Urteilskopf
116 II 407
75. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 12. Juli 1990 i.S. X. gegen Kanton Y. (Zivilklage)
Regeste
Fürsorgerische Freiheitsentziehung; Frist für die Verantwortlichkeitsklage nach
Art. 429a ZGB
.
Die Klagefrist für Verantwortlichkeitsansprüche gemäss
Art. 429a ZGB
beträgt ein Jahr. Wo die fürsorgerische Freiheitsentziehung einen Bevormundeten betroffen hatte, beginnt der Fristenlauf erst mit der Aufhebung der Vormundschaft.
M. X. wurde am 11. Oktober 1983 auf eigenes Begehren gestützt auf
Art. 372 ZGB
unter Vormundschaft gestellt. Am 29. Oktober 1984 verfügte der Vormund, dass er im Sinne von Art. 406 Abs. 2 in Verbindung mit den
Art. 397a und 397b ZGB
(fürsorgerische Freiheitsentziehung) in einer Anstalt untergebracht werde. Einen von M. X. hiergegen erhobenen Rekurs wies die zuständige kantonale Instanz durch Urteil vom 14. Dezember 1984 ab. Bis Ende August 1985 hielt sich M. X. in der Anstalt A. auf. Im Sinne einer neuerlichen fürsorgerischen Freiheitsentziehung wurde er - wiederum auf Anordnung seines Vormunds - am 12. November 1985 in der Anstalt B. untergebracht; er verliess diese am 22. April 1986, nachdem ein Entlassungsgesuch am 22. Januar 1986 abgewiesen worden war.
In seinem (Schluss-)Rechenschaftsbericht vom 6. Januar 1987 stellte der Vormund von M. X. den Antrag, es sei dessen Wunsch nach Aufhebung der Vormundschaft zu entsprechen. Am 12. Januar 1987 genehmigte die Vormundschaftsbehörde Schlussbericht und Schlussrechnung des Vormundes; gleichzeitig beschloss sie, dass die Vormundschaft mit Wirkung ab 31. Dezember 1986 gemäss
Art. 438 ZGB
aufgehoben werde.
Mit einer vom 25. Januar 1988 datierten und beim Bundesgericht am 29. Januar 1988 eingetroffenen Eingabe hat M. X. gegen den Kanton Y. Klage erhoben mit dem Antrag, der Beklagte sei zu verpflichten, ihm wegen rechtswidriger fürsorgerischer Freiheitsentziehung als Schadenersatz mindestens Fr. 32'000.-- und als Genugtuung Fr. 116'350.-- zu zahlen.
In seiner Klageantwort vom 19. September 1988 hat der Beklagte die Einrede der Verjährung erhoben.
Das Bundesgericht weist die Klage zufolge Verjährung ab.
Aus den Erwägungen:
2.
a)
Art. 429a ZGB
bestimmt, dass derjenige, der durch eine widerrechtliche (fürsorgerische) Freiheitsentziehung verletzt wird, Anspruch auf Schadenersatz und, wo die Schwere der Verletzung es rechtfertigt, auf Genugtuung hat (Abs. 1) und dass der Kanton haftbar ist (Abs. 2). Eine besondere Regelung bezüglich der Verjährung der entsprechenden Klage enthält das Gesetz nicht.
Für die Verantwortlichkeitsklage gegen den Vormund und die unmittelbar haftenden Mitglieder der vormundschaftlichen Behörden sieht
Art. 454 Abs. 1 ZGB
eine Verjährungsfrist von einem Jahr ab Zustellung der Schlussrechnung vor. Gegenüber den anderen Mitgliedern der vormundschaftlichen Behörden und gegenüber den Gemeinden oder Kreisen sowie ferner gegenüber dem Kanton verjährt die Klage mit Ablauf eines Jahres, nachdem sie erhoben werden konnte (
Art. 454 Abs. 2 ZGB
). Die Verjährung der Klage gegen die Mitglieder der vormundschaftlichen Behörden oder gegen die Gemeinden, die Kreise oder den Kanton beginnt in keinem Fall vor dem Aufhören der Vormundschaft (
Art. 454 Abs. 3 ZGB
). Unter Vorbehalt noch längerer Strafklagefristen legt
Art. 455 ZGB
eine ausserordentliche Verjährungsfrist von zehn Jahren fest.
b) Die Verantwortlichkeit gemäss
Art. 429a ZGB
unterscheidet sich von den in den
Art. 454 und 455 ZGB
geregelten Tatbeständen insofern, als hier eine direkte Haftung einzig des Kantons vorgesehen ist. Diesem wird freilich die Möglichkeit eingeräumt, auf Personen zurückzugreifen, die den widerrechtlichen Freiheitsentzug absichtlich oder grobfahrlässig verursacht haben (
Art. 429a Abs. 2 ZGB
). Zu beachten ist auch, dass die Verantwortlichkeit zufolge widerrechtlicher fürsorgerischer Freiheitsentziehung im Gegensatz zu derjenigen im Zusammenhang mit der Führung der Vormundschaft nicht notwendigerweise auch bei der Vermögensverwaltung anknüpft und somit nicht in jedem Fall von der Zustellung der Schlussrechnung ausgehen kann. Der - durch
Art. 5 Ziff. 5 EMRK
vorgegebene - verschuldensunabhängige Tatbestand des
Art. 429a ZGB
ist in der Tat auf die Person, und nicht auf das Vermögen, zugeschnitten, auch wenn nicht nur Genugtuung, sondern auch Schadenersatz in Betracht fällt. Es kommt hinzu, dass die fürsorgerische Freiheitsentziehung sich zwar als vormundschaftliche Massnahme versteht, indessen nicht in jedem Fall auch zu einer Bevormundung führen muss.
BGE 116 II 407 S. 410
In Anbetracht der angeführten Umstände können die
Art. 454 und 455 ZGB
, die vom Aufhören der Vormundschaft ausgehen (
Art. 454 Abs. 3 ZGB
), hier von vornherein nur sinngemäss zur Anwendung gelangen.
c) Das Bundesgericht hatte schon vor dem Inkrafttreten der Gesetzesnovelle vom 6. Oktober 1978 (
Art. 397a ff. ZGB
) festgehalten, die Verjährungsbestimmung des
Art. 454 ZGB
beziehe sich nicht nur auf die Verantwortlichkeit aus der Führung der Vormundschaft im engern Sinne, sondern erstrecke sich auch auf weitere vormundschaftliche Massnahmen, ungeachtet des Umstandes, dass beispielsweise nicht von einer Schlussrechnung ausgegangen werden könne. Auf jeden Fall sei es in diesem erweiterten Bereich der Vormundschaft nicht angezeigt, die gemeinrechtliche Verjährungsfrist von zehn Jahren gemäss
Art. 127 OR
zur Anwendung zu bringen. Das Bundesgericht führte weiter aus, dass der Verantwortlichkeit im Zusammenhang mit vormundschaftlichen Massnahmen oder deren Unterlassen eine unerlaubte Handlung zugrunde liege, so dass ausserhalb der Sonderbestimmungen des Vormundschaftsrechts letztlich auf
Art. 60 OR
, und nicht auf
Art. 127 ff. OR
, zurückgegriffen werden müsste (vgl.
BGE 68 II 353
f.).
d) In der Lehre dreht sich die Diskussion ebenfalls einzig darum, ob die Verjährungsfrist für die Verantwortlichkeitsklage im Bereiche der erweiterten Vormundschaft durch sinngemässe Anwendung der Art. 454 f. ZGB bestimmt werden könne oder ob die massgebende Regel direkt
Art. 60 OR
zu entnehmen sei (vgl. MATTMANN, Die Verantwortlichkeit bei der fürsorgerischen Freiheitsentziehung, Diss. Freiburg 1988, S. 222 f.; SPIRO, Die Begrenzung privater Rechte durch Verjährungs-, Verwirkungs- und Fatalfristen, § 297, S. 701, Anm. 30; dazu auch AEPLI, Die Verantwortlichkeit der vormundschaftlichen Organe, Diss. Freiburg 1979, S. 69).
e) Von praktischer Bedeutung ist die erwähnte Frage allerdings insofern kaum, als sowohl im Rahmen von
Art. 454 ZGB
als auch aufgrund von
Art. 60 OR
grundsätzlich von einer Frist von einem Jahr seit Kenntnis des Schadens und des Schädigers auszugehen ist.
Art. 454 ZGB
müsste im übrigen auf jeden Fall dort neben
Art. 60 OR
beachtlich bleiben, wo - wie hier - die fürsorgerische Freiheitsentziehung einen Bevormundeten betrifft. Der Vormundschaft als solcher ist bei einer derartigen Sachlage insofern eigens Rechnung zu tragen, als die fürsorgerische Freiheitsentziehung vor ihr
BGE 116 II 407 S. 411
beendet sein kann. Auch wenn sich schon vor dem Ende der Vormundschaft die Kenntnis eines Schadens (bzw. der Gesetzwidrigkeit eines Freiheitsentzugs) und des Ersatzpflichtigen (bzw. Schädigers) eingestellt hat, muss
Art. 454 Abs. 3 ZGB
angewendet werden, wonach die Verjährung der Verantwortlichkeitsklage in keinem Fall vor dem Aufhören der Vormundschaft beginnt. Der hinter dieser Regelung stehende Grundgedanke kommt übrigens auch in
Art. 134 Abs. 1 Ziff. 2 OR
zum Ausdruck, wonach die Verjährung für eine Forderung des Mündels gegen den Vormund oder gegen die vormundschaftlichen Behörden nicht beginnt während der Dauer der Vormundschaft, d.h. des Abhängigkeitsverhältnisses (dazu MATTMANN, a.a.O., S. 224 f.; ferner auch
BGE 68 II 354
und
BGE 65 II 211
ff.).
f) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Klagefrist für den hier in Frage stehenden Verantwortlichkeitsanspruch aus
Art. 429a ZGB
ein Jahr beträgt und grundsätzlich mit dem Hinfall der freiheitsentziehenden Massnahme zu laufen beginnt. Solange noch eine Vormundschaft besteht, wird indessen der Fristenlauf - ungeachtet der Kenntnis von Schaden und Schädiger - nicht ausgelöst.
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