Urteilskopf
114 V 201
40. Auszug aus dem Urteil vom 7. September 1988 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen G. und Versicherungsgericht des Kantons Bern
Regeste
Art. 5 Abs. 1 lit. b und c und
Art. 25 Abs. 2 VwVG
: Begriff des schutzwürdigen Interesses als Voraussetzung für den Erlass einer Feststellungsverfügung.
Der Begriff des schutzwürdigen Interesses gemäss
Art. 25 Abs. 2 VwVG
ist in gleichem Sinne auszulegen wie bei der Anwendung der Vorschriften über die Beschwerdelegitimation gemäss
Art. 48 lit. a VwVG
und
Art. 103 lit. a OG
.
Demnach kann das schutzwürdige Interesse am Erlass einer Feststellungsverfügung rechtlicher oder tatsächlicher Natur sein.
Aus den Erwägungen:
2.
b) Gemäss
Art. 128 OG
beurteilt das Eidg. Versicherungsgericht letztinstanzlich Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Verfügungen im Sinne von
Art. 97 und 98 lit. b-h OG
auf dem Gebiet der Sozialversicherung. Hinsichtlich des Begriffs der mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde anfechtbaren Verfügungen verweist
Art. 97 OG
auf
Art. 5 VwVG
. Nach
Art. 5 Abs. 1 VwVG
gelten als Verfügungen Anordnungen der Behörden im Einzelfall, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen und zum
BGE 114 V 201 S. 202
Gegenstand haben die "Begründung, Änderung oder Aufhebung von Rechten oder Pflichten" (lit. a), die "Feststellung des Bestehens, Nichtbestehens oder Umfanges von Rechten oder Pflichten" (lit. b) sowie die "Abweisung von Begehren auf Begründung, Änderung, Aufhebung oder Feststellung von Rechten oder Pflichten, oder Nichteintreten auf solche Begehren" (lit. c).
c) Im Zusammenhang mit Art. 5 Abs. 1 lit. b und c ist
Art. 25 VwVG
zu beachten, welcher auch auf die von der Ausgleichskasse erlassenen Verfügungen analog anwendbar ist (
BGE 102 V 148
; MAURER, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Bd. I, S. 448 und 457). Nach
Art. 25 Abs. 2 VwVG
ist die Feststellungsverfügung zulässig, wenn der Gesuchsteller ein schutzwürdiges Interesse nachweist. Der Begriff des schutzwürdigen Interesses gemäss
Art. 25 Abs. 2 VwVG
ist nach dem Grundsatz der Einheit des Prozesses in gleichem Sinne auszulegen wie bei der Anwendung der Vorschriften über die Beschwerdelegitimation gemäss
Art. 48 lit. a VwVG
und
Art. 103 lit. a OG
(GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., 1983, S. 152 f.; GRISEL, Traité de droit administratif, Bd. II, S. 867 und 899).
In
BGE 102 V 150
Erw. 1 hat das Eidg. Versicherungsgericht im Rahmen von
Art. 25 Abs. 2 VwVG
das schutzwürdige Interesse als "rechtliches und aktuelles Interesse" umschrieben, ebenso im nicht publizierten Urteil E. vom 3. November 1982. In
BGE 109 V 59
Erw. 1 und
BGE 110 V 150
Erw. 2c zu
Art. 103 lit. a OG
hat es festgehalten, das schutzwürdige Interesse umfasse jedes "praktische oder rechtliche Interesse". In
BGE 112 V 84
Erw. 2a, in ZAK 1987 S. 360 Erw. 1a und in ZAK 1986 S. 573 Erw. 1a sowie im unveröffentlichten Urteil D. vom 29. Dezember 1987 ist das schutzwürdige Interesse (gemäss
Art. 25 Abs. 2 VwVG
) wieder als "rechtliches und aktuelles Interesse" definiert worden.
Auch das Bundesgericht hat in
BGE 100 Ib 327
Erw. 2 bezüglich
Art. 25 VwVG
das schutzwürdige Interesse bejaht, wenn ein "rechtliches und aktuelles Interesse" vorliege. In
BGE 101 Ib 109
Erw. 2 (bestätigt in
BGE 103 Ib 339
) hat es im Rahmen von
Art. 103 lit. a OG
ausgeführt, das schutzwürdige Interesse könne "rechtlicher oder tatsächlicher Natur" sein. Daran hat das Bundesgericht in
BGE 104 Ib 255
Erw. 7c unter Hinweis auf die ratio legis der
Art. 48 VwVG
und 103 lit. a OG festgehalten mit der ausdrücklichen Feststellung, dass für die Bejahung des schutzwürdigen Interesses ein faktisches Interesse genügt. In der Folge ist in
BGE 107 Ib 251
Erw. 2a und
BGE 108 Ib 546
Erw. 3 (im Rahmen von
BGE 114 V 201 S. 203
Art. 25 VwVG
) wieder die Formel des "rechtlichen und aktuellen Interesses" verwendet worden. Die neueste Rechtsprechung (zu
Art. 103 lit. a OG
) hält an der Umschreibung des schutzwürdigen Interesses als "rechtliches oder tatsächliches Interesse" fest (
BGE 111 Ib 18
Erw. 3,
BGE 112 Ib 41
Erw. 1a und 113 Ib 3 Erw. 2).
Dieser Überblick zeigt, dass die Rechtsprechung im Rahmen von
Art. 25 VwVG
das schutzwürdige Interesse regelmässig als rechtliches Interesse definierte, nebst dem zusätzlichen Erfordernis der Aktualität. Demgegenüber hat die Praxis zu
Art. 103 lit. a OG
auch ein rein tatsächliches Interesse als schutzwürdig erklärt (wobei aber das Erfordernis der Aktualität in der Regel nicht beigefügt wurde). Die von der Lehre geteilte Anerkennung tatsächlicher Interessen (GYGI, a.a.O., S. 152 f., GRISEL, a.a.O., S. 899) ist der Praxis, welche das schutzwürdige Interesse als ein bloss rechtliches umschreibt, vorzuziehen. Die zu
Art. 25 VwVG
ergangene Rechtsprechung ist daher in dem Sinne zu präzisieren, dass das schutzwürdige Interesse an einer Feststellung auch tatsächlicher Art sein kann. Darüber hinaus ist praxisgemäss selbstverständlich erforderlich, dass das Interesse - sei es rechtlicher oder tatsächlicher Natur - besonders, unmittelbar und aktuell sein muss. Der Anspruch auf Erlass einer Feststellungsverfügung ist demnach gegeben, wenn der Gesuchsteller ein solches rechtliches oder tatsächliches Interesse an der sofortigen Feststellung seines Rechtes hat, dem keine erheblichen öffentlichen oder privaten Interessen entgegenstehen, und wenn dieses schutzwürdige Interesse nicht durch eine rechtsgestaltende Verfügung gewahrt werden kann (
BGE 108 Ib 546
Erw. 3, 99 Ib 276 Erw. 3; ZAK 1987 S. 359 Erw. 1a, 1980 S. 628 Erw. 2, 1978 S. 458 Erw. 1; vgl. auch IMBODEN/RHINOW, Verwaltungsrechtsprechung, 5. Aufl., Nr. 36, S. 220 ff., insbesondere S. 223 lit. d).