Urteilskopf
113 Ia 43
8. Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 11. Februar 1987 i.S. K., B. und S. gegen Regierungsrat des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste
Art. 85 lit. a OG
; Art. 88 des bernischen Gesetzes über die politischen Rechte; Bezirksratswahlen, neuer Wahlgang.
Ein Stimmberechtigter kann sein Stimm- bzw. Wahlrecht als verletzt rügen, wenn ein Bürger zur Wahl in eine Behörde vorgeschlagen wird, der nicht vorschriftsgemäss aufgestellt worden ist (E. 2).
Am 8. Juni 1986 fand die Wahl des Bezirksrates Laufental statt. Für den Wahlkreis Roggenburg war ein Vertreter zu wählen. Dem Stimmbürger lagen drei Wahlvorschläge vor. Als Kandidaten waren F., S. und G. vorgeschlagen worden. F. hatte allerdings mündlich den Rückzug seiner Kandidatur erklärt, doch wurde dieser vom Regierungsstatthalter nicht anerkannt. G. war erst wenige Tage vor dem Wahltag vorgeschlagen worden, was der im Amtsblatt vom 5. März 1986 publizierten Wahlanordnung widersprach; dieser Anordnung gemäss konnten Vorschläge gültig nur bis zum 7. April 1986 eingereicht werden. Auf Grund einer mündlichen Auskunft der Staatskanzlei wurde G. trotzdem zur Wahl zugelassen.
In der Folge wurde G. mit 57 Stimmen gewählt. Dreissig Stimmen entfielen auf S. Dieser erhob zusammen mit K. und B. Wahlbeschwerde beim Regierungsrat mit dem Antrag, die Wahl von G. als ungültig und S. als gewählt zu erklären.
Mit Entscheid vom 9. Juli 1986 hob der Regierungsrat die Wahl des Vertreters der Gemeinde Roggenburg in den Bezirksrat Laufental vom 8. Juni 1986 auf und ordnete einen neuen Wahlgang auf den 28. September 1986 an. Als einziger Kandidat wurde G. erneut vorgeschlagen. Da innert der gesetzten Frist kein zweiter Wahlvorschlag einging, konnte das Verfahren der stillen Wahl zum Zuge kommen. Der Regierungsstatthalter erklärte demgemäss G. als gewählt.
Gegen den Entscheid des Regierungsrates vom 9. Juli 1986 reichten K., B. und S. staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung ihres Stimmrechts ein.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Beschwerdeführer sind als stimmberechtigte Einwohner von Roggenburg unbestrittenermassen zur Stimmrechtsbeschwerde gemäss
Art. 85 OG
legitimiert (
BGE 111 Ia 116
E. 1a mit Hinweisen). Auf ihre rechtzeitig eingereichte Beschwerde gegen die vom Regierungsrat verfügte Aufhebung der Wahl vom 8. Juni 1986 und die Anordnung einer Neuwahl ist daher einzutreten. Doch ist die staatsrechtliche Beschwerde grundsätzlich bloss kassatorischer Natur, was auch für die Stimmrechtsbeschwerde gilt (
BGE 107 Ia 219
E. 1b mit Hinweisen). Der Erlass positiver Anordnungen kann daher in der Regel nicht verlangt werden. Eine Ausnahme gilt nur, wenn der verfassungsmässige Zustand nicht schon mit der Aufhebung des angefochtenen Entscheides hergestellt wird. Eine solche Ausnahme besteht im vorliegenden Fall nicht. Deshalb ist auf die Beschwerde nicht einzutreten, soweit damit mehr als die Aufhebung des Regierungsratsentscheides verlangt wird.
2.
Bei Stimmrechtsbeschwerden prüft das Bundesgericht nicht nur die Auslegung von Bundesrecht und kantonalem Verfassungsrecht frei, sondern auch diejenige anderer kantonaler Vorschriften, welche den Inhalt des Stimm- und Wahlrechts normieren oder mit diesem in engem Zusammenhang stehen (
BGE 111 Ia 117
E. 2a, 202 E. 2, 285 E. 2;
BGE 110 Ia 181
E. 3a, mit Hinweisen).
a) Gemäss Art. 88 des bernischen Gesetzes über die politischen Rechte (GPR) kann mit Wahlbeschwerde geltend gemacht werden, dass Gemeinde- oder Staatsorgane bei der Vorbereitung oder Durchführung von Wahlen oder der Ermittlung der Wahlergebnisse gesetzliche Vorschriften verletzt haben.
Die Beschwerdeführer erhoben diesen Vorwurf im Verfahren vor dem Regierungsrat mit Erfolg. Sie machten geltend, dass der Kandidat G. nicht vorschriftsgemäss aufgestellt worden sei und dass F. seine Kandidatur zurückgezogen habe. Der Regierungsrat erachtete diese Einwendungen im wesentlichen als begründet. Doch zog er aus den aufgezeigten Mängeln nicht den von den Beschwerdeführern gewünschten Schluss, S. als gewählt zu erklären, sondern er hob die Wahl vom 8. Juni 1986 auf und ordnete eine neue Wahl an. Es fragt sich, ob er damit das Stimmrecht der Beschwerdeführer verletzte.
b) Das vom Verfassungsrecht des Bundes gewährleistete politische Stimmrecht gibt dem Bürger Anspruch darauf, dass kein Abstimmungsergebnis anerkannt wird, das nicht den freien Willen der Stimmbürger zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt (
BGE 111 Ia 198
mit Hinweis). Auch kann jeder Stimmberechtigte verlangen, dass ein Nichtstimmberechtigter von der Stimmabgabe ausgeschlossen wird (
BGE 109 Ia 46
E. 3a). In gleicher Weise muss er sich dagegen zur Wehr setzen können, dass ein Bürger zur Wahl in eine Behörde vorgeschlagen wird, der nicht ordnungsgemäss aufgestellt worden ist.
c) Die Beschwerdeführer erhoben daher mit Recht Wahlbeschwerde beim Regierungsrat. Doch sind sie zu Unrecht der Meinung, der Regierungsrat hätte einzig die Wahl des zu spät aufgestellten Kandidaten als ungültig und den korrekt vorgeschlagenen Anwärter als gewählt erklären dürfen. Aus der Regel, dass kein Ergebnis einer Abstimmung oder Wahl anerkannt wird, das nicht den freien Willen der Stimmbürger zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt, folgt vielmehr, dass der Regierungsrat aus den festgestellten Mängeln die richtige Konsequenz zog.
Am Wahltag waren die Verhältnisse in der Tat unklar. Es lagen zwei der Wahlanordnung entsprechende Wahlvorschläge vor - F. und S. -, von denen der eine Kandidat nur mündlich den Rückzug erklärt hatte, was vom Regierungsstatthalter gemäss Verfügung vom 15. April 1986 nicht anerkannt worden war. Der hievon betroffene Kandidat, F., erhob gegen diese Nichtanerkennung keine Beschwerde, obschon im Streitfalle genügend Zeit zur
BGE 113 Ia 43 S. 46
Klärung der Frage der Gültigkeit seines Verzichts noch vor der Abstimmung vom 8. Juni 1986 zur Verfügung gestanden hätte. Es ist daher davon auszugehen, dass selbst dann, wenn man vom Vorschlag von G. absieht, eine stille Wahl nicht hätte erfolgen können.
Dazu kommt, dass gemäss Auskunft der Staatskanzlei die wenige Tage vor der Wahl eingereichte Kandidatur von G. als gültig bezeichnet wurde. Auch wenn diese Auskunft unrichtig war, hatte der Stimmbürger am Wahltag zwischen mehreren Kandidaten zu wählen. Ergibt sich nachträglich, dass zwei Kandidaten zu Unrecht zur Wahl standen, so bestätigt dies die vom Regierungsrat festgestellte Unklarheit. Hätte etwa F. die Ablehnung seiner Kandidatur nach seiner Aufstellung sofort schriftlich erklärt, kann nicht ausgeschlossen werden, dass zehn Stimmberechtigte noch rechtzeitig einen anderen Vorschlag hätten einreichen können. Auch steht nicht von vornherein fest, wie die Stimmabgabe ausgefallen wäre, wenn die Stimmberechtigten am Wahltag von der Ungültigkeit des Vorschlags von G. gewusst hätten.
Die Anordnung eines zweiten Wahlganges war demgegenüber geeignet, alle Zweifel über den wirklichen Mehrheitswillen der Stimmberechtigten zu beseitigen. Dass es in der Folge zu einer stillen Wahl kam, ändert hieran nichts. S. hätte sich durch erneute Aufstellung zur Wahl stellen können, wobei es ihm nicht verwehrt gewesen wäre, an seiner Rechtsauffassung festzuhalten. Nachdem er für den zweiten Wahlgang nicht mehr von mindestens zehn Stimmberechtigten zur Wahl vorgeschlagen wurde und daher einzig der Vorschlag von G. vorlag, war dieser zu Recht als in stiller Wahl gewählt zu erklären.
3.
Die Beschwerde ist somit unbegründet und abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Von der Erhebung von Kosten ist entsprechend der bei Stimmrechtsbeschwerden üblichen Praxis abzusehen.