch nicht befugt, vorfrage- oder hilfsweise eine Verletzung der Gemeindeautonomie zu rügen.
4.
In verfahrensrechtlicher Hinsicht macht die Beschwerdeführerin geltend, der Regierungsrat habe ihr unter Verletzung von Art. 55 des kantonalen Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege vom 22. Oktober 1961 (VRPG) keine Gelegenheit gegeben, sich zur Beschwerde der Einwohnergemeinde Bern und den VSGB vernehmen zu lassen. Zu dieser Rüge ist sie - ungeachtet der fehlenden Legitimation in der Sache selbst - befugt (
BGE 110 Ia 75
E. 2a mit Hinweis). Die Auslegung und Anwendung von Art. 55 VRPG prüft das Bundesgericht indessen nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür (
BGE 110 Ia 85
E. 3b mit Hinweisen).
Art. 55 VRPG besagt, dass die Beschwerde oder Klage der beklagten Partei unter Ansetzung einer angemessenen Antwortfrist zugestellt werde. Die Beschwerdeführerin einerseits und die Einwohnergemeinde Bern sowie die VSGB andererseits waren im Verfahren vor dem Regierungsrat nicht formelle Gegenparteien. Die Beschwerde der Einwohnergemeinde Bern und der VSGB richtete sich weder der Form noch der Sache nach gegen die
BGE 113 Ia 241 S. 247
Beschwerdeführerin. Diese Beschwerde und diejenige der heutigen Beschwerdeführerin betrafen auch nicht dieselben Punkte des Entscheids der Polizeidirektion. Unter diesen Umständen ist die Auffassung der kantonalen Behörden, der Beschwerdeführerin habe unter dem Gesichtswinkel von Art. 55 VRPG keine Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt werden müssen, nicht unhaltbar. Insoweit erweist sich die Rüge der Beschwerdeführerin als unbegründet.