BGE 116 V 284 vom 20. Juni 1990

Datum: 20. Juni 1990

Artikelreferenzen:  Art. 43 SchKG, Art. 204 SchKG, Art. 207 SchKG, Art. 269 SchKG , Art. 207 Abs. 1 SchKG, Art. 95 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 3 AVIG, Art. 95 AVIG, Art. 43 SchKG, Art. 73 BVG, Art. 134 VZG

BGE referenzen:  120 III 143, 132 III 89 , 90 II 253, 100 IA 302, 103 III 24, 100 IA 301, 111 V 150, 109 III 36, 111 V 150, 109 III 36

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

116 V 284


43. Auszug aus dem Urteil vom 20. Juni 1990 i.S. H. gegen Kantonales Arbeitsamt Basel-Stadt und Allgemeine Arbeitslosenkasse in Basel sowie Schiedskommission des Kantons Basel-Stadt

Regeste

Art. 95 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 3 AVIG , Art. 207 SchKG : Begriff des Zivilprozesses; Wirkungen der Konkurseröffnung.
- Beim Verfahren um Rückerstattung zu Unrecht ausbezahlter Arbeitslosentaggelder handelt es sich um einen Zivilprozess im Sinne von Art. 207 SchKG (Erw. 3c).
- Einstellung eines solchen Prozesses im Klage- bzw. Beschwerdeverfahren. Stillstand einer laufenden Rechtsmittelfrist (Erw. 3d).

Sachverhalt ab Seite 284

BGE 116 V 284 S. 284

A.- Francine H., von Beruf Sekretärin, besuchte ab 16. Juni 1986 die Stempelkontrolle und bezog seither Arbeitslosenentschädigung.
Am 15. April 1987 verfügte das Kantonale Arbeitsamt, die Versicherte gelte seit dem 16. Juni 1986 als nicht vermittlungsfähig
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und die ab 16. Juni 1986 gestempelten Tage seien nicht zur Auszahlung berechtigt, da die Versicherte seit dem 1. April 1986 Inhaberin eines Physiotherapieinstituts sei und zudem einen Schönheitssalon führe. Am 6. Mai 1987 wurde über Francine H. der Konkurs eröffnet.
Mit Verfügung vom 20. Mai 1987 forderte die Allgemeine Arbeitslosenkasse in Basel von der Versicherten gestützt auf Art. 95 AVIG die ab 16. Juni bis 31. Dezember 1986 bezogenen Taggelder in Höhe von Fr. 18'075.80 zurück.
Am 2. Juli 1987 wurde das Konkursverfahren gegen Francine H. mangels Aktiven eingestellt.

B.- Francine H. liess mit Eingabe vom 10. Juli 1987, eingegangen am 13. Juli 1987, Beschwerde gegen die Verfügung des Kantonalen Arbeitsamtes vom 15. April 1987 sowie gegen diejenige der Allgemeinen Arbeitslosenkasse vom 20. Mai 1987 Beschwerde führen.
Mit Beschluss vom 21. Juli 1987 trat die Schiedskommission für Arbeitslosenversicherung des Kantons Basel-Stadt auf die Beschwerde gegen die Verfügung des Kantonalen Arbeitsamtes nicht ein, da die Beschwerde verspätet sei.
Auf die Beschwerde gegen die Rückforderungsverfügung der Arbeitslosenkasse vom 20. Mai 1987 trat die Schiedskommission mit Beschluss vom 21. Juli 1987 ebenfalls nicht ein. Zur Begründung führte sie an, die Versicherte sei infolge der Konkurseröffnung nicht mehr zur Beschwerde legitimiert, da der Konkursmasse die alleinige Parteifähigkeit zukomme.

C.- Francine H. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerden führen und beantragen, in Aufhebung der beiden Beschlüsse der Vorinstanz vom 21. Juli 1987 sei die Angelegenheit zur materiellen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Eventuell sei festzustellen, dass sie für sämtliche kontrollpflichtigen Tage anspruchsberechtigt sei.
Das Kantonale Arbeitsamt schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, die Allgemeine Arbeitslosenkasse auf Nichteintreten, eventuell Abweisung. Das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA) beantragt hinsichtlich der Verfügung vom 15. April 1987 Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während es sich hinsichtlich der Verfügung vom 20. Mai 1987 eines Antrags enthält.

D.- Das Eidg. Versicherungsgericht führte zu den SchKG-rechtlichen Grundsatzfragen des vorliegenden Falles einen
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Meinungsaustausch mit der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts durch.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3. Über die Beschwerdeführerin wurde am 6. Mai 1987 der Konkurs eröffnet (Schweizerisches Handelsamtsblatt, SHAB, Nr. 125 vom 3. Juni 1987). Im folgenden ist daher zu prüfen, welchen Einfluss die Konkurseröffnung auf die Verwaltungsverfügungen und auf die Beschlüsse der Schiedskommission hat.
a) Gemäss Art. 207 SchKG sind nach der Konkurseröffnung Zivilprozesse, in denen der Gemeinschuldner Kläger oder Beklagter ist, von Gesetzes wegen einzustellen; sie können erst zehn Tage nach der zweiten Gläubigerversammlung, die über ihre Fortführung zu entscheiden hat, wieder aufgenommen werden. Ausgenommen sind dringliche Fälle (Abs. 1) sowie die vom Gesetz ausdrücklich erwähnten Prozesse (Abs. 2). Während der in Absatz 1 bestimmten Zeit laufen die Verjährungs- und Verwirkungsfristen nicht (Abs. 3).
b) Der Begriff des Zivilprozesses gemäss Art. 207 Abs. 1 SchKG ist in einem weiten Sinne zu verstehen und umfasst alle Prozesse, welche zur Masse gehörende Rechte berühren (JAEGER, Kommentar zum SchKG, Bd. II, S. 65, N. 2 zu Art. 207 SchKG ). Denn die in Art. 207 SchKG vorgesehenen Ausnahmefälle, in denen das Verfahren nicht einzustellen ist, dürfen nicht zur Annahme verleiten, dass alle Verfahren, die nicht Zivilprozesse im technischen Sinne sind, vom Gemeinschuldner selbständig weitergeführt werden könnten ( BGE 100 Ia 302 Erw. 2; vgl. auch BGE 103 III 24 Erw. 3 in bezug auf ein Enteignungsverfahren). Zu diesen Prozessen sind vielmehr auch Beschwerdeverfahren über öffentlich-rechtliche Forderungen zu rechnen, die auf dem Schuldbetreibungswege geltend gemacht werden können und die sich als eigentliche Konkursforderungen nicht von privatrechtlichen Ansprüchen unterscheiden. Da es der Schuldbetreibungsgesetzgeber nicht für nötig befunden hat, die Stellung der öffentlich-rechtlichen Ansprüche im Konkurs durch besondere Vorschriften zu regeln, hat in dieser Hinsicht eine Gleichstellung mit den privatrechtlichen Ansprüchen Platz zu greifen (BLUMENSTEIN, Die Zwangsvollstreckung für öffentlich-rechtliche Geldforderungen nach schweizerischem Recht, in Festgabe zum 50jährigen Bestehen des Bundesgerichts, S. 243). Demnach ist massgebend, ob in einem Prozess zur
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Masse gehörende Rechte berührt werden, welche auf dem Schuldbetreibungswege geltend gemacht werden können. Ist dies der Fall, so ist das Verfahren im Sinne von Art. 207 Abs. 1 SchKG einzustellen.
c) Wie das Eidg. Versicherungsgericht im nicht veröffentlichten Urteil G. vom 17. November 1982 entschieden hat, fällt eine Streitigkeit über AHV-Beiträge unter den Begriff des "Zivilprozesses" im Sinne von Art. 207 Abs. 1 SchKG . Denn es gehe um einen Prozess über Abgaben, welche das Massevermögen berührten und die auf dem Schuldbetreibungswege geltend gemacht werden könnten. Es handle sich deshalb um ein Verfahren, das im Sinne von Art. 207 Abs. 1 SchKG einzustellen sei und über dessen Fortführung ausschliesslich die zweite Gläubigerversammlung zu befinden habe. Gleich zu entscheiden ist für das vorliegende Verfahren. Die Verfügung vom 15. April 1987 über die Vermittlungsfähigkeit und die damit notwendigerweise zusammenhängende Verfügung vom 20. Mai 1987 über die Rückforderung in Höhe von Fr. 18'075.80 betreffen eine Forderung der Arbeitslosenversicherung, welche das Massevermögen berührt und die auf dem Schuldbetreibungswege geltend gemacht werden kann ( Art. 43 SchKG ).
d) Zu entscheiden ist des weitern, in welchem Stadium sich der Sozialversicherungsprozess befinden muss, um im Sinne von Art. 207 SchKG eingestellt werden zu können.
Ein Zivilprozess muss im Zeitpunkt der Konkurseröffnung bereits rechtshängig sein (GILLIÉRON, Poursuite pour dettes, faillite et concordat, 2. Aufl., 1988, S. 293 unten). Soweit sich der Sozialversicherungsprozess ebenfalls im Klageverfahren abwickelt (sog. ursprüngliche Verwaltungsrechtspflege; GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., 1983, S. 29), wie z.B. Streitigkeiten nach Art. 73 BVG , ist somit erforderlich, dass die Klage im Zeitpunkt der Konkurseröffnung bereits bei der zuständigen ersten Instanz eingereicht worden ist.
Anders und mit einem Zivilprozess als einem Klageverfahren nicht vergleichbar liegen die Verhältnisse im Falle der nachträglichen Verwaltungsrechtspflege. Diese ist dadurch charakterisiert, dass das im Streite liegende Rechtsverhältnis zunächst durch die Verwaltung mit einer beschwerdefähigen Verfügung geregelt wird. Deren Bindungswirkung besteht darin, dass die in der Verfügung enthaltene Regelung des Rechtsverhältnisses mit Ablauf der Rechtsmittelfrist rechtskräftig und damit (auch für den Richter) verbindlich wird. Die Verfügung ist damit einer Entscheidung
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gleichzusetzen, die im Grundsatz nur auf ein Rechtsmittel hin beseitigt oder abgeändert wird (GYGI, a.a.O., S. 31 unten). Im Falle der nachträglichen Verwaltungsrechtspflege ist ein im Sinne von Art. 207 Abs. 1 SchKG einzustellender Sozialversicherungsprozess daher als angehoben zu betrachten, wenn im Zeitpunkt der Konkurseröffnung eine Verfügung bereits zugestellt worden und damit der Beschwerdeweg eröffnet worden ist (MEYER, Die Rechtspflege in der Sozialversicherung, BJM 1989, S. 3 unten). Mit dieser, auf die Eigenart des üblicherweise ablaufenden Sozialversicherungsprozesses zugeschnittenen Lösung, welcher sich auch die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts im Meinungsaustauschverfahren anschliesst, wird verhindert, dass die Rechtslage zum Nachteil der Konkursgläubiger verändert wird, wenn die Konkurseröffnung während einer laufenden, eine Sozialversicherungsverfügung betreffenden Rechtsmittelfrist erfolgt. Denn es besteht die Gefahr, dass eine solche Verfügung in Rechtskraft erwächst, da der Gemeinschuldner oft kein Interesse mehr an der richterlichen Überprüfung der Begründetheit der Verwaltungsverfügung hat und die Konkursverwaltung infolge fehlender Kenntnis der Verfügung nicht fristgemäss Beschwerde erheben kann.
e) Der Konkurs über die Beschwerdeführerin wurde am 6. Mai 1987 eröffnet, worauf das Konkursverfahren am 2. Juli 1987 mangels Aktiven eingestellt wurde. Die Publikation der Einstellung erfolgte im SHAB Nr. 154 vom 8. Juli 1987. Innert der 10tägigen Frist bis 18. Juli 1987 verlangte kein Gläubiger die Durchführung des Konkursverfahrens (Schreiben des Konkursamtes Basel-Stadt vom 21. Februar 1989), weshalb der Konkurs seit Ablauf dieser Frist als geschlossen gilt ( BGE 90 II 253 ; STOCKER, Entscheidungsgrundlagen für die Wahl des Verfahrens im Konkurs, Diss. Zürich 1985, S. 178). Somit war die mit Verfügung vom 15. April 1987 eingeleitete Rückforderungsstreitigkeit als Zivilprozess im Sinne von Art. 207 Abs. 1 SchKG vom 6. Mai bis 18. Juli 1987 von Gesetzes wegen ( BGE 100 Ia 301 Erw. 1) eingestellt. Folgerichtig standen während der Einstellung des Prozesses auch die gesetzlichen Rechtsmittelfristen still (GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl., 1979, S. 276, Anm. 57 am Ende; JAEGER, a.a.O., S. 71, N. 9 zu Art. 207 SchKG ; STRÄULI/MESSMER, Kommentar zur Zürcherischen Zivilprozessordnung, 2. Aufl., 1982, N. 8 zu § 53, S. 106; vgl. auch AMONN, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 4. Aufl., 1988, N. 18 zu § 41, S. 330). Daraus folgt, dass die Rechtsmittelfrist der Verfügung
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vom 15. April 1987 bei Einreichung der Beschwerde vom 10. Juli 1987 wegen des Fristenstillstandes noch nicht abgelaufen war. Unter diesen Umständen kann dahingestellt bleiben, in welchem Zeitpunkt der Beschwerdeführerin die Verfügung vom 15. April 1987 rechtsgültig zugestellt worden ist.
Was die während des Konkursverfahrens erlassene Verfügung vom 20. Mai 1987 betrifft, so hätte sie angesichts von Art. 204 SchKG der Konkursverwaltung und nicht der Beschwerdeführerin eröffnet werden müssen. Aus dieser mangelhaften Eröffnung darf den Beteiligten jedoch kein Nachteil erwachsen ( BGE 111 V 150 mit Hinweisen; ZAK 1989 S. 176 Erw. 2a; ARV 1987 Nr. 13 S. 119). Da die Beschwerdeführerin erst nach rechtskräftiger Konkurseinstellung am 18. Juli 1987 wieder ein eigenes Beschwerderecht hatte, konnte die Frist zur Beschwerde gegen die ihr zu Unrecht persönlich zugestellte Verfügung vom 20. Mai 1987 nicht vorher zu laufen beginnen.
Entgegen der Auffassung der Schiedskommission schadet der Beschwerdeführerin nicht, dass diese die Beschwerde noch während des hängigen Konkursverfahrens erhoben hat. Ein Rechtsmittel, das der Gemeinschuldner nach Eröffnung des Konkurses eingelegt hat, ist nicht zum vornherein ungültig, sondern kann von der Konkursverwaltung bzw. den Konkursgläubigern genehmigt werden (BRAND, Wirkungen des Konkurses auf die zur Zeit der Konkurseröffnung hängigen Zivilprozesse, SJK Nr. 1002, S. 1; JAEGER, a.a.O., S. 68, N. 5 zu Art. 207 SchKG ). Im vorliegenden Verfahren ist das Konkursverfahren mangels Aktiven eingestellt worden und das Konkursamt bzw. die zweite Gläubigerversammlung hat sich über eine allfällige Fortsetzung des Prozesses nie geäussert (vgl. BGE 109 III 36 Erw. 5). Sodann fällt die mit der Konkurseröffnung eingetretene Beschränkung des Verfügungsrechts des Gemeinschuldners mit der rechtskräftigen Einstellung des Konkursverfahrens (unter Vorbehalt von Art. 269 SchKG und Art. 134 VZG ) wieder dahin ( BGE 90 II 253 ; STOCKER, a.a.O., S. 183). Schliesslich sind nach der Einstellung des Konkursverfahrens mangels Aktiven die vor der Konkurseröffnung anhängig gemachten Passivprozesse gegen eine natürliche Person weiterzuführen (JAEGER, a.a.O., S. 68, N. 8 zu Art. 207 SchKG ; STOCKER, a.a.O., S. 200, Anm. 4). Unter diesen Umständen lässt es sich nicht rechtfertigen, die von der Beschwerdeführerin am 10. Juli 1987 während des hängigen Konkursverfahrens erhobene Beschwerde als ungültig zu betrachten. Die während der
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Beschränkung des Verfügungsrechts eingereichte Beschwerde gegen die Verfügung vom 20. Mai 1987 ist nach rechtskräftiger Einstellung des Konkursverfahrens ebenfalls als gültig zu qualifizieren, zumal die Beschwerdeführerin mit ihrem weiteren prozessualen Verhalten hinreichend kundgetan hat, dass sie an einer materiellen Behandlung ihrer Beschwerde vom 10. Juli 1987 interessiert ist.
f) Aus dem Gesagten folgt, dass die vorinstanzliche Beschwerde vom 10. Juli 1987 gegen die Verfügungen vom 15. April bzw. 20. Mai 1987 rechtzeitig eingereicht worden und sie, da inzwischen das Konkursverfahren mangels Aktiven eingestellt worden ist, materiell zu behandeln ist.

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