BGE 116 IA 66 vom 27. April 1990

Datum: 27. April 1990

Artikelreferenzen:  Art. 191 StPO, Art. 208 StPO, Art. 6 EMRK , Art. 6 Ziff. 1 und Art. 64 EMRK, Art. 191 Abs. 1 StPO, Art. 64 EMRK, Art. 191 und 208 StPO, Art. 79 Abs. 1 KV/UR, Art. 6 Ziff. 1 Satz 2 EMRK, Art. 191 Abs. 3 StPO

BGE referenzen:  105 IA 118

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

116 Ia 66


10. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 27. April 1990 i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht Uri (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

Art. 6 Ziff. 1 und Art. 64 EMRK , Art. 79 Abs. 1 KV/UR , Art. 191 und 208 StPO /UR und Art. 2 Abs. 1 des Urner Gesetzes über die Öffentlichkeit der Landrats- und Gerichtsverhandlungen vom 4. Mai 1851; Öffentliche Urteilsverkündung.
Der Schweizer Vorbehalt zu Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat zur Folge, dass das Öffentlichkeitsprinzip im Ausmass der vorbehaltenen kantonalen Gesetzgebung nicht auf die kantonale Rechtsordnung angewendet werden muss.
Das Unterlassen der in Art. 191 Abs. 1 StPO /UR vorgeschriebenen öffentlichen Urteilsverkündung stellt eine formelle Rechtsverweigerung dar, sofern nicht eine der in den Absätzen 2 und 3 derselben Bestimmung genannten Ausnahmen vorliegt. Ein Verzicht der Parteien darf nicht leichthin angenommen werden.

Erwägungen ab Seite 67

BGE 116 Ia 66 S. 67
Aus den Erwägungen:

1. Der Beschwerdeführer rügt, das Obergericht habe das angefochtene Urteil nicht öffentlich verkündet und dadurch die Urner Strafprozessordnung, die Kantonsverfassung, das Gesetz über die Öffentlichkeit der Landrats- und Gerichtsverhandlungen und Art. 6 Ziff. 1 EMRK verletzt.
Gemäss Art. 6 Ziff. 1 Satz 2 EMRK muss ein Strafurteil öffentlich verkündet werden. Die Schweiz hat zu dieser Bestimmung jedoch einen Vorbehalt angebracht, wonach der Grundsatz der Öffentlichkeit der Urteilsverkündung nur Anwendung findet "unter Vorbehalt der Bestimmungen der kantonalen Gesetze über den Zivil- und Strafprozess, die vorsehen, dass das Urteil nicht an einer öffentlichen Verhandlung eröffnet, sondern den Parteien schriftlich mitgeteilt wird". Es stellt sich die Frage, ob dieser Vorbehalt den Anforderungen der EMRK (Art. 64) entspricht. Er ist nicht allgemeiner Art (Ziff. 1), da er sich auf einen spezifischen Teilaspekt der umfassenden Garantie eines fairen Prozesses bezieht, bloss die kantonale Gesetzgebung vorbehält und den Kerngehalt
BGE 116 Ia 66 S. 68
des Art. 6 EMRK nicht antastet (WILDHABER, Internationaler Kommentar zur EMRK, Köln etc. 1986, N 652 zu Art. 6 EMRK ; FROWEIN/PEUKERT, N 5 zu Art. 64 EMRK ). Auch die fehlende kurze Inhaltsangabe der betreffenden Gesetze (Ziff. 2) steht der Berücksichtigung des Vorbehalts nicht entgegen; denn diese Bestimmung will ebenfalls verhindern, dass ein Vorbehalt einen generellen Charakter aufweist und zudem den Parteien, den Organen der Konvention sowie dem einzelnen genau aufzeigen, welche Gesetze von den Wirkungen der EMRK ausgenommen sind (FROWEIN/PEUKERT, N 6 zu Art. 64 EMRK ). Diese Forderungen sind erfüllt, da sich der Vorbehalt einerseits auf die Bestimmungen über die Öffentlichkeit der Urteilsverkündung und anderseits auf solche Regelungen in den kantonalen Zivil- und Strafprozessordnungen beschränkt (vgl. dazu den Entscheid der Europäischen Kommission für Menschenrechte i.S. Temeltasch, EuGRZ 10/1983, S. 145 ff., wonach die fehlende kurze Inhaltsangabe der vorbehaltenen Gesetze der Anwendung einer auslegenden Erklärung nicht entgegensteht, sofern der Gehalt der betreffenden Normen eindeutig ist; WILDHABER, a.a.O., N 657 zu Art. 6 EMRK ; FROWEIN/PEUKERT, N 6 zu Art. 64 EMRK ). Der Vorbehalt hat zur Folge, dass das Öffentlichkeitsprinzip im Ausmass der vorbehaltenen kantonalen Gesetzgebung nicht auf die kantonale Rechtsordnung angewendet werden muss (WILDHABER, a.a.O., N 630 zu Art. 6 EMRK ).
Die Urner Kantonsverfassung (Art. 79 Abs. 1) enthält den Grundsatz der Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen und verweist für die Ausnahmen auf die Gesetzgebung. Art. 2 Abs. 1 des Urner Gesetzes über die Öffentlichkeit der Landrats- und Gerichtsverhandlungen vom 4. Mai 1851 bestimmt, dass sich die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen nur auf die Verlesung der Akten, der Vorträge der Parteien und die Eröffnung des Urteils bezieht. Diese vom Beschwerdeführer angerufenen Bestimmungen sind im Vergleich zu denjenigen der Urner Strafprozessordnung allgemeiner gehalten, weshalb ihnen keine selbständige Bedeutung zukommt. Nach Art. 208 StPO /UR finden auf das Rechtsmittelverfahren die Bestimmungen über die Hauptverhandlung Anwendung, soweit sie nicht durch besondere Regelungen abgeändert werden. Im Abschnitt "Berufung" enthält die Urner Strafprozessordnung keine besonderen Regeln für die Urteilsverkündung. In der (erstinstanzlichen) Hauptverhandlung hat das Gericht seinen Entscheid im Anschluss an die Beratung öffentlich zu verkünden ( Art. 191 Abs. 1 StPO /UR). Auf die öffentliche Verkündung kann
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jedoch im Einverständnis mit den Parteien verzichtet werden (Abs. 2), und sie kann auch unterbleiben, wenn wichtige Gründe vorliegen und nicht übergeordnetes Recht entgegensteht (Abs. 3).
In der ergänzenden Vernehmlassung vom 27. Juni 1989 führt das Obergericht aus, am Ende der Parteiverhandlung habe der Vorsitzende die stereotypen Sätze gesagt: "Die mündliche Verhandlung ist geschlossen. Das Urteil wird schriftlich eröffnet." Dies sei Praxis und den Urner Anwälten bekannt. Der Beschwerdeführer und sein Rechtsvertreter bestreiten diese Sachdarstellung. Der Gerichtspräsident habe lediglich erwähnt, betreffend Urteilseröffnung würden später die notwendigen Anordnungen getroffen; infolgedessen habe kein Anlass zu Widerspruch bestanden. Wie es sich damit verhalten hat, kann vorliegend offenbleiben. Selbst wenn der Beschwerdeführer mit einem Verzicht auf öffentliche Urteilsverkündung nicht einverstanden war und auch die Voraussetzungen von Art. 191 Abs. 3 StPO /UR nicht vorlagen und das Obergericht somit durch Unterlassen der öffentlichen Urteilsverkündung eine formelle Rechtsverweigerung beging, ist vorliegend der angefochtene Entscheid nicht aufzuheben. Denn dies würde bloss zu einer unnützen Verlängerung des Verfahrens führen ( BGE 105 Ia 118 E. 2 mit Hinweisen); das Obergericht würde nach öffentlicher mündlicher Urteilseröffnung das inhaltlich gleiche Urteil in schriftlicher Ausfertigung den Parteien zustellen, und diese könnten in den übrigen Punkten dieselben Rügen vorbringen, die bereits vorliegen. Überdies muss das angefochtene Urteil wegen der teilweisen Gutheissung der Nichtigkeitsbeschwerde ohnehin aufgehoben werden, so dass die Urteilseröffnung nochmals zu erfolgen hat. Das Obergericht wird aufgefordert, von seiner bisherigen Praxis abzugehen, gemäss Art. 191 Abs. 1 StPO /UR den Entscheid im Anschluss an die Beratung öffentlich zu verkünden und einen diesbezüglichen Verzicht der Parteien (Abs. 2) nicht leichthin anzunehmen.

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