Urteilskopf
115 IV 137
30. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 18. April 1989 i.S. E. W. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste
Anwendung des Ordnungsbussenverfahrens.
Bedarf die Ermittlung des Täters bei unklarer bzw. bestrittener Täterschaft weiterer Untersuchungshandlungen, so ist dafür grundsätzlich nicht das Ordnungsbussen-, sondern das ordentliche Verfahren einzuschlagen.
A.-
Anlässlich einer Geschwindigkeitskontrolle wurde ein Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit ausserorts durch einen Personenwagen festgestellt; Halter des Fahrzeuges ist T. W., dem in der Folge ein Verzeigungsvorhalt mit Einzahlungsschein und Bussenliste zugestellt wurde; der Vorhalt wies darauf hin, dass der Betrag von Fr. 100.-- bezahlt, oder aber das ordentliche Verfahren verlangt werden könne. Der Aufforderung, den verantwortlichen Lenker zu nennen, kam T. W. nicht nach. Die Kantonspolizei Baselland befragte in der Folge T. W. und dessen Ehefrau E. W. dazu; auch Vergleichsphotographien wurden erstellt, die indessen keinen sicheren Aufschluss darüber ergaben, wer das Fahrzeug gelenkt hatte. Gegen den daraufhin gestützt auf eine Aussage ihres Ehemannes erlassenen Strafbefehl gegen E. W. erhob diese Einsprache.
Am 20. April 1988 sprach das Bezirksgericht Aarau E. W. der Missachtung der Höchstgeschwindigkeit ausserorts schuldig und verurteilte sie zu einer Busse von Fr. 100.--.
Die dagegen erklärte Berufung wies das Obergericht des Kantons Aargau am 21. September 1988 ab.
B.-
Mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde beantragt E. W., das Urteil des Obergerichts aufzuheben.
C.-
Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau verzichteten auf eine Vernehmlassung. Das Bundesamt für Polizeiwesen schliesst in seinem Amtsbericht sinngemäss auf die Abweisung der Beschwerde.
Aus den Erwägungen:
2.
a) Die vom Bundesrat gestützt auf Art. 3 Abs. 1 des Bundesgesetzes über Ordnungsbussen im Strassenverkehr vom 24. Juni 1970 (OBG; SR 741.03) bezeichneten Übertretungen sind grundsätzlich im Ordnungsbussenverfahren zu erledigen (
BGE 105 IV 139
E. 2).
Art. 2 lit. b der Verordnung über Ordnungsbussen im Strassenverkehr vom 22. März 1972 (OBV; SR 741.031)
bestimmt, dass die Polizeiorgane von einer Ordnungsbusse abzusehen haben, wenn dem Täter, der eine Übertretung im rollenden Verkehr begangen hat, der Sachverhalt nicht an Ort und Stelle vorgehalten werden kann; ausgenommen von dieser Regelung sind u.a. Geschwindigkeitsübertretungen (bis 15 km/h; vgl.
BGE 105 IV 140
f. E. 4).
b) Ordnungsbussen sind trotz ihrer Abhängigkeit von der Zustimmung des Täters echte Strafen; abgesehen davon, dass Vorleben und persönliche Verhältnisse nicht berücksichtigt werden, gelten die Grundsätze des Strafrechts; vor allem wird eine Schuld des Täters vorausgesetzt (BBl 1969 I/2 1093).
Dass die Anwendung des Ordnungsbussenverfahrens dennoch zulässig sei, wird damit begründet, dass man es bei den in Betracht kommenden Tatbeständen durchwegs mit einem problemlosen Verschulden zu tun habe, das weitgehend im objektiven Sachverhalt zum Ausdruck komme; bei diesen Fällen erübrige es sich durchwegs, näher auf das Verschulden einzugehen (BBl 1969 I/2 1094).
c) Hätte sich die Beschwerdeführerin in ihrer Einsprache darauf beschränkt, die Durchführung des Ordnungsbussenverfahrens zu verlangen, so hätte ihr ein Ordnungsbussen-Zettel mit Bedenkfrist gemäss
Art. 7 OBV
ausgestellt werden müssen. Die Beschwerdeführerin bestritt indessen ausdrücklich, das Fahrzeug im fraglichen Zeitpunkt gesteuert zu haben; ihre Behauptung, sie hätte eine
BGE 115 IV 137 S. 139
allfällige Ordnungsbusse "wahrscheinlich bezahlt", steht damit im Widerspruch zu ihrem ganzen bisherigen Prozessverhalten. Die Täterschaft bezüglich der festgestellten Geschwindigkeitsüberschreitung war somit von Anfang an bestritten.
Die ungeschmälerte Geltung der allgemeinen strafrechtlichen Grundsätze führt dazu, dass nur der Täter bzw. der Teilnehmer der Widerhandlung strafbar ist, nicht aber der Fahrzeughalter an dessen Stelle; es geht deshalb nicht an, jemanden ausschliesslich in seiner Eigenschaft als Halter des von der Radaranlage erfassten Fahrzeuges zur Rechenschaft zu ziehen und zu büssen (
BGE 102 IV 257
f. E. 2). Ist daher - wie hier - nicht klar, wer Täter der Geschwindigkeitsüberschreitung ist, so gebietet das Erfordernis eines Verschuldens die Ermittlung eines Täters, dem dieses zugewiesen werden kann. Dies ist - insbesondere wenn wie hier die beiden einzigen in Frage kommenden Personen nichts zur Klärung des Sachverhaltes beitragen - nicht mehr auf dem Wege des Ordnungsbussenverfahrens möglich, denn bei unklarer bzw. bestrittener Täterschaft liegt nicht mehr jenes problemlose Verschulden vor, welches noch im Ordnungsbussenverfahren - aus Gründen der Vereinfachung des Verfahrens bei zweifelsfrei feststellbaren Widerhandlungen - geahndet werden kann. Bedarf daher die Ermittlung des Täters weiterer Untersuchungshandlungen wie Einvernahmen usw., so ist dafür grundsätzlich das ordentliche Verfahren einzuschlagen.
d) Indem die Vorinstanz im vorliegenden Fall die Ahndung der durch die Beschwerdeführerin begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung im Strafbefehlsverfahren bzw. im ordentlichen Verfahren bestätigte, hat sie daher kein Bundesrecht verletzt.