Urteilskopf
117 Ia 421
66. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 12. Dezember 1991 i.S. X. gegen X. und Obergericht des Kantons Thurgau (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste
Art. 4 BV
; Vertrauensschutz bei unzutreffender Rechtsmittelbelehrung.
Angabe der für den ordentlichen Prozess geltenden Berufungsfrist in einem Entscheid, der im beschleunigten Verfahren ergangen ist, wo sämtliche Fristen der kantonalen Zivilprozessordnung auf die Hälfte verkürzt sind (§ 151 Ziff. 2 der thurgauischen ZPO).
Das zuständige Bezirksgericht verpflichtete A.X. mit Urteil vom 12. September/3. Oktober 1990, seiner mündigen Tochter B.X., die gegen ihn eine Unterhaltsklage erhoben hatte, mit Wirkung ab 1. August 1989 für die Dauer von zwei Jahren oder bis zu einem allfälligen Schulabschluss monatlich und im voraus Fr. 400.-- zu bezahlen. Das Urteil enthielt folgende Rechtsmittelbelehrung:
"Gegen dieses Urteil kann binnen 10 Tagen seit Zustellung bei der Gerichtskanzlei ... Berufung erklärt werden. Die Eingabe hat schriftlich im Doppel zu erfolgen."
Der Entscheid wurde dem Anwalt von A.X. am 4. Oktober 1990 zugestellt. Mit Eingabe vom 15. Oktober 1990 erklärte dieser die Berufung an das Obergericht des Kantons Thurgau.
Mit Beschluss vom 16. April 1991 trat das Obergericht auf die Berufung nicht ein. Es begründete seinen Entscheid im wesentlichen damit, dass nach dem Gesetz über die Zivilrechtspflege (Zivilprozessordnung) des Kantons Thurgau vom 6. Juli 1988 (ZPO) Streitigkeiten über die Unterhaltspflicht gemäss
Art. 279 ZGB
im beschleunigten Verfahren zu behandeln und dass in einem solchen Verfahren sämtliche Fristen auf die Hälfte herabgesetzt seien. Die Berufung hätte deshalb innert fünf Tagen erklärt werden müssen und sei somit verspätet. Der Anwalt von A.X.
BGE 117 Ia 421 S. 422
hätte bei der gebotenen Aufmerksamkeit erkennen können, dass die von der ersten Instanz angegebene Berufungsfrist unrichtig gewesen sei, und er hätte sich deshalb nicht auf die im erstinstanzlichen Urteil enthaltene Rechtsmittelbelehrung verlassen dürfen.
Gegen diesen ihm am 12. August 1991 zugestellten Entscheid hat A.X. staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 BV
erhoben. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Aus den Erwägungen:
2.
a) Die bundesgerichtliche Rechtsprechung leitet aus
Art. 4 BV
ein Recht auf Vertrauensschutz ab, das unter anderem beinhaltet, dass falsche Auskünfte von Behörden unter bestimmten Voraussetzungen eine vom materiellen Recht abweichende Behandlung des Rechtsuchenden gebieten. Ein wichtiger Anwendungsfall dieses verfassungsmässigen Rechts besteht darin, dass einer Partei aus einer fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung grundsätzlich kein Nachteil erwachsen darf. Aufgrund einer unrichtigen Auskunft kann sich daher eine gesetzliche Frist im Einzelfall entsprechend verlängern (vgl.
BGE 115 Ia 18
f. E. 4a;
BGE 114 Ia 106
f. E. 2a und dort zitierte Entscheide). Diese Rechtsprechung ist allerdings an den Vorbehalt geknüpft worden, dass sich nur derjenige auf eine fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung berufen kann, der die Unrichtigkeit nicht kennt und auch bei gebührender Aufmerksamkeit nicht hätte erkennen können. Nur grobe Fehler einer Partei oder ihres Vertreters sollen aber dazu führen, eine falsche Rechtsmittelbelehrung aufzuwiegen. Das Bundesgericht hat in seiner bisherigen Rechtsprechung einen solchen Fehler bejaht und den Vertrauensschutz dementsprechend versagt, wo eine Partei oder ihr Anwalt die Fehlerhaftigkeit der Rechtsmittelbelehrung durch Konsultierung des massgebenden Gesetzestextes allein hätte erkennen können; nicht verlangt wurde hingegen, dass neben dem Gesetzestext auch noch die einschlägige Rechtsprechung oder Literatur hätte nachgeschlagen werden müssen (vgl.
BGE 112 Ia 310
E. 3 sowie insbesondere
BGE 106 Ia 16
ff. E. 3).
b) Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Beschwerdeführer durch einen Anwalt vertreten war, der mit dem Zivilprozessrecht des Kantons Thurgau gut vertraut ist. Aus
§ 151 Ziff. 2 ZPO
geht klar hervor, dass im beschleunigten Verfahren sämtliche Fristen
BGE 117 Ia 421 S. 423
dieses Gesetzes auf die Hälfte herabgesetzt sind. Aufgrund dieser Bestimmung war somit an sich klar erkennbar, dass die Berufungsfrist, die ordentlicherweise zehn Tage beträgt (
§ 225 Abs. 1 ZPO
), in Fällen, die in das beschleunigte Verfahren verwiesen sind, nur fünf Tage dauert. Daraus kann allerdings noch nicht der Schluss gezogen werden, es sei als grober Fehler im Sinne der erwähnten Rechtsprechung zu betrachten, dass der Anwalt des Beschwerdeführers sich auf die ihm mitgeteilte Rechtsmittelbelehrung verlassen habe, ohne das Gesetz zu konsultieren. Das Erkennen der Fehlerhaftigkeit der Rechtsmittelbelehrung setzte nämlich das Bewusstsein des Anwalts voraus, dass die gegen seinen Klienten angestrengte Unterhaltsklage den besonderen Vorschriften des beschleunigten Verfahrens unterliege. Die Aufzählung in
§ 150 ZPO
zeigt, dass die im beschleunigten Verfahren zu behandelnden Fälle sehr verschiedenartig sind; für den Praktiker ist es deshalb nicht immer einfach, sich zu vergegenwärtigen, ob ein bestimmter Streitfall diesem Verfahren unterliege.
Es ist nach dem Gesagten verständlich, wenn ein Anwalt, der wie hier die beklagte Partei vertrat, sich also mit einer Klage zu befassen hatte, die beim Gericht bereits hängig war, bei der Entgegennahme des erstinstanzlichen Urteils nicht gleich daran denkt, die Berufungsfrist könnte entgegen der ihm erteilten Rechtsmittelbelehrung nicht die übliche, sondern eine aufgrund von
§ 151 Ziff. 2 ZPO
verkürzte sein. Dies gilt mindestens in einem Fall wie dem vorliegenden, wo nichts im erstinstanzlichen Urteil darauf hindeutete, dass die beurteilte Streitigkeit den Bestimmungen des beschleunigten Verfahrens unterstand. Kann aber im Umstand, dass der Anwalt des Beschwerdeführers die ihm mitgeteilte Berufungsfrist nicht von vornherein als fehlerhaft erkannte und diese auch nicht weiter auf ihre Richtigkeit hin prüfte, kein schwerwiegender Fehler erblickt werden, muss es beim Grundsatz bleiben, dass dem Beschwerdeführer aus der unrichtigen Rechtsmittelbelehrung kein Nachteil erwachsen darf. Es verstösst daher gegen das sich aus
Art. 4 BV
ergebende Recht auf Vertrauensschutz, dass das Obergericht die Berufung als verspätet erachtet hat und aus diesem Grunde darauf nicht eingetreten ist.
c) Zum gleichen Ergebnis führt die Überlegung, dass die Vermeidung von Rechtsnachteilen im Falle der Befolgung unrichtiger Rechtsmittelbelehrungen auf der Ebene des Bundesrechts sogar positivrechtlich geregelt worden ist (vgl.
Art. 107 Abs. 3 OG
und
Art. 38 VwVG
). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung
BGE 117 Ia 421 S. 424
kommt diesen Gesetzesbestimmungen eine allgemeine Tragweite zu (vgl. 105 Ib 160 E. 5;
96 II 72
;
96 III 99
). Ein Vorbehalt, der den Vertrauensschutz beschränken würde, kann den genannten Bestimmungen nicht entnommen werden. Dies spricht dafür, dass der Schutz des Vertrauens nur in seltenen Ausnahmefällen zu versagen ist. Abgesehen von den Situationen, in denen der Adressat die Unrichtigkeit der Rechtsmittelbelehrung ohnehin selbst erkannt hat, liegt ein solcher Fall einzig dann vor, wenn er sie hätte erkennen müssen. Davon kann hier nicht die Rede sein ...