BGE 115 IA 97 vom 14. April 1989

Datum: 14. April 1989

Artikelreferenzen:  Art. 4 BV , Art. 90 Abs. 1 lit. b OG

BGE referenzen:  119 IB 492, 121 I 306, 124 I 208, 130 II 351, 138 V 218 , 110 IA 3, 103 IA 491, 103 IV 300

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

115 Ia 97


18. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 14. April 1989 i.S. R. gegen Generalprokurator und Obergericht des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

Art. 4 BV ; rechtliches Gehör; Aktenführung im Strafprozess.
1. Ein Verstoss gegen die Aktenführungspflicht kann den Anspruch des Angeschuldigten auf rechtliches Gehör beeinträchtigen (E. 4).
2. Keine Verweigerung des rechtlichen Gehörs, falls der Richter ohne Willkür in vorweggenommener Beweiswürdigung annehmen kann, die aufgrund der übrigen Beweise gebildete Überzeugung werde durch das ihm zwar bekannte, aber nicht aktenkundige, den Angeschuldigten entlastende Ergebnis bestimmter Ermittlungen nicht geändert (E. 5b).

Erwägungen ab Seite 98

BGE 115 Ia 97 S. 98
Aus den Erwägungen:

4. Der Beschwerdeführer macht schliesslich geltend, ein entlastendes Indiz sei in den Akten gar nicht festgehalten worden. Wie er erst kurz vor der zweitinstanzlichen Verhandlung erfahren habe, hätten Polizeibeamte vergrösserte fotografische Aufnahmen mit seiner Maschine unter anderem dem Velohändler W. gezeigt. Dieser habe dem Vernehmen nach den Polizeibeamten gesagt, die abgebildete Person sei nicht der Beschwerdeführer. Diese Tatsache bzw. Unterlassung sei in der Verhandlung des Obergerichtes vergeblich gerügt worden. Das Nichtbeachten bzw. Nichterheben des Ergebnisses der "Fotoaktion" sei willkürlich und verletze Art. 4 BV .
a) Das Obergericht bringt in seiner Vernehmlassung vom 6. Februar 1989 vor, es habe von den Ausführungen der Verteidigung im Parteivortrag Kenntnis genommen. Es wäre dem Beschwerdeführer freigestanden, eine Vervollständigung der Beweisführung im Sinne von Art. 316 StrV/BE zu beantragen, was er aber nicht getan habe. Dabei hätte er sich nicht an die dort genannte Zehntagefrist halten müssen, wenn er dargelegt hätte, dass er soeben erst von diesem Beweiselement Kenntnis erhalten habe.
Da sich der Hinweis auf die zitierte Bestimmung im angefochtenen Urteil nicht findet, wurde dem Beschwerdeführer Gelegenheit
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gegeben, sich dazu ergänzend zu äussern, was er mit Eingabe vom 27. Februar 1989 getan hat.
b) Soweit der Beschwerdeführer in dieser Eingabe die Verletzung bzw. willkürliche Anwendung kantonalrechtlicher Bestimmungen behauptet, kann darauf nicht eingetreten werden. Er hätte die willkürliche Anwendung bzw. Nichtberücksichtigung dieser Bestimmungen bereits in der staatsrechtlichen Beschwerde rügen und begründen müssen.
c) Es gehört zu den elementaren Grundsätzen des Strafprozessrechtes, dass sämtliche im Rahmen des Verfahrens vorgenommenen Erhebungen aktenkundig gemacht werden (vgl. NIKLAUS SCHMID, Einführung in das zürcherische Strafverfahrensrecht, Skriptum Zürich 1988, S. 45; DETLEF KRAUSS, Der Umfang der Strafakte, Basler Juristische Mitteilungen 1983, S. 49 ff.; PETER NOLL, Strafprozessrecht, S. 18; NIKLAUS OBERHOLZER, Grundzüge des St. Gallischen Strafprozessrechts, St. Gallen 1988, S. 83). Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäss Art. 4 BV ergibt sich der Anspruch auf Akteneinsicht. Soll dieser effizient wahrgenommen werden können, ist erforderlich, dass auch alles in den Akten festgehalten wird, was zur Sache gehört. Das Akteneinsichtsrecht verblasst in seiner Substanz, wo die zur Einsicht offenstehenden Unterlagen lückenhaft sind (vgl. THOMAS COTTIER, Der Anspruch auf rechtliches Gehör ( Art. 4 BV ), recht 1984, S. 123). Dafür bedarf es entgegen dem in der Vernehmlassung des Obergerichtes Ausgeführten nicht eines speziellen Antrages der Parteien; Art. 316 StrV/BE bezieht sich denn auch auf Beweisanträge der Parteien, nicht aber auf Erhebungen, die von Amtes wegen vorgenommen wurden.
d) Das Obergericht stellt in seiner Vernehmlassung eine "Fotoaktion" nicht in Frage; zumindest räumt es eine solche indirekt ein. Da der Generalprokurator auf Vernehmlassung verzichtete, ist deshalb im vorliegenden Verfahren davon auszugehen, dass eine derartige Beweiserhebung tatsächlich stattgefunden hat. An welchem genauen Datum sie erfolgte, ist weder dem Urteil oder der Vernehmlassung des Obergerichts noch den Eingaben des Beschwerdeführers zu entnehmen. Aus der Beschwerdeschrift ist indessen eindeutig zu schliessen, dass der Vorwurf der mangelhaften Aktenführung den "erstinstanzlichen Richter" (Richteramt Oberhasli) trifft, und zwar nicht hinsichtlich des Fehlens der vergrösserten Fotos (diese sind offensichtlich einakturiert), sondern bezüglich der fehlenden Aussage des Velohändlers W. Auch aufgrund
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der Vorakten ergibt sich mit grösster Wahrscheinlichkeit, dass die "Fotoaktion" zwischen der abgebrochenen ersten Hauptverhandlung vom 23. Februar 1988 (am Schluss welcher eine "abgekürzte Voruntersuchung" angeordnet wurde) und der Fortsetzung der Hauptverhandlung vom 7. Juni 1988 erfolgte, sind doch auch die erwähnten Vergrösserungen während dieser Voruntersuchung einakturiert worden. Fest steht sodann, dass eine Notiz über die Befragung des Velohändlers, von welcher der Beschwerdeführer erst kurz vor der obergerichtlichen Verhandlung erfuhr, in den Akten fehlt. Der ersten Instanz kann daher der Vorwurf nicht erspart bleiben, gegen die Aktenführungspflicht und somit gegen Art. 4 BV verstossen zu haben. Dies führt indessen, wie noch darzulegen ist, nicht zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.

5. a) Es lässt sich zunächst die Frage stellen, ob eine Verletzung des rechtlichen Gehörs rechtsgenügend gerügt worden ist. Im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren prüft das Bundesgericht nur klar und detailliert erhobene Rügen ( Art. 90 Abs. 1 lit. b OG ; BGE 110 Ia 3 /4 E. 2a). Der Beschwerdeführer rügt - fast ausschliesslich appellatorisch - im wesentlichen Willkür, begründet indessen den fraglichen Einwand unter diesem Gesichtspunkt nicht genügend. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs rügt er nicht, jedenfalls nicht ausdrücklich. Unter diesen Umständen wäre nach der erwähnten bundesgerichtlichen Praxis auf die Beschwerde in diesem Punkt grundsätzlich nicht einzutreten. Nachdem aber ein Fehler im erstinstanzlichen Verfahren bereits feststeht, sind in diesem Fall an die Begründungspflicht nicht allzu strenge Anforderungen zu stellen und deshalb der Passus, das Nichterheben des Ergebnisses der "Fotoaktion" sei "mit Art. 4 BV nicht zu vereinbaren", sinngemäss als Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs entgegenzunehmen.
b) Zu prüfen bleibt, ob der erstinstanzliche Verstoss gegen die Aktenführungspflicht eine Verweigerung des rechtlichen Gehörs in einem Ausmasse darstellt, das die Aufhebung des angefochtenen Urteils rechtfertigen würde. Das trifft nicht zu. Das Obergericht führte aus, der Anwalt des Beschwerdeführers habe bezüglich der "Fotoaktion" folgendes geltend gemacht:
"Auch seien von Polizisten vergrösserte Fotos angefertigt worden, welche
u.a. einem Veloverkäufer vorgezeigt worden seien. Letzterer habe
ebenfalls erklärt, der abgebildete Fahrer sei nicht R."
Daran anschliessend kam es zum Schluss, diese Erläuterungen (u.a. Vorzeigen der Fotos und Stellungnahme des Velohändlers)
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änderten "nichts an der Unglaubwürdigkeit der vom Angeschuldigten erzählten Geschichte". Das bedeutet nichts anderes, als dass das Obergericht zum Ausdruck brachte, es wäre selbst bei Aktenkundigkeit der Erhebungen zu keinem anderen als dem genannten Beweisergebnis gelangt. Dieser Schluss ist zulässig, denn der Richter kann das Beweisverfahren schliessen, wenn er aufgrund bereits abgenommener Beweise seine Überzeugung gebildet hat und er ohne Willkür in vorweggenommener Beweiswürdigung annehmen kann, dass diese seine Überzeugung durch weitere Beweiserhebungen nicht geändert würde ( BGE 103 Ia 491 mit Hinweisen; BGE 103 IV 300 E. 1a). Inwiefern dieser in antizipierter Beweiswürdigung vom Obergericht getroffene Schluss willkürlich sein könnte, wird nicht dargelegt. Er steht im übrigen in Einklang mit Art. 317 Abs. 2 StrV/BE, wonach die Strafkammer die ihr notwendig erscheinende Vervollständigung der Beweisaufnahme anordnen kann, von Amtes wegen aber dazu nicht verpflichtet ist. Als Verweigerung des rechtlichen Gehörs kann die unterlassene Pflicht, etwas aktenkundig zu machen, aber nicht anders behandelt werden als der Verzicht auf Durchführung zusätzlicher Abklärungen. Die Beschwerde ist demzufolge in diesem Punkt als unbegründet abzuweisen.

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