Urteilskopf
115 Ia 8
3. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 26. April 1989 i.S. S. gegen Obergericht (2. Strafkammer) des Kantons Aargau (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste
Art. 4 BV
; Anspruch auf rechtliches Gehör, Fristwahrung, vorweggenommene Beweiswürdigung.
1. Wird dem Verfahrensbeteiligten vor Erlass eines in seine Rechtsstellung eingreifenden Entscheids keine Gelegenheit gegeben, sich zu einer von der Behörde hinsichtlich der Fristwahrung eingeholten Auskunft zu äussern, obwohl diese Abklärung für die Willensbildung der Behörde wesentlich war, so wird dessen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt (E. 2).
2. Wenn ein Gericht in vorweggenommener Beweiswürdigung darauf verzichtet, beantragte Zeugen einzuvernehmen, prüft das Bundesgericht diesen Verzicht auf Willkür hin (E. 3a).
Mit Urteil vom 11. Juni 1987 sprach das Bezirksgericht Lenzburg S. des Fahrens in angetrunkenem Zustand, der Verweigerung der Blutprobe sowie der Gewalt und Drohung gegen Beamte schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingten Gefängnisstrafe von 21 Tagen und zu einer Busse von Fr. 1'500.--. Gegen dieses beim Verteidiger am 5. November 1987 eingegangene begründete Urteil reichte dieser namens S. mit vom 25. November 1987 datierter Eingabe beim Bezirksgericht Lenzburg die Berufung an das Obergericht des Kantons Aargau ein. Die Sendung war nicht eingeschrieben; das Couvert trug auf der Rückseite folgenden Vermerk:
Achtung:
Dieser Brief wurde mittels Einwurf in den Briefkasten der Post Zürich Riesbach der PTT übergeben am: 25.11.1987, 23.55 Uhr
Zeugen:
Frau F., (Adresse und Unterschrift)
Frau L., (Adresse und Unterschrift)
BGE 115 Ia 8 S. 10
Unterhalb dieser Angaben befanden sich zudem der Stempel des Advokaturbüros des Verteidigers und dessen Unterschrift.
Der Poststempel dieses Couverts trägt das Datum des 26. Novembers 1987, 12.00 Uhr.
Die Obergerichtskanzlei erkundigte sich am 25. April 1988 telefonisch beim Verwalter-Stellvertreter des Postamts Zürich Riesbach. Über das Ergebnis wurde folgende Aktennotiz erstellt:
Herr A. teilte mit, dass, wenn alles normal verlaufe, Briefe, welche am Vorabend in den Briefkasten geworfen werden, am anderen Tag um 7.00 Uhr abgestempelt und bereits dem Versand übergeben werden. Es sei unwahrscheinlich, dass dieser Brief bis 12.00 Uhr bei der Post Riesbach liegengeblieben sei.
Gestützt hierauf trat das Obergericht mit Urteil vom 9. Juni 1988 auf die Berufung nicht ein.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 BV
verlangt S. die Aufhebung dieses Urteils. Er beschwert sich über eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, beanstandet die obergerichtliche Beweiswürdigung als willkürlich und erblickt in der über sechsmonatigen Dauer des Berufungsverfahrens eine Rechtsverzögerung. Das Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde gut.
Aus den Erwägungen:
2.
a) Der Beschwerdeführer erblickt in der Tatsache, dass das Obergericht ihm keine Gelegenheit gab, zu der von der Gerichtskanzlei eingeholten Auskunft Stellung zu nehmen, um die aus dem Poststempel folgende Vermutung der verspäteten Postaufgabe zu widerlegen, eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Der Umfang dieses Anspruches wird zunächst durch die kantonalen Verfahrensvorschriften umschrieben; erst wo sich dieser Rechtsschutz als ungenügend erweist, greifen die unmittelbar aus
Art. 4 BV
folgenden bundesrechtlichen Minimalgarantien Platz. Da der Beschwerdeführer keine Verletzung kantonaler Verfahrensvorschriften rügt, ist einzig und zwar mit freier Kognition zu prüfen, ob unmittelbar aus
Art. 4 BV
folgende Regeln missachtet wurden (
BGE 114 Ia 98
f. E. 2,
BGE 113 Ia 82
f. E. 3a, je mit Hinweisen). Aufgrund der formellen Natur des Anspruchs auf rechtliches Gehör führt seine Verletzung ungeachtet der Erfolgsaussichten der Beschwerde in der Sache selbst zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids. Die entsprechenden Rügen sind deshalb vorweg zu prüfen (
BGE 111 Ia 166
E. 2a mit Hinweisen).
BGE 115 Ia 8 S. 11
b) Das rechtliche Gehör dient einerseits der Sachaufklärung, andererseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheides dar, welcher in die Rechtsstellung des Einzelnen eingreift (
BGE 112 Ia 3
mit Hinweisen). Dazu gehört insbesondere das Recht des Betroffenen, sich vor Erlass eines in seine Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen (
BGE 114 Ia 99
E. 2a,
BGE 106 Ia 162
E. 2b, je mit Hinweisen).
c) Das Obergericht hat die auf dem Briefumschlag der Berufungseingabe angebrachten Bestätigungen der beiden Zeuginnen für sich allein nicht als für die rechtzeitige Postaufgabe beweiskräftig erachtet. Es stellte aber auch nicht einfach auf die Zeitangabe auf dem Poststempel vom 26. November 1987, 12.00 Uhr ab, sondern hielt eine Erkundigung beim Postamt Zürich Riesbach für erforderlich. Aus dem angefochtenen Entscheid ergibt sich, dass diese Abklärung für die Willensbildung des Obergerichtes wesentlich war. Sie war zur Beeinflussung der Willensbildung auch objektiv geeignet, was auch der im Vergleich zur Aktennotiz der Obergerichtskanzlei etwas stärker differenzierende Bericht des Vorstehers des fraglichen Postamts an den Vertreter des Beschwerdeführers vom 15. Juli 1988 zeigt. Das Obergericht hätte dem Beschwerdeführer gemäss
Art. 4 BV
Gelegenheit geben müssen, entweder bei der Beweiserhebung selber mitzuwirken oder aber auf jeden Fall zum Ergebnis Stellung zu nehmen. Da dem Beschwerdeführer dieses Mitwirkungsrecht nicht eingeräumt wurde und das Obergericht den angefochtenen Nichteintretensentscheid auf diese Erkundigung abstützte, wurde der Gehörsanspruch des Beschwerdeführers verletzt. Die Beschwerde ist deshalb gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben.
3.
a) Ist der Obergerichtsentscheid schon wegen dieser Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aufzuheben, so kann offenbleiben, ob der Gehörsanspruch auch dadurch verletzt worden ist, dass das Obergericht die beiden als Zeuginnen aufgeführten Frauen - worunter die Ehefrau des Verteidigers - nicht einvernommen hat. Der Verzicht auf deren Einvernahme wäre verfassungsrechtlich zu beanstanden, wenn die vorweggenommene Beweiswürdigung, die das Obergericht zum Verzicht auf die Erhebung
BGE 115 Ia 8 S. 12
dieses Beweises bewog, als willkürlich anzusehen wäre (
BGE 106 Ia 162
f. E. 2b mit Hinweisen). Da das Obergericht nunmehr den Beschwerdeführer zum bisherigen Beweisergebnis anhören und das Beweisverfahren möglicherweise noch ausdehnen muss, wird es in diesem Zusammenhang erneut zu prüfen haben, ob es des Zeugenbeweises noch bedarf. Diesem vom Obergericht neu zu treffenden Entscheid hat das Bundesgericht im vorliegenden Verfahren nicht vorzugreifen. Immerhin kann auf
BGE 97 III 14
ff. E. 2 hingewiesen werden, wo das Bundesgericht in bezug auf
Art. 32 SchKG
festhielt, dass der Rechtssuchende Anspruch darauf hat, die aus dem Poststempel folgende Vermutung verspäteter Postaufgabe mit allen tauglichen Beweismitteln zu widerlegen, insbesondere auch durch Zeugen.