Urteilskopf
113 Ia 353
54. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 27. November 1987 i.S. Eheleute X. gegen Verwaltungsgericht des Kantons Aargau (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste
Enteignung von Nachbarrechten.
1. Bauarbeiten auf öffentlichem Grund können zu übermässigen Immissionen und, falls sie zu dulden sind, zur Enteignung des nachbarrechtlichen Abwehranspruches führen. Ein Entschädigungsbegehren ist daher als Forderung aus formeller Enteignung zu behandeln (E. 2).
2. Vorübergehende Störungen, die sich aus Bauarbeiten auf Nachbargrundstücken ergeben, sind in der Regel entschädigungslos hinzunehmen. Ersatz ist nur zu leisten, wenn die Einwirkungen ihrer Art, Stärke und Dauer nach aussergewöhnlich sind und zu einer beträchtlichen Schädigung von Nachbarn führen (E. 3).
Die Eheleute X. waren vom 1. April 1980 bis 31. März 1983 Mieter des Restaurants "Schönegg", Parzelle 3202, Bahnhofstrasse 2/Tägerhardstrasse/ Freistrasse in Wettingen. Sie schlossen jedoch das Restaurant bereits am 1. Oktober 1982, da es ihnen infolge der Bauarbeiten für die Bahnunterführung, der endgültigen Schliessung des SBB-Niveauüberganges sowie der überaus lärmigen Kanalisationsarbeiten, welche unmittelbar vor und neben der Liegenschaft Schönegg vorgenommen wurden, nicht mehr möglich sei, den Gastwirtschaftsbetrieb aufrecht zu erhalten. Mit Eingabe vom 21. Juli 1983 an die kantonale Schätzungskommission verlangten sie von der Einwohnergemeinde Wettingen und vom Staat Aargau eine Enteignungsentschädigung mit der Begründung, sie seien unzumutbaren übermässigen Immissionen ausgesetzt gewesen.
Mit Urteil vom 21. Februar 1984 wies die Schätzungskommission die Klage ab, im wesentlichen mit der Begründung, dass die zeitlich begrenzten Immissionen nicht übermässig gewesen seien.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, an welches die Eheleute X. den Entscheid der Schätzungskommission weiterzogen, wies ihre Beschwerde am 19. Dezember 1986 ebenfalls ab. Es vertrat die Auffassung, die von den Eheleuten X. geltend gemachten Nachteile seien nicht Folge einer formellen Enteignung, da die Eigentümer der Liegenschaft weder Land noch Rechte hätten abtreten müssen; doch stelle sich die Frage, ob eine materielle Enteignung gegeben sei. Vom Entzug einer wesentlichen Eigentümerbefugnis könne indessen nicht gesprochen werden; auch ein Sonderopfer liege nicht vor, da zahlreiche andere Grundeigentümer und Geschäftsinhaber an der Bahnhof- und Seminarstrasse in gleicher Weise betroffen worden seien.
Die Eheleute X. führen gegen diesen Entscheid staatsrechtliche Beschwerde. Sie rügen eine Verletzung von
Art. 4 und 22ter BV
.
Das Bundesgericht weist die staatsrechtliche Beschwerde ab.
Aus den Erwägungen:
2.
Gegenstand der formellen Enteignung bilden auch nach aargauischem Recht nicht nur das Grundeigentum und beschränkte dingliche Rechte, sondern alle von der Eigentumsgarantie geschützten vermögenswerten Rechte, wie die aus dem Grundeigentum hervorgehenden Nachbarrechte, sowie die Rechte von Mietern und Pächtern der von der Enteignung betroffenen Grundstücke (§ 182 Abs. 1 BauG; ERICH ZIMMERLIN, Baugesetz des Kantons
BGE 113 Ia 353 S. 355
Aargau, Kommentar, 2. Auflage, Aarau 1982, N. 1 zu § 182, S. 468). Dazu zählt auch das in
Art. 684 ZGB
umschriebene Recht, das Unterlassen übermässiger Einwirkungen zu fordern. Sind diese unvermeidlich, ist der Abwehranspruch zu enteignen (
BGE 110 Ib 376
E. 2c zur analogen Regelung des Art. 5 des eidgenössischen Enteignungsgesetzes). Dabei können auch Mieter diesen Anspruch geltend machen, sofern sie am betroffenen Grundstück Besitz haben (
BGE 106 Ib 243
E. 2); doch bilden in diesem Falle deren vertraglichen Rechte Gegenstand der Enteignung. Sie können eine Entschädigung einzig für vorzeitige Vertragsauflösung oder für Beeinträchtigung des vertragsgemässen Gebrauchs der Sache bis zum Vertragsablauf oder zum nächsten Kündigungstermin verlangen (BGE
BGE 109 Ib 41
E. 6b;
BGE 106 Ib 245
f. E. 4).
a) Im vorliegenden Fall leiten die Beschwerdeführer ihre Entschädigungsansprüche aus den Strassen- und Kanalisationsbauarbeiten her, die auf dem benachbarten öffentlichen Grund ausgeführt wurden und die ihrer Meinung nach zu übermässigen Immissionen im Sinne von
Art. 684 ZGB
geführt haben. Im Zusammenhang mit diesen Arbeiten wurde im April 1981 der Niveauübergang über die SBB-Geleise geschlossen und ab August - nach der Darstellung der Beschwerdeführer bereits ab Ende Juli 1982 - wurden verhältnismässig lärmintensive Bauarbeiten in unmittelbarer Nähe des Restaurants Schönegg durchgeführt sowie die Tägerhardstrasse und teilweise die Bahnhofstrasse geschlossen. Die Beschwerdeführer machen geltend, diese Einwirkungen hätten den vertragsgemässen Gebrauch des Mietobjektes verunmöglicht und sie zur Schliessung des Restaurants ab 1. Oktober 1982 genötigt. Hieraus sei ihnen bis zum Ablauf des Vertrages der geltend gemachte Schaden entstanden.
b) Die Schätzungskommission anerkannte die Zulässigkeit und Rechtzeitigkeit der nachträglichen Forderungsanmeldung, befand jedoch, die Immissionen seien nicht übermässig im Sinne von
Art. 684 ZGB
gewesen. Sie wies daher die Klage ab, wobei sie zum Eventualantrag der Beschwerdeführer feststellte, eine Entschädigung wegen materieller Enteignung sei nur möglich für Beschränkungen, die nicht nach den Vorschriften der formellen Enteignung zu entschädigen seien; im vorliegenden Fall sei jedoch wegen formeller Enteignung des nachbarrechtlichen Abwehranspruches eine Entschädigung verlangt und auch geprüft worden.
Wie dargelegt, ging das Verwaltungsgericht demgegenüber davon aus, die Eigentümer der Liegenschaft Schönegg hätten weder
BGE 113 Ia 353 S. 356
Land noch Rechte abtreten müssen, für die Entschädigungsansprüche gestellt werden könnten. Die Nachteile, die sich für die Beschwerdeführer als Mieter des Restaurants Schönegg aus der vorübergehenden Beeinträchtigung der Zufahrt ergeben hätten, seien nicht die Folge einer formellen Enteignung im Sinne von § 193 Abs. 1 lit. c BauG. Es stelle sich daher die Frage, ob eine materielle Enteignung oder ein anderer Entschädigungstitel vorliege, was das Gericht indessen verneinte.
c) Dieser Begründung des Verwaltungsgerichts kann nicht gefolgt werden. Die Verkehrsanordnungen, mit denen die an das Restaurant Schönegg anstossenden Strassen für den allgemeinen Verkehr vorübergehend gesperrt wurden, waren Folge der Bauarbeiten, die ab Ende Juli 1982 in unmittelbarer Nähe der Liegenschaft der Beschwerdeführer durchgeführt wurden. Solche Arbeiten können zu übermässigen Immissionen und, falls sie zu dulden sind, zur Enteignung des nachbarrechtlichen Abwehranspruches führen (
BGE 96 II 348
E. 6; ERICH ZIMMERLIN, a.a.O., N. 3 zu § 30, S. 170 sowie N. 11 zu §§ 65-68, S. 169). Die Beschwerdeführer, welche das Übermass der Einwirkungen behaupten, waren somit befugt, eine nachträgliche Forderung aus formeller Enteignung anzumelden. Das Verwaltungsgericht hätte daher das Begehren der Beschwerdeführer unter diesem Titel prüfen müssen.
Diese Feststellungen führen jedoch nicht ohne weiteres dazu, dass die Beschwerde gutzuheissen und die Sache zu neuem Entscheid an das Verwaltungsgericht zurückzuweisen ist. Obwohl das Gericht die Forderung der Beschwerdeführer nicht ausdrücklich unter dem Titel Enteignung nachbarrechtlicher Abwehransprüche geprüft hat, ergibt sich aus seinen Erwägungen mit genügender Deutlichkeit, dass es die Frage, ob die Beschwerdeführer übermässigen Einwirkungen ausgesetzt gewesen seien, verneint hat. Trifft diese Schlussfolgerung zu, so ist dem angefochtenen Entscheid im Ergebnis zuzustimmen, was zur Abweisung der Beschwerde führen muss, auch wenn der Auffassung des Gerichts, es gehe nicht um eine formelle Enteignung, nicht gefolgt werden kann. Von einer Verletzung von
Art. 4 BV
könnte unter diesen Umständen nicht gesprochen werden (
BGE 109 Ia 22
E. 2).
3.
Zu prüfen ist daher, ob das Verwaltungsgericht, ohne verfassungsmässige Rechte der Beschwerdeführer zu verletzen, übermässige Einwirkungen verneinen sowie - falls es darauf ankäme - den Nachweis des Schadens und dessen Kausalzusammenhang mit dem schädigenden Ereignis als nicht gegeben erachten
BGE 113 Ia 353 S. 357
durfte. Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung haben Grundeigentümer bzw. Mieter als Besitzer vorübergehende Störungen, die sich aus Bauarbeiten auf den Nachbarparzellen ergeben, in der Regel entschädigungslos hinzunehmen. Ersatz ist nur zu leisten, wenn die Einwirkungen ihrer Art, Stärke und Dauer nach aussergewöhnlich sind und zu einer beträchtlichen Schädigung von Nachbarn führen (vgl.
BGE 93 I 295
ff.;
BGE 91 II 107
E. 3;
BGE 83 II 383
; nicht publizierte Entscheide des Bundesgerichts vom 16. Juli 1984 i.S. Staat Bern c. Lehmann, E. 4a, vom 30. November 1983 Wegmüller/Kressmann E. 4). (...)