Urteilskopf
116 IV 233
44. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 22. November 1990 i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste
Art. 51 Abs. 1,
Art. 92 Abs. 1 SVG
,
Art. 54 Abs. 2,
Art. 96 VRV
; Sicherung der Unfallstelle; anwendbare Strafbestimmung.
Art. 54 Abs. 2 VRV
, der keine Verkehrsregel darstellt und sich auf
Art. 106 Abs. 1 SVG
stützt, begründet keine neue, selbständige Pflicht, sondern konkretisiert nur
Art. 51 Abs. 1 SVG
. Die Unterlassung der sofortigen Benachrichtigung der Polizei zum Zwecke der unverzüglichen Beseitigung einer Gefahr ist daher ausschliesslich nach
Art. 92 Abs. 1 SVG
zu bestrafen. Allein bei der Verletzung von VRV-Bestimmungen mit gesetzesvertretendem Charakter findet
Art. 96 VRV
Anwendung.
Zwischen den Strafbestimmungen von 92 Abs. 1 SVG und
Art. 96 VRV
besteht kein qualitativer Unterschied, so dass die irrtümliche Anwendung der einen anstelle der anderen mangels Auswirkung auf das Strafmass im Ergebnis Bundesrecht nicht verletzt.
A.-
X. erlitt in der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember 1988 auf der Heimfahrt von einem geschäftlichen Weihnachtsessen in angetrunkenem Zustand (Blutalkoholkonzentration von rund 1,5 Gewichtspromillen) mit seinem Personenwagen einen Unfall. Er liess das stark beschädigte Fahrzeug auf der J 18 in Richtung Reinach vor dem Schänzlitunnel im Bereich einer scharfen Linkskurve am linken Strassenrand verkehrsbehindernd stehen, ging nach Hause und unterliess es, die Polizei zu benachrichtigen.
B.-
Das Strafgericht des Kantons Basel-Landschaft (Dreiergericht II) sprach X. am 20. Oktober 1989 des Autofahrens in angetrunkenem Zustand, der Vereitelung einer Blutprobe sowie des pflichtwidrigen Verhaltens bei Unfall (im Sinne von
Art. 54 Abs. 2 VRV
) schuldig und verurteilte ihn gemäss Art. 91 Abs. 1 und 3 sowie
Art. 92 Abs. 1 SVG
zu einer (unbedingten) Gefängnisstrafe von vier Wochen. Es sprach ihn in Abänderung des Strafbefehls in den übrigen Anklagepunkten frei, da dessen Aussagen, er habe nicht einen Selbstunfall erlitten, sondern sei mit einen unkorrekt fahrenden roten Auto kollidiert und habe seinen danach nicht mehr fahrbaren Wagen nur noch ausrollen lassen, nicht widerlegt werden konnten. Das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft hiess die von X. eingereichte Appellation am 3. April 1990 teilweise gut. Es sprach ihn vom Vorwurf der Vereitelung einer Blutprobe frei, bestätigte den Schuldspruch wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand (
Art. 91 Abs. 1 SVG
), sprach ihn in Abänderung des Entscheids des Strafgerichts gestützt auf
Art. 96 VRV
- statt gemäss
Art. 92 Abs. 1 SVG
- des pflichtwidrigen Verhaltens nach einem Unfall (im Sinne von
Art. 54 VRV
) schuldig und verurteilte ihn zu einer (unbedingten) Gefängnisstrafe von drei Wochen.
C.-
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit den Anträgen, der Entscheid des Obergerichts vom 3. April 1990 sei aufzuheben und die Sache zur Verurteilung von X. auch wegen Vereitelung einer Blutprobe (
Art. 91 Abs. 3 SVG
) sowie wegen pflichtwidrigen Verhaltens bei Unfall gemäss
Art. 92 Abs. 1 SVG
- statt gemäss
BGE 116 IV 233 S. 235
Art. 96 VRV
in Verbindung mit
Art. 54 VRV
- an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Auszug aus den Erwägungen:
2.
Gemäss
Art. 92 Abs. 1 SVG
wird mit Haft oder mit Busse bestraft, wer bei einem Unfall die Pflichten verletzt, die ihm dieses Gesetz auferlegt.
Art. 51 SVG
regelt das "Verhalten bei Unfällen": Ereignet sich ein Unfall, an dem ein Motorfahrzeug oder Fahrrad beteiligt ist, so müssen alle Beteiligten sofort anhalten. Sie haben nach Möglichkeit für die Sicherung des Verkehrs zu sorgen (Abs. 1). Sind Personen verletzt, so haben alle Beteiligten für Hilfe zu sorgen, ... . Die Beteiligten, in erster Linie die Fahrzeugführer, haben die Polizei zu benachrichtigen. ... (Abs. 2). Ist nur Sachschaden entstanden, so hat der Schädiger sofort den Geschädigten zu benachrichtigen und Namen und Adresse anzugeben. Wenn dies nicht möglich ist, hat er unverzüglich die Polizei zu verständigen (Abs. 3). Bei Unfällen auf Bahnübergängen haben die Beteiligten die Bahnverwaltung unverzüglich zu benachrichtigen (Abs. 4). Das "Verhalten bei Unfällen" wird auch in
Art. 54-56 VRV
geregelt.
Art. 54 VRV
betrifft die "Sicherung der Unfallstelle": Entstehen durch Unfälle, Fahrzeugpannen, herabfallende Ladungen, ausgeflossenes Öl usw. Verkehrshindernisse oder andere Gefahren, so müssen die Beteiligten, namentlich auch Mitfahrende, sofort Sicherheitsmassnahmen treffen (Abs. 1). Die Polizei ist sofort zu benachrichtigen, wenn eine Gefahr nicht unverzüglich beseitigt werden kann, namentlich auch wenn ausfliessende Flüssigkeiten offene Gewässer oder Grundwasser verunreinigen könnten. Wird der Bahnbetrieb behindert, z.B. wenn Fahrzeuge oder Ladungen auf Bahnanlagen fallen, so ist die Bahnverwaltung sofort zu verständigen (Abs. 2). Wer Vorschriften dieser Verordnung verletzt, wird, wenn keine andere Strafbestimmung anwendbar ist, gemäss
Art. 96 VRV
mit Haft oder mit Busse bestraft.
a) Der infolge des Unfalls stark beschädigte, nach Darstellung des Beschwerdegegners nicht mehr fahrbare Personenwagen stand nach den Feststellungen im angefochtenen Urteil und im erstinstanzlichen Entscheid im Bereich einer starken Linkskurve verkehrsbehindernd am linken Strassenrand. Die kantonalen Instanzen werfen dem Beschwerdegegner vor, dass er die ihm unter den gegebenen Umständen gemäss
Art. 54 Abs. 2 VRV
obliegende Pflicht zur sofortigen Benachrichtigung der Polizei zwecks unverzüglicher
BGE 116 IV 233 S. 236
Beseitigung der vom liegengebliebenen Fahrzeug ausgehenden Gefahr verletzt habe.
Das Strafgericht ist der Auffassung, dass der Beschwerdegegner durch die Verletzung dieser ihm nach
Art. 54 Abs. 2 VRV
obliegenden Pflicht zur Benachrichtigung der Polizei den Tatbestand von
Art. 92 Abs. 1 SVG
erfüllt habe. Das Obergericht hält demgegenüber dafür, dass die Verletzung einer in der VRV statuierten Pflicht betreffend das Verhalten nach einem Unfall nicht von
Art. 92 Abs. 1 SVG
erfasst werde, da in dieser Strafbestimmung nur von der Verletzung der Pflichten die Rede ist, die "dieses Gesetz" auferlegt, worunter einzig das SVG verstanden werden dürfe. Nach Meinung des Obergerichts ist daher der Beschwerdegegner wegen seines gemäss
Art. 54 Abs. 2 VRV
pflichtwidrigen Verhaltens nach dem Unfall nicht gestützt auf
Art. 92 Abs. 1 SVG
, sondern gestützt auf
Art. 96 VRV
, der ebenfalls Haft oder Busse androht, zu verurteilen.
b) Die Staatsanwaltschaft macht in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zunächst geltend, der Beschwerdegegner habe dadurch, dass er sein beschädigtes Fahrzeug einfach an der fraglichen Stelle zurückliess und sich davonmachte, seine ihm nach
Art. 51 Abs. 1 SVG
obliegende Pflicht verletzt, "nach Möglichkeit für die Sicherung des Verkehrs zu sorgen"; allein schon aus diesem Grunde sei er gemäss
Art. 92 Abs. 1 SVG
zu verurteilen. Dem Beschwerdegegner wird indessen weder im angefochtenen Urteil noch im erstinstanzlichen Entscheid vorgeworfen, dass er nicht im Sinne von
Art. 51 Abs. 1 SVG
nach Möglichkeit für die Sicherung des Verkehrs gesorgt habe, und es fehlen sowohl im angefochtenen Urteil als auch im erstinstanzlichen Entscheid tatsächliche Feststellungen, die es dem Kassationshof erlaubten, die Begründetheit eines solchen Vorwurfs zu prüfen. Dem Beschwerdegegner wird insoweit einzig zur Last gelegt, dass er nicht unverzüglich die Polizei benachrichtigte. Unter diesen Umständen hat sich der Kassationshof nicht mit der Frage zu befassen, ob der Beschwerdegegner allenfalls die Pflicht, nach Möglichkeit für die Sicherung des Verkehrs zu sorgen (
Art. 51 Abs. 1 SVG
) verletzt habe. Die Verletzung einer solchen Pflicht könnte im übrigen auch nicht Anknüpfungspunkt für eine Verurteilung wegen Vereitelung einer Blutprobe (
Art. 91 Abs. 3 SVG
) sein, um die es der Beschwerdeführerin offenbar in erster Linie geht.
Entgegen den Ausführungen in der Nichtigkeitsbeschwerde ergibt sich die in
Art. 54 Abs. 2 VRV
statuierte Pflicht, sofort
BGE 116 IV 233 S. 237
die Polizei zu benachrichtigen, wenn eine Gefahr nicht unverzüglich beseitigt werden kann, nicht unmittelbar aus
Art. 51 Abs. 1 SVG
. Von der Pflicht zum Beizug der Polizei ist lediglich in den Absätzen 2 und 3 von
Art. 51 SVG
die Rede, deren Voraussetzungen unstreitig nicht erfüllt sind.
Art. 54 Abs. 2 VRV
konkretisiert indessen die in
Art. 51 Abs. 1 SVG
festgelegte Pflicht, nach Möglichkeit für die Sicherung des Verkehrs zu sorgen, indem vorgeschrieben wird, dass die Polizei sofort zu benachrichtigen ist, wenn eine Gefahr nicht unverzüglich beseitigt werden kann. Diese Verordnungsbestimmung ist ohne Zweifel durch Art. 51 Abs. 1 in fine SVG in der Weise gedeckt, dass sie darin, in Verbindung mit
Art. 106 Abs. 1 SVG
, eine genügende gesetzliche Grundlage findet. Eine neue selbständige Pflicht für die Unfallbeteiligten, die eine entsprechende ausdrückliche Gesetzesdelegation voraussetzen würde und die Vorschrift zu einer gesetzesvertretenden Verordnungsbestimmung werden liesse (vgl. dazu
BGE 103 IV 194
mit Hinweisen), enthält
Art. 54 Abs. 2 VRV
nicht (entgegen einer entsprechenden Formulierung in
BGE 91 IV 211
zu
Art. 56 Abs. 2 VRV
). Diese Bestimmung konkretisiert aber, wie gesagt, als Ausführungs- oder Vollziehungsvorschrift
Art. 51 Abs. 1 SVG
. Der Richter könnte schon auf dem Wege der teleologischen Auslegung von Art. 51 Abs. 1 in fine SVG auf eine Pflicht zum Beizug der Polizei erkennen, wie sie vom Verordnungsgeber in
Art. 54 Abs. 2 VRV
ausdrücklich statuiert wird.
Art. 54 Abs. 2 VRV
begründet mithin keine neue, d.h. keine nicht schon im Gesetz enthaltene Pflicht. Vielmehr verdeutlicht die VRV-Bestimmung in Konkretisierung von
Art. 51 Abs. 1 SVG
die nach einem Unfall bestehenden Pflichten.
c) Den Tatbestand von
Art. 92 Abs. 1 SVG
erfüllt, wer bei einem Unfall die Pflichten verletzt, die ihm "dieses Gesetz" auferlegt.
Art. 92 Abs. 1 SVG
erwähnt im Unterschied zu
Art. 90 Ziff. 1 SVG
die Vollziehungsvorschriften des Bundesrates nicht. Die dem Beschwerdegegner einzig zur Last gelegte Unterlassung der sofortigen Benachrichtigung der Polizei zum Zweck der unverzüglichen Beseitigung der Gefahr, die von seinem nach dem Unfall liegengebliebenen Personenwagen ausging, verstösst nach den vorstehenden Ausführungen nicht nur gegen
Art. 54 Abs. 2 VRV
, sondern auch gegen
Art. 51 Abs. 1 SVG
. Der Beschwerdegegner hätte daher an sich gemäss
Art. 92 Abs. 1 SVG
bestraft werden müssen, zumal
Art. 96 VRV
nur zur Anwendung gelangt, "wenn keine andere Strafbestimmung anwendbar ist". Gleichwohl erweist sich
BGE 116 IV 233 S. 238
der angefochtene Entscheid nicht als bundesrechtswidrig. In Fällen der vorliegenden Art kann auf eine Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils verzichtet werden, weil die Strafdrohungen in
Art. 92 Abs. 1 SVG
und in
Art. 96 VRV
gleich sind und die Pflicht, die der Beschwerdegegner missachtete, sowohl in Art. 51 Abs. 1 in fine SVG als auch in
Art. 54 Abs. 2 VRV
statuiert wird. Damit besteht keine qualitative Differenz zwischen den in Frage stehenden Strafnormen und ist auch eine Auswirkung auf das Strafmass auszuschliessen.
Es ist auch an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass es für die Entscheidung der vor allem interessierenden Frage, ob sich der Beschwerdegegner auch der Vereitelung einer Blutprobe im Sinne von
Art. 91 Abs. 3 SVG
schuldig gemacht habe, entgegen der Meinung der Staatsanwaltschaft nicht erheblich ist, ob das ihm zur Last gelegte Verhalten gegen
Art. 54 Abs. 2 VRV
oder gegen
Art. 51 Abs. 1 SVG
verstosse und ob es gemäss
Art. 96 VRV
oder nach
Art. 92 Abs. 1 SVG
zu bestrafen sei.
Der Vollständigkeit halber ist anzufügen, dass die Verletzung von VRV-Bestimmungen, die gesetzesvertretende Verordnungsvorschriften darstellen, aber nicht als Verkehrsregeln zu betrachten sind (dazu nachfolgend E. d), wie z.B.
Art. 3a VRV
(Tragen von Sicherheitsgurten), ausschliesslich gemäss
Art. 96 VRV
zu bestrafen sind. Hier enthält das SVG lediglich die Kompetenznorm - für das angeführte Beispiel
Art. 54 Abs. 5 lit. a SVG
-, während sich die den Verkehrsteilnehmer treffende Pflicht allein aus der VRV ergibt.
d) Man kann sich zudem die - in der Nichtigkeitsbeschwerde nicht aufgeworfene - Frage stellen, ob die in
Art. 54 Abs. 2 VRV
ausdrücklich statuierte und sich schon aus Art. 51 Abs. 1 in fine SVG ergebende Pflicht zur Benachrichtigung der Polizei zwecks Beseitigung von Gefahren eine "Verkehrsregel" im Sinne von
Art. 90 SVG
sei.
Gemäss
BGE 94 IV 28
, der einen Fall der Überschreitung der zulässigen Parkzeit betraf, gehören zu den Verkehrsregeln im Sinne von
Art. 90 SVG
sämtliche im III. Titel des Gesetzes (
Art. 26-57 SVG
) enthaltenen Bestimmungen und die gestützt darauf erlassenen bundesrätlichen Vollziehungsvorschriften (S. 32 E. 5). Demnach wären die in
Art. 51 SVG
und Art. 54 bis 56 VRV enthaltenen Vorschriften Verkehrsregeln im Sinne von
Art. 90 SVG
. Auch aus
Art. 1 Abs. 2 SVG
ergibt sich, dass die Art. 26-57 und damit eben auch
Art. 51 SVG
Verkehrsregeln enthalten. Eine
BGE 116 IV 233 S. 239
solche Betrachtungsweise ist indessen zu absolut. Der Gesetzgeber hatte selber gewisse Zweifel, ob tatsächlich alle in Art. 26 bis 57 SVG enthaltenen Vorschriften und insbesondere auch die Pflichten betreffend das Verhalten bei Unfällen Verkehrsregeln seien, und er hat unter anderem gerade wegen dieser Zweifel die Verletzung der in
Art. 51 SVG
statuierten Pflichten in einer besonderen Strafbestimmung,
Art. 92 SVG
, geregelt (siehe Botschaft des Bundesrates, BBl 1955 II S. 61; Sten.Bull. SR 1958 S. 133; vgl. auch SCHULTZ, Die Strafbestimmungen des SVG, 1964, S. 156; BUSSY/RUSCONI, Code Suisse de la circulation routière, art. 92 LCR, n. 1.1). In der Tat mag man zwar die in
Art. 51 Abs. 1 SVG
bzw.
Art. 54 Abs. 1 VRV
statuierten Pflichten, sofort anzuhalten und nach Möglichkeit für die Sicherung des Verkehrs zu sorgen bzw. Sicherheitsmassnahmen zu treffen, noch als Verkehrsregeln qualifizieren; die Pflicht zur Benachrichtigung der Polizei kann aber nicht mehr als "Verkehrsregel" begriffen werden.