Urteilskopf
116 III 10
4. Entscheid der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer vom 2. März 1990 i.S. C. (Rekurs)
Regeste
Arrest für Unterhaltsansprüche (
Art. 93, 275 SchKG
).
In das Existenzminimum des Schuldners darf nur eingegriffen werden, wenn der Arrest von unterhaltsberechtigten Familienmitgliedern des Schuldners verlangt wird. Demgegenüber ist dieser Eingriff unzulässig, wenn als Gläubiger das Gemeinwesen auftritt, das sich den Unterhaltsanspruch gestützt auf
Art. 289 Abs. 2 ZGB
hat abtreten lassen - und dies selbst dann, wenn dem Schuldner vorzuwerfen wäre, dass er bei gutem Willen ein höheres Einkommen erzielen könnte.
A.-
Die Stadtgemeinde Zürich ist für Unterhaltsbeiträge, die sie zugunsten des 1966 geborenen Sohnes Umberto des Rekurrenten C. bevorschusst hat, nach Massgabe von
Art. 289 Abs. 2 ZGB
in die Rechte des gesetzlichen Vertreters eingetreten. Sie erwirkte für ihre Forderung von Fr. 10'608.75 nebst Zins zu 5% seit 21. November 1988 einen Arrestbefehl, in welchem das Guthaben von C. aus Teilinvalidenrente bei der Migros-Pensionskasse als Arrestgegenstand bezeichnet wird. Am 21. August 1989 wurde vom Betreibungsamt der Arrest am Sitz der Migros-Pensionskasse vollzogen.
B.-
Über diesen Arrestvollzug beschwerte sich C. beim Bezirksgericht Zürich als unterer Aufsichtsbehörde über die Schuldbetreibungs- und Konkursämter und stellte den Antrag, der Arrest sei infolge Eingriffs in das Existenzminimum des Schuldners unverzüglich aufzuheben.
Das Bezirksgericht stellte in seinem Beschluss vom 6. Oktober 1989 fest, dass ein Eingriff in das Existenzminimum vorliege; das sei trotz dem Sonderfall einer Betreibung auf Unterhaltsbeiträge unzulässig, weil hier nicht der Berechtigte selber, sondern das Gemeinwesen Gläubiger sei. Infolgedessen hiess das Bezirksgericht die Beschwerde gut und hob den Arrest auf.
Das Obergericht des Kantons Zürich als obere kantonale Aufsichtsbehörde über Schuldbetreibung und Konkurs hielt indessen dafür, dass der Arrestschuldner zwar leistungsfähig, aber nicht leistungswillig sei. Es liege, da der Beschwerdeführer mehr verdienen könnte, kein Eingriff in das Existenzminimum vor. Der von der Stadtgemeinde Zürich erhobene Rekurs wurde demnach gutgeheissen und das Betreibungsamt angewiesen, das bei der
BGE 116 III 10 S. 12
Migros-Pensionskasse arrestierte Guthaben von C. nach Massgabe der Arresturkunde in Beschlag zu lassen.
C.-
Der Arrestschuldner C. rekurrierte gegen diesen Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich vom 12. Januar 1990 an die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts. Diese hiess den Rekurs gut und hob den am 21. August 1989 vollzogenen Arrest auf aus folgenden
Erwägungen:
1.
Das Obergericht des Kantons Zürich geht von der schon von der unteren kantonalen Aufsichtsbehörde festgestellten Tatsache aus, dass sich das monatliche Einkommen des Rekurrenten (einschliesslich der streitigen Teilinvalidenrente) auf Fr. 935.-- belaufe, währenddem sein Existenzminimum Fr. 995.-- betrage. Zu einem Eingriff in das Existenzminimum käme es deshalb auf jeden Fall, wenn ein Teil des Einkommens des Rekurrenten - was immer die konkrete Quote sein mag - arrestiert würde. Mit Berechtigung weist deshalb der Rekurrent auf die Ungereimtheit im angefochtenen Beschluss (E. 3c) hin, die darin besteht, dass das Obergericht sagt, es liege kein Eingriff in das Existenzminimum vor.
Zu prüfen ist also, wie das Obergericht an anderer Stelle ausführt, ob in das Existenzminimum des Rekurrenten eingegriffen werden darf, weil die Stadtgemeinde Zürich Arrest legen möchte, um die ihr aufgrund von
Art. 289 Abs. 2 ZGB
zustehende Forderung durchzusetzen.
2.
Nach der Rechtsprechung (
BGE 106 III 18
ff.,
BGE 111 III 15
E. 5 mit Hinweisen; vgl. auch AMONN, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 4. Auflage Bern 1988,
§ 23, N 57
ff.) kann in das Existenzminimum des Schuldners eingegriffen werden, wenn als betreibende Gläubiger Familienmitglieder des Schuldners auftreten, die ihn für Unterhaltsforderungen aus dem letzten Jahr vor Zustellung des Zahlungsbefehls belangen. Doch ist ein solcher Eingriff nur zulässig, wenn das Einkommen des Gläubigers mit Einschluss der Alimentenforderung zur Deckung seines eigenen Notbedarfs nicht ausreicht. Dabei ist der Eingriff so zu bemessen, dass sich der Schuldner und der Gläubiger im gleichen Verhältnis einschränken müssen.
Diese Rechtsprechung hat das Obergericht bei der Fällung des angefochtenen Entscheides vor Augen gehabt. Es hat insbesondere
BGE 116 III 10 S. 13
auch nicht verkannt, dass in
BGE 106 III 18
ff. an den schon in
BGE 63 III 117
f. aufgestellten Grundsatz erinnert wurde, wonach das Privileg der Unterschreitung des Notbedarfs auf den persönlich betreibenden Unterhaltsgläubiger zu beschränken ist. Das Privileg darf nach dieser Rechtsprechung weder auf Dritte, die sich die Unterhaltsforderung abtreten liessen - wie etwa die Armenbehörde -, noch auf andere Ansprüche als Alimentenforderungen ausgedehnt werden.
Nun wirft aber die obere kantonale Aufsichtsbehörde dem Rekurrenten vor, dass es ihm am Leistungswillen fehle, der ihn dazu befähigen würde, seinen Unterhaltsverpflichtungen nachzukommen. Das erklärt die Auffassung des Obergerichts, dass im vorliegenden Fall kein Eingriff in das Existenzminimum vorliege; denn ein solcher - führt das Obergericht aus - liege streng genommen beim leistungsunwilligen Schuldner nur vorübergehend vor, bis dieser seine Lebens- und Einkommensverhältnisse seinen Verpflichtungen angepasst habe. Das Obergericht hat es deshalb als gerechtfertigt betrachtet, die Rechtsprechung des Bundesgerichts dahingehend "zu präzisieren, dass auch das bevorschussende Gemeinwesen bei zwar leistungsfähigen, aber nicht leistungswilligen Unterhaltsschuldnern in deren Existenzminimum eingreifen darf".
3.
Die Überlegung des Obergerichts des Kantons Zürich scheint - ohne dass es ausdrücklich gesagt würde - von der für die eheliche Unterhaltspflicht entwickelten Regel inspiriert zu sein, dass der Ehemann nicht nur unterhaltspflichtig ist, wenn er tatsächlich ein Einkommen hat, sondern auch, wenn er bei gutem Willen ein solches haben könnte (
BGE 110 II 117
E. 2a; Kommentar HAUSHEER/REUSSER/GEISER, N 22 zu
Art. 163 ZGB
, N 20 zu
Art. 176 ZGB
; NÄF-HOFMANN, Das neue Ehe- und Erbrecht im Zivilgesetzbuch, 2. Auflage Zürich 1989, N 189, S. 30; Kommentar LEMP, N 21 und 25 zu Art. 160 aZGB).
Indessen lässt sich diese Regel nicht unbesehen auch auf den Fall anwenden, wo ein Gemeinwesen, das sich den Unterhaltsanspruch gestützt auf
Art. 289 Abs. 2 ZGB
hat abtreten lassen, einen leistungsunwilligen Unterhaltspflichtigen betreibt oder - wie im vorliegenden Fall - den Arrestvollzug verlangt. Wird nämlich bei der Festsetzung der Unterhaltspflicht dem Pflichtigen vom Richter entgegengehalten, dass er bei gutem Willen mehr verdienen und infolgedessen eine grössere Unterhaltsleistung erbringen könnte, so ist dieser Pflichtige in der Regel zahlungsfähig; der Unterhaltsbeitrag, um den gestritten wird, bewegt sich mehr oder weniger
BGE 116 III 10 S. 14
deutlich über dem Existenzminimum des Pflichtigen. Demgegenüber geht es beim Eingriff in den Notbedarf an das Mark der wirtschaftlichen Existenz überhaupt.
Der Gesetzgeber hat daher das Einkommen des Schuldners - insbesondere auch Renten von Versicherungskassen, wie im vorliegenden Fall eine mit Arrest belegt worden ist - von der Pfändung und damit auch vom Arrest ausgeschlossen, insoweit es nach dem Ermessen des Betreibungsbeamten für den Schuldner und seine Familie unumgänglich notwendig ist (
Art. 93 und 275 SchKG
). Von dieser grundlegenden Vorschrift des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts hat die Rechtsprechung eine Ausnahme zugelassen, indem sie bei Unterhaltsforderungen des unmittelbar Berechtigten den Eingriff in den Notbedarf erlaubt hat. Sie hat aber zugleich dem Eingriff Grenzen gesetzt, indem sie ihn von der Voraussetzung abhängig gemacht hat, dass das Einkommen des Gläubigers zur Deckung seines eigenen Notbedarfs nicht ausreiche; trifft dies zu, so sollen sich Schuldner und Gläubiger im gleichen Verhältnis einschränken müssen (
BGE 106 III 19
E. 1,
BGE 111 III 15
E. 5 mit weiteren Hinweisen). Die Ausnahme ist also klar erkennbar von einer sozialpolitischen Überlegung bestimmt, die bezüglich des Gemeinwesens nicht gilt, weil dieses sich nie in einer dem Rentenberechtigten vergleichbaren Notlage befindet.
Würde der Auffassung der oberen kantonalen Aufsichtsbehörde gefolgt, so würde somit für den Eingriff in das Existenzminimum nicht nur die neue Voraussetzung geschaffen, dass der unterhaltspflichtige Schuldner leistungsunwillig sei, sondern auch die bisher von der Rechtsprechung verlangte Voraussetzung fallengelassen, dass das Einkommen des Gläubigers mit Einschluss der Alimentenforderung zur Deckung seines eigenen Notbedarfs nicht ausreiche.
4.
Hält nach dem Gesagten der angefochtene Beschluss vor Bundesrecht nicht stand, so vermögen daran auch die an sich verständlichen Gründe, die das Obergericht des Kantons Zürich für den Eingriff in das Existenzminimum des leistungsunwilligen Unterhaltspflichtigen im wesentlichen anführt, nichts zu ändern:
Es trifft zu, dass der Unterhaltspflichtige Nutzen daraus zieht, dass die von ihm nicht erbrachten Unterhaltsleistungen von der öffentlichen Hand bevorschusst werden, wenn bei der Zwangsverwertung gegen ihn - im Gegensatz zum Pflichtigen, der unmittelbar vom Unterhaltsberechtigten belangt wird - nicht in das Existenzminimum eingegriffen werden kann. Das ändert aber nichts
BGE 116 III 10 S. 15
daran, dass die Bevorschussung in erster Linie dazu dient, den Notbedarf auf seiten des Unterhaltsberechtigten zu decken. Ist der Notbedarf des Berechtigten gedeckt, so ist der Eingriff in das Existenzminimum des unterhaltspflichtigen Schuldners, sei dieser leistungswillig oder nicht, unzulässig.
Die im angefochtenen Beschluss zitierte Stelle aus dem Kommentar HEGNAUER (N 102 zu Art. 272 aZGB) und die dort zitierte Judikatur und Literatur beziehen sich auf das Eintrittsrecht der Armenpflege, die anstelle der Eltern den Unterhalt des Kindes bestreitet, und hat damit grundsätzlich nichts anderes zum Gegenstand, als was jetzt durch Gesetz in
Art. 289 Abs. 2 ZGB
geregelt ist. Wenn der Kommentator einfügt: "soweit der Unterhaltspflichtige leistungsfähig ist", so hat er damit nicht zwischen dem leistungswilligen Schuldner und jenem, der es nicht ist, unterschieden.
Wer aus bösem Willen, aus Arbeitsscheu oder aus Liederlichkeit die familienrechtlichen Unterhalts- oder Unterstützungspflichten gegenüber seinen Angehörigen nicht erfüllt, wird nach Massgabe des vom Obergericht zitierten
Art. 217 StGB
bestraft. Doch hat die Rechtsprechung den Eingriff in den Notbedarf des unterhaltspflichtigen Schuldners nicht gestattet, weil sie damit der Missbilligung, welche die Rechtsordnung der Vernachlässigung familienrechtlicher Unterhaltspflichten angedeihen lässt, Ausdruck verleihen wollte. Vielmehr liegt der Rechtsprechung - wie oben dargelegt - die sozialpolitische Überlegung zugrunde, dass Schuldner und Gläubiger der gleich schweren wirtschaftlichen Einschränkung unterliegen sollen, wenn beider Einkommen den Notbedarf nicht zu decken vermag. Bei solcher Bedrängnis ist für Überlegungen pönalen Charakters kein Raum.