Urteilskopf
117 II 394
73. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 1. Oktober 1991 i.S. W. gegen A. (Berufung)
Regeste
Prozessuales Verhalten als unerlaubte Handlung im Sinne von
Art. 41 OR
.
1. Wenn das prozessbezogene Verhalten als solches und nicht das im Prozess zu beurteilende Ereignis eine rechtswidrige Handlung darstellt, besteht ein bundesrechtlicher Anspruch gegen den Schädiger auf Ersatz der dadurch entstandenen Prozesskosten. Der Geschädigte kann diesen Anspruch in der Regel in Konkurrenz mit einem allfälligen Anspruch aus dem kantonalen oder ausländischen Verfahrensrecht geltend machen (E. 3).
2. Materielle Voraussetzungen, unter denen ein prozessuales Verhalten eine Haftung gemäss
Art. 41 ff. OR
begründen kann (E. 4).
A. erhob im April 1984 beim Obersten Gericht (Supreme Court) des Staates New York Klage gegen W. auf Zahlung von rund sechzehn Millionen US-Dollars. Mit Urteil vom 6. Juli 1988 trat das Gericht wegen Säumnis sowie mangels sachlicher und örtlicher Zuständigkeit nicht auf die Klage ein.
W. klagte seinerseits im August 1989 beim Appellationshof des Kantons Bern gegen A. mit dem Antrag, den Beklagten zur Zahlung eines gerichtlich zu bestimmenden, Fr. 8'000.-- übersteigenden Betrages nebst Zins zu verpflichten. Der Kläger forderte damit Schadenersatz und Genugtuung mit der Begründung, die Anhebung der New Yorker Klage sei als unerlaubte Handlung gemäss
Art. 41 OR
zu betrachten, durch die zudem seine Persönlichkeitsrechte im Sinne von
Art. 28 ZGB
verletzt worden seien.
Mit Urteil vom 2. Oktober 1990 wies der Appellationshof die Klage ab. Zur Begründung führte er aus, der Kläger habe nicht nachgewiesen, dass das New Yorker Prozessrecht die Prozesskostenfolgen ungeregelt lasse, wie er behaupte. Zudem stehe nicht fest, dass die vom Beklagten im New Yorker Verfahren gegenüber dem Kläger erhobenen Vorwürfe betrügerischen oder ähnlich unredlichen Verhaltens tatsächlich falsch seien; schliesslich habe der Kläger nicht beweisen können, dass seine geschäftliche Tätigkeit durch diesen Prozess beeinträchtigt worden sei.
Der Kläger hat gegen dieses Urteil Berufung beim Bundesgericht eingelegt. Er hat im Berufungsverfahren einen Teil der vorinstanzlich erhobenen Klagebegehren fallengelassen und verlangt nur noch Ersatz für die Anwaltskosten sowie für sonstigen Aufwand, welcher ihm im Zusammenhang mit dem New Yorker Prozess erwachsen ist. In rechtlicher Hinsicht stützt er sich lediglich noch auf
Art. 41 OR
, ohne dass an der Behauptung einer Verletzung der Persönlichkeitsrechte im Sinne von
Art. 28 ZGB
festgehalten wird.
Aus den Erwägungen:
3.
Der Kläger wirft dem Appellationshof sodann eine Verletzung von
Art. 41 OR
vor, weil er seinen Anspruch aus unerlaubter Handlung zu Unrecht verneint habe. Er macht geltend, die New Yorker Klage sei vom Beklagten widerrechtlich angehoben worden; die ihr zugrunde liegenden Behauptungen seien wider besseres Wissen, mut- und böswillig aufgestellt worden. Die Klage habe ausschliesslich dazu gedient, ihm in einer gegen die guten Sitten verstossenden Weise Kosten zu verursachen, also absichtlich Schaden zuzufügen.
a) Aus dem angefochtenen Urteil geht hervor, dass der Appellationshof einen Anspruch des Klägers aus
Art. 41 OR
auf Ersatz der Anwaltskosten und sonstigen Aufwandes im Zusammenhang mit dem New Yorker Prozess nicht grundsätzlich verneint, sondern davon abhängig macht, ob die Kosten nach New Yorker Recht im Rahmen der prozessualen Kostenregelung oder eines "Adhäsionsprozesses" geltend gemacht werden können.
Diese Auffassung entspricht im wesentlichen der Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Verhältnis zwischen Bundesrecht und kantonalem Prozessrecht bezüglich der Ersatzpflicht für vorprozessuale Parteikosten im Haftpflichtprozess. Solche Kosten
BGE 117 II 394 S. 396
bilden gemäss
BGE 117 II 106
E. 5 haftpflichtrechtlich Bestandteil des Schadens, soweit sie nicht durch die nach kantonalem Verfahrensrecht zuzusprechende Parteientschädigung gedeckt sind. Im letzteren Fall können diese Kosten nicht mehr in einem späteren Haftpflichtprozess geltend gemacht werden (
BGE 112 Ib 355
E. 3,
BGE 97 II 267
E. III. 5). Die gleiche Ansicht, von der abzuweichen im vorliegenden Fall kein Anlass besteht, wird auch in der Lehre vertreten (BREHM, N. 89 zu
Art. 41 OR
; OFTINGER, Schweiz. Haftpflichtrecht, Bd. I, 4. Aufl., S. 57; KELLER, Haftpflicht im Privatrecht, Bd. II, S. 33 und 41). Die Verteilung der prozessualen Parteikosten, d.h. solcher Parteikosten, die im Verlaufe oder bei der Einleitung des Prozesses entstehen und auf diesen zurückzuführen sind, wird dagegen ausschliesslich vom anwendbaren Verfahrensrecht geregelt (
BGE 112 Ib 356
mit Hinweisen). Ob im Sinne vereinzelter Lehrmeinungen auch hier ein zusätzlicher bundesrechtlicher Anspruch auf Ersatz besteht, braucht im vorliegenden Fall nicht geprüft zu werden (vgl. dazu OFTINGER, a.a.O., S. 57; STEIN, Wer zahlt die Anwaltskosten im Haftpflichtfall?, ZSR 1987 I. Halbband, S. 649 f. und S. 660).
b) Von diesen beiden Fallgruppen zu unterscheiden ist der Sachverhalt, wo das prozessbezogene Verhalten als solches und nicht das im Prozess zu beurteilende Ereignis eine rechtswidrige Handlung darstellt. Diesfalls geht der aus dem rechtswidrigen Verhalten entstehende Schaden, soweit es sich um Gerichts- oder Parteikosten handelt, im Gegensatz zu den bereits erörterten Sachverhalten unmittelbar auf das schädigende Ereignis zurück. Dass in solchen Fällen generell eine bundesrechtliche Haftung des Schädigers bestehen kann, ist in der Lehre anerkannt (OFTINGER/STARK, Schweiz. Haftpflichtrecht, Bd. II/1, S. 53 ff.). Auf der gleichen Grundlage beruht auch die bundesgerichtliche Rechtsprechung. So hat das Bundesgericht erkannt, dass einer Partei, die durch eine ungerechtfertigte vorsorgliche Massnahme geschädigt wird, ein Schadenersatzanspruch aus
Art. 41 OR
zustehen kann, allenfalls in Konkurrenz mit einem Anspruch aus kantonalem Verfahrensrecht (
BGE 93 II 183
E. 9, 88 II 278 E. 3a). Ähnliches gilt für den Fall missbräuchlicher, böswilliger oder gegen Treu und Glauben verstossender Ausübung von Verfahrensrechten im Rahmen eines verwaltungsrechtlichen oder eines zivilprozessualen Verfahrens (
BGE 113 Ia 107
E. 2e,
BGE 112 II 35
E. 2 mit Hinweisen).
Soweit es um den Ersatz der Prozesskosten allgemein, insbesondere aber der prozessualen Anwaltskosten geht, stellt sich auch in
BGE 117 II 394 S. 397
diesen Fällen die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem bundesrechtlichen Ersatzanspruch und den Vorschriften des massgebenden Verfahrensrechts. Während OFTINGER/STARK (a.a.O., S. 53 Rz. 158) die Meinung vertreten, unter dem Gesichtspunkt der Haftung gemäss
Art. 41 OR
falle die Parteientschädigungspflicht ausser Betracht (ebenso LEUCH, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 3. Aufl., N. 5 zu Art. 58 und NIKLAUS AMMANN, Die Entschädigungspflicht der Parteien im zürcherischen Zivilprozess, Diss. Zürich 1970, S. 30 f.), bejahen andere Autoren auch insoweit eine bundesrechtliche Anspruchsgrundlage. So beurteilt sich die Frage, ob eine Partei der anderen durch die Einleitung oder Bestreitung einer Klage widerrechtlich Schaden zugefügt hat, nach Auffassung von STRÄULI/MESSMER allgemein nach
Art. 41 ff. OR
(Kommentar zur Zürcherischen Zivilprozessordnung, 2. Aufl., N. 1 zu § 68). Schliesslich wird die Ansicht vertreten, es bestehe Anspruchskonkurrenz, welche dem Geschädigten erlaube, den Ersatzanspruch grundsätzlich unabhängig vom kantonalen Recht selbständig nach Bundesprivatrecht geltend zu machen (HUGO CASANOVA, Die Haftung der Parteien für prozessuales Verhalten, Diss. Freiburg 1982, S. 54).
Dieser letzten Betrachtungsweise ist zuzustimmen. Dafür spricht neben den von CASANOVA aufgeführten Argumenten auch der Grundsatz, dass verschiedene Normen vermutungsweise alternativ anwendbar sind, wenn die gesetzliche Ordnung für die gleichen Sachverhalte mehrere Rechtsbehelfe vorsieht, und eine Ausnahme nur für den Fall gilt, dass die eine Norm als Sonderbestimmung der anderen vorgeht (
BGE 114 II 136
E. 1b mit Hinweisen). Der Bestand einer verfahrensrechtlichen lex specialis lässt sich nur dort vertreten, wo der Prozess und der mit ihm verbundene Aufwand mit einer anderweitigen Rechtsverfolgung in Zusammenhang steht, somit bloss eine Nebenfunktion hat. Anders verhält es sich dagegen dann, wenn das Prozessverhalten selbst die deliktische oder auch vertragliche Anspruchsgrundlage bildet. Diesfalls besteht grundsätzlich ein selbständiger bundesrechtlicher Ersatzanspruch, dessen Durchsetzung nicht davon abhängt, ob das massgebende Verfahrensrecht seinerseits die Möglichkeit einer Deckung gibt. So verhält es sich - falls die Sachverhaltsdarstellung des Klägers richtig ist - auch im vorliegenden Fall. Daran ändert nichts, dass es sich bei dem allenfalls alternativ anwendbaren Verfahrensrecht nicht um kantonales, sondern um ausländisches Recht handelt, denn es sind keine triftigen Gründe ersichtlich,
BGE 117 II 394 S. 398
welche dafür sprechen würden, die beiden Sachverhalte unterschiedlich zu beurteilen.
4.
Der Appellationshof durfte demnach die Klage nicht schon mit der Begründung abweisen, der Kläger habe nicht nachgewiesen, dass das New Yorker Prozessrecht die Prozesskostenfolgen ungeregelt lasse. Er hätte sich vielmehr auch mit den Behauptungen des Klägers auseinandersetzen müssen, die Klage in New York habe eine schuldhaft rechtswidrige (
Art. 41 Abs. 1 OR
) oder sittenwidrige (
Art. 41 Abs. 2 OR
) Handlung dargestellt, die eine bundesrechtliche Ersatzpflicht nach sich ziehe.
Aus diesen Gründen ist die Berufung teilweise gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Streitsache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese wird zu beachten haben, dass bundesrechtlich nicht bereits jede erfolglose prozessuale Vorkehr eine Haftung gemäss
Art. 41 ff. OR
begründet. Zwar sind die Auffassungen hinsichtlich der Frage geteilt, ob das Einklagen einer nicht bestehenden Forderung als objektiv widerrechtlich zu betrachten ist (so SCHÖNENBERGER/JÄGGI, Vorbemerkungen vor
Art. 1 OR
, N. 39; GUHL/MERZ/KUMMER, Schweiz. Obligationenrecht, 7. Aufl., S. 173) oder ob zusätzlich ein Normverstoss im Sinne des sogenannten Verhaltensunrechts erforderlich ist (so
BGE 93 II 183
E. 9,
BGE 88 II 280
E. 4; CASANOVA, a.a.O., S. 105 ff.). Es besteht indessen weitgehend Einigkeit darüber, dass eine Haftung nur bei sittenwidrigem, absichtlichem oder grobfahrlässigem Verhalten im Sinne von
Art. 41 OR
in Frage kommt (GUHL/MERZ/KUMMER, a.a.O., S. 173; OSER/SCHÖNENBERGER, N. 35 zu
Art. 41 OR
; differenzierter CASANOVA, a.a.O., S. 145 ff.). Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang, dass jeder Bürger grundsätzlich befugt ist, für Ansprüche, die er zu besitzen vermeint, den behördlichen Schutz anzurufen, sofern er in guten Treuen handelt (GUHL/MERZ/KUMMER, a.a.O., S. 173). Es widerspräche deshalb einem rechtsstaatlichen Grundprinzip, in jedem objektiv ungerechtfertigten Verfahren einen Haftungstatbestand nach Bundesprivatrecht zu erblicken und an eine lediglich leichtfahrlässige Fehleinschätzung der Rechtslage Schadenersatzfolgen zu knüpfen, welche über die rein prozessrechtlichen Folgen einer solchen Einschätzung hinausgehen (vgl. dazu auch die deutsche Lehre und Rechtsprechung: BGHZ 74 Nr. 2, BVerfG in NJW 1987 S. 1929; STAUDINGER/SCHÄFER, N. 258 ff. zu § 826 BGB; MERTENS, in MünchKomm, N. 483 zu § 823 und N. 167 ff. zu § 826 BGB). Letztlich knüpft die Haftung somit an eine missbräuchliche
BGE 117 II 394 S. 399
Inanspruchnahme eines staatlichen Verfahrens oder an ein treuwidriges oder böswilliges Verhalten in diesem Verfahren an. Dazu sind im vorliegenden Fall die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen noch zu treffen.