BGE 115 IA 309 vom 30. Juni 1989

Datum: 30. Juni 1989

Artikelreferenzen:  Art. 6 EMRK, Art. 30 SVG , Art. 6 Ziff. 2 EMRK, Art. 90 SVG, Art. 30 Abs. 2 SVG, Art. 57 Abs. 1 VRV

BGE referenzen:  120 IA 147 , 114 IA 302

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

115 Ia 309


46. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 30. Juni 1989 i.S. S. gegen Staatsanwaltschaft und Präsidium des Landgerichts des Kantons Uri (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

Art. 6 Ziff. 2 EMRK ; Verweigerung einer Entschädigung bei Einstellung des Strafverfahrens.
Kostenauflage oder Verweigerung einer Entschädigung bei nichtverurteilendem Verfahrensabschluss verletzen die Unschuldsvermutung nicht nur dann, wenn der Text der Entscheidung eine direkte strafrechtliche Missbilligung enthält, sondern sind vielmehr auch dann unzulässig, wenn sich die strafrechtliche Missbilligung sonstwie aus dem Text der Entscheidung ergibt (E. 1).

Sachverhalt ab Seite 309

BGE 115 Ia 309 S. 309
Mit Strafverfügung vom 22. Juli 1985 auferlegte die Polizeidirektion Uri S. wegen Führens eines mit 500 kg überladenen Lieferwagens eine Busse von Fr. 160.--. Einen von S. gegen diese Strafverfügung erhobenen Rekurs wies die Staatsanwaltschaft Uri am 11. September 1985 ab. Gegen diesen Entscheid legte S. bei der Staatsanwaltschaft Einsprache ein. In der Folge stellte diese mit Verfügung vom 31. August 1988 das Strafverfahren ein, überband die Verfahrenskosten dem Staat und sprach S. eine Entschädigung von Fr. 200.-- zu.
Gegen diesen Entscheid rekurrierte S. an das Präsidium des Landgerichts Uri mit dem Begehren, die Einstellungsverfügung sei hinsichtlich der Entschädigung aufzuheben und ihm eine Entschädigung von Fr. 890.-- zuzusprechen. Mit Entscheid vom 17. Februar 1989 wies das Präsidium des Landgerichts den Rekurs ab. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus, S. habe nach seinen eigenen Angaben vor Antritt der Fahrt die einseitige
BGE 115 Ia 309 S. 310
Beladung des Lieferwagens festgestellt. Als gewissenhafter Chauffeur hätte er nach dieser Feststellung die in ca. 1 km Entfernung vom Verladeort befindliche Fahrzeugwaage aufsuchen müssen. Dass er dies nicht getan habe, sei ihm als ethisch vorwerfbares und damit i.S. von Art. 64 Abs. 1 Ziff. 2 der Strafprozessordnung des Kantons Uri vom 29. April 1980 (StPO) verwerfliches Verhalten anzurechnen, so dass sich eine teilweise Verweigerung der verlangten Entschädigung rechtfertige.
Das Bundesgericht heisst die von S. gegen diesen Entscheid erhobene staatsrechtliche Beschwerde gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. Der Beschwerdeführer macht zunächst geltend, die Vorinstanz lege ihm in der Begründung des angefochtenen Entscheids mit dem Vorwurf der Unterlassung des Wiegens des Fahrzeugs eine fahrlässige Verletzung von Verkehrsregeln zur Last. Da die Verweigerung der Ausrichtung einer Entschädigung an ihn damit durch den Vorwurf eines strafbaren Verhaltens begründet werde, verletze der Entscheid des Gerichtspräsidiums Art. 6 Ziff. 2 EMRK .
a) Gemäss Art. 6 Ziff. 2 EMRK wird bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld vermutet, dass der wegen einer strafrechtlichen Handlung Angeklagte unschuldig ist. Für einen nichtverurteilenden Verfahrensabschluss bedeutet dies, dass der verfahrensabschliessende Entscheid nicht den Eindruck des Bestehens strafrechtlicher Schuld erwecken darf. Mit dem das Verfahren abschliessenden Entscheid verbundene Kostenauflagen sind demnach unzulässig, wenn sich aus dem Text des Entscheids eine strafrechtliche Missbilligung ergibt, die in der Kostenauflage zum Ausdruck kommt ( BGE 114 Ia 302 E. 2b mit Hinweisen). Das gleiche gilt hinsichtlich der Verweigerung einer Entschädigung bei nichtverurteilendem Verfahrensabschluss (Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte i.S. Lutz, Englert und Nölkenböckhoff vom 25. August 1987, Publications de la Cour Européenne des Droits de l'Homme, Série A, Vol. 123, No 123-A Ziff. 60 = EuGRZ 1987, S. 402; No 123-B Ziff. 37 = EuGRZ 1987, S. 409; No 123-C Ziff. 37 = EuGRZ 1987, S. 413).
b) Das Präsidium des Landgerichts geht in der Begründung des angefochtenen Entscheids davon aus, der Beschwerdeführer habe ein Verhalten verwirklicht, welches bei richtiger Betrachtung einen
BGE 115 Ia 309 S. 311
der Tatbestände von Art. 90 SVG i.V.m. Art. 30 Abs. 2 SVG und Art. 57 Abs. 1 VRV erfüllt. Das Präsidium des Landgerichts macht dem Beschwerdeführer dieses Verhalten überdies zum Vorwurf, d.h. es legt ihm hinsichtlich der genannten Vorschriften ein Verschulden zur Last. Damit erweckt der angefochtene Entscheid, obwohl er dies nicht ausdrücklich ausspricht, den Eindruck strafrechtlicher Schuld, dass nämlich der Beschwerdeführer einen der Tatbestände von Art. 90 SVG rechtswidrig und schuldhaft verwirklicht habe. Dies ist nach der dargelegten Rechtsprechung unzulässig: Die Kostenauflage oder Verweigerung einer Entschädigung verstösst nicht nur dann gegen Art. 6 Ziff. 2 EMRK und ist daher unzulässig, wenn der Text einer Entscheidung eine direkte strafrechtliche Missbilligung enthält. Die Kostenauflage oder Verweigerung einer Entschädigung sind vielmehr auch dann unzulässig, wenn sich die strafrechtliche Missbilligung sonstwie aus dem Text der Entscheidung ergibt, d.h. wenn darin ein strafrechtlich relevanter Vorwurf nur implizit zum Ausdruck gelangt. Der angefochtene Entscheid verletzt demnach Art. 6 Ziff. 2 EMRK und ist aus diesem Grunde aufzuheben.

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