BGE 117 II 554 vom 18. Dezember 1991

Datum: 18. Dezember 1991

BGE referenzen:  119 II 141, 120 II 352, 121 III 156, 122 III 92, 131 I 242, 138 III 636

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

117 II 554


102. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 18. Dezember 1991 i.S. R. und R. Z. gegen F. (Berufung)

Regeste

Art. 274g OR . Zuständigkeit des Ausweisungsrichters nach ausserordentlicher Kündigung.
Ist neben dem Ausweisungsbegehren des Vermieters eine Kündigungsanfechtung oder ein Erstreckungsbegehren des Mieters hängig, so hat der Ausweisungsrichter unbekümmert um den Zeitpunkt der Anhängigmachung auch darüber zu entscheiden. Eine bereits bei der Schlichtungsbehörde oder beim Anfechtungsrichter hängige Kündigungsanfechtung ist dem Ausweisungsrichter zum Entscheid zu überweisen (E. 2a-c).
Bundesrechtliche Anforderungen an die Prüfung von Anfechtung und Erstreckung im Ausweisungsverfahren (E. 2d).

Sachverhalt ab Seite 555

BGE 117 II 554 S. 555

A.- Nachdem R. und R. Z. am 21. September 1990 mit gleichzeitiger Kündigungsandrohung aufgefordert worden waren, bis zum 22. Oktober die ausstehende August- und Septembermiete für die von ihnen gemietete Terrassenwohnung in Pfäffikon/SZ zu bezahlen, kündigte ihnen der Vermieter F. am 23. Oktober wegen Zahlungsrückstand vorzeitig auf den 1. Dezember ( Art. 257d OR ). Innert dreissig Tagen nach Erhalt der Kündigung fochten die Mieter diese am 30. November bei der Schlichtungsbehörde des Bezirks Höfe als missbräuchlich an ( Art. 273 OR ).
Nach der Schlichtungsverhandlung vom 8. Januar 1991 wurde das Schlichtungsverfahren am 11. Januar als erledigt abgeschrieben, weil sich die Parteien laut Protokoll vergleichsweise auf eine Verlängerung des Mietvertrags bis Ende März geeinigt hatten, sofern bis zum 15. Januar sowohl die rückständigen als auch die noch fällig werdenden Mietzinse bezahlt würden.

B.- Mit der Begründung, dass entgegen dieser vereinbarten Bedingung nur die rückständigen Mietzinse eingegangen seien und das Mietverhältnis seit anfangs Dezember aufgelöst sei, verlangte der Vermieter (Kläger) am 24. Januar 1991 beim Einzelrichter des Bezirks Höfe die Ausweisung, der sich die Mieter (Beklagte) aber mit Eingaben vom 12. und 27. Februar widersetzten, weil der Einzelrichter keine Ausweisung verfügen dürfe, bevor das ohne verbindlichen Vergleich und daher zu Unrecht abgeschriebene Schlichtungsverfahren nicht ordentlich abgeschlossen sei. Als Ausweisungsrichter erklärte sich der Einzelrichter jedoch aufgrund von Art. 274g Abs. 1 OR auch für die Beurteilung der Kündigungsanfechtung zuständig und verfügte am 25. März 1991 die Ausweisung, weil der Kläger gültig auf den 1. Dezember gekündigt habe, nachdem die Zahlung der August- und Septembermiete bis zum 22. Oktober unbewiesen geblieben sei. Einen Rekurs der Beklagten wies das Kantonsgericht von Schwyz mit Beschluss vom 30. Juli 1991 ab und bestätigte die Ausweisung.
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Den Rekursentscheid fechten die Beklagten erfolglos mit Berufung beim Bundesgericht an.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. "Ficht der Mieter eine ausserordentliche Kündigung an und ist ein Ausweisungsverfahren hängig", so ist nach Art. 274g Abs. 1 OR der Ausweisungsrichter auch zuständig, über die Gültigkeit dieser Kündigung zu entscheiden, wenn der Vermieter ausserordentlich gekündigt hat wegen Zahlungsrückstand des Mieters ( Art. 257d OR ), wegen schwerer Verletzung der Pflicht des Mieters zu Sorgfalt und Rücksichtnahme ( Art. 257f Abs. 3 und 4 OR ), wegen wichtiger Gründe ( Art. 266g OR ) oder wegen Konkurs des Mieters ( Art. 266h OR ). Ist die Kündigung gültig ausgesprochen worden, so hat der Ausweisungsrichter im Falle der ausserordentlichen Kündigung aus wichtigen Gründen ( Art. 266g OR ) ausserdem über ein allfälliges Erstreckungsbegehren des Mieters zu entscheiden ( Art. 274g Abs. 2 OR ); diese beschränkte Zuständigkeit des Ausweisungsrichters für Erstreckungsentscheide ist Folge davon, dass Art. 272a Abs. 1 OR die Erstreckung bei den übrigen ausserordentlichen Kündigungen verbietet.
a) Die Beklagten sind der Auffassung, die Zuständigkeit des Ausweisungsrichters für die Beurteilung von Kündigungsanfechtungen sei nach Art. 274g Abs. 1 OR auf den Fall beschränkt, wo während eines bereits hängigen Ausweisungsverfahrens die Kündigung angefochten werde; daraus schliessen sie, die Kompetenzvorschrift könne vorliegend nicht Anwendung finden und der Ausweisungsrichter hätte daher die ordentliche Beendigung des zu Unrecht abgeschriebenen Schlichtungsverfahrens abwarten müssen, nachdem die Kündigung am 30. November 1990 und damit nicht während eines hängigen Ausweisungsverfahrens, sondern fast zwei Monate vor dem Ausweisungsbegehren angefochten worden sei.
Diese Auslegung von Art. 274g Abs. 1 OR ist bei einer isolierten Betrachtung des Wortlauts ("Ficht der Mieter ... an und ist ein Ausweisungsverfahren hängig") zwar nicht ausgeschlossen, hätte aber zur Folge, dass die zwingend vorgeschriebene Kompetenzattraktion zugunsten des Ausweisungsrichters kaum zum Tragen käme. Denn nach Art. 273 Abs. 1 OR sind Kündigungen innert dreissig Tagen nach deren Empfang bei der Schlichtungsbehörde anzufechten; innert der gleichen Frist ist bei der Schlichtungsbehörde um Erstreckung eines unbefristeten Mietverhältnisses zu
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ersuchen ( Art. 273 Abs. 2 lit. a OR ). Selbst bei den ausserordentlichen Kündigungen, die mit dreissigtägiger Kündigungsfrist auf Monatsende ausgesprochen werden können ( Art. 257d Abs. 2, Art. 257f Abs. 3 OR ), hat der Mieter die Schlichtungsbehörde deshalb noch während laufender Kündigungsfrist und damit vor Beendigung des Mietverhältnisses anzurufen. Weil aber die Ausweisung die Beendigung des Mietvertrags voraussetzt, stellt der Vermieter das Ausweisungsgesuch regelmässig erst, nachdem der Mieter die Kündigung bei der Schlichtungsbehörde bereits angefochten bzw. Erstreckung verlangt hat, um die dreissigtägige Frist von Art. 273 OR zu wahren (ZIHLMANN, Das neue Mietrecht, S. 112 mit Hinweisen in Anm. 244; SVIT-Kommentar Mietrecht, N. 13 zu Art. 274g OR ; LACHAT/STOLL, Das neue Mietrecht für die Praxis, 2. A. 1991, S. 377 und 390 f.).
b) Schon der Gesetzeszusammenhang zeigt, dass die von den Beklagten geforderte Auslegung, welche die Kompetenzattraktion zugunsten des Ausweisungsrichters von diesem Regelfall ausnehmen und praktisch auf die fristlos zulässigen Kündigungen wegen vorsätzlicher Schadenszufügung ( Art. 257f Abs. 4 OR ) und wegen Konkurs ( Art. 266h Abs. 2 OR ) einschränken würde, nicht zutreffen kann. Gemäss Abs. 3 von Art. 274g OR ist die mit einer Kündigungsanfechtung bzw. mit einem Erstreckungsbegehren befasste Schlichtungsbehörde nämlich verpflichtet, die Begehren des Mieters an den nach Abs. 1 und 2 für deren Beurteilung zuständigen Ausweisungsrichter zu überweisen. Diese Regelung zeigt klar, dass das Gesetz davon ausgeht, der Mieter werde die dreissigtägige Anfechtungsfrist des Art. 273 OR zu wahren haben und daher zuerst bei der Schlichtungsbehörde die Kündigung anfechten und eventuell die Erstreckung verlangen, bevor der Vermieter überhaupt in die Lage komme, sich an den Ausweisungsrichter zu wenden.
c) Der vom Gesetzgeber mit Art. 274g OR verfolgte Zweck bestätigt die Unhaltbarkeit der von den Beklagten vertretenen Auffassung. Die Vereinigung der Kompetenz zur Ausweisung mit derjenigen zum Entscheid über Kündigungsanfechtungen bei ein und derselben Behörde soll im Interesse der beförderlichen Erledigung mietrechtlicher Auseinandersetzungen ( Art. 274d Abs. 1 OR ), die bei ausserordentlichen Kündigungen besondere Bedeutung erlangt, vermeiden, dass mehrere Verfahren vor verschiedenen Behörden durchgeführt werden müssen (vgl. Botschaft in BBl 1985 I S. 1465; SVIT-Kommentar Mietrecht, N. 14 zu Art. 274g OR ;
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ZIHLMANN, a.a.O. S. 113). Zu welchen Verzögerungen getrennte Verfahren Anlass gäben, belegt gerade das Verhalten der Beklagten, die unter Berufung auf ein wiederaufzunehmendes Schlichtungsverfahren, für das angeblich trotz Art. 274g OR nach wie vor die Schlichtungsbehörde zuständig geblieben sei, das Ausweisungsverfahren zu blockieren versuchen. Um solches zu verhindern und die vom Gesetzgeber angestrebte Beschleunigung nicht zu unterlaufen, kann jedoch die Zuständigkeit des Ausweisungsrichters zum Entscheid über die angefochtene Kündigung nicht auf den seltenen Fall beschränkt bleiben, dass die Kündigungsanfechtung dem Ausweisungsbegehren folgt. Für die Zuständigkeit des Ausweisungsrichters zur Beurteilung beider Begehren hat es vielmehr unbekümmert um den Zeitpunkt der Einreichung zu genügen, dass neben dem Ausweisungsbegehren des Vermieters eine Kündigungsanfechtung sei es beim Ausweisungsrichter selbst, sei es bei der Schlichtungsbehörde oder bereits beim Anfechtungsrichter ( Art. 273 Abs. 5 OR ) hängig ist; in den beiden letzten Fällen hat dann eine Überweisung an den zuständigen Ausweisungsrichter stattzufinden (SVIT-Kommentar Mietrecht, N. 14 zu Art. 274g OR ).
Das Kantonsgericht hat daher zu Recht erkannt, der Einzelrichter des Bezirks Höfe sei als Ausweisungsrichter für den Entscheid über die vor Einreichung des Ausweisungsbegehrens angefochtene Kündigung zuständig.
d) Nicht verkannt werden darf, dass das in den Kantonen für Ausweisungen übliche Summarverfahren die Gefahr birgt, die mit der Gesetzesrevision ausgebauten Mieterrechte wieder zu verkürzen, wenn der Ausweisungsrichter gestützt auf Art. 274g OR im gleichen summarischen Verfahren endgültig und ohne Möglichkeit nachträglicher Überprüfung in einem ordentlichen Verfahren über Kündigungsanfechtungen und Erstreckungsbegehren zu befinden hat (ZIHLMANN, a.a.O. S. 113). Besonders ausgeprägt ist diese Gefahr in Kantonen, die den Ausweisungsentscheid der Schlichtungsbehörde übertragen (BBl 1985 I S. 1465) und für diese Behörde ausserdem ein Summarverfahren mit einschneidenden Beweismittelbeschränkungen vorsehen (E. 2c). Damit sich diese Gefahr nicht verwirklicht, ist der endgültig entscheidende Ausweisungsrichter bzw. die für den Ausweisungsentscheid zuständige Schlichtungsbehörde von Bundesrechts wegen gehalten, Kündigungsanfechtungen und Erstreckungen trotz des summarischen Verfahrens sowohl in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht umfassend
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zu prüfen. Diese Pflicht ergibt sich einmal aus Art. 274d Abs. 3 OR . Nach dieser Vorschrift haben die Parteien dem Gericht in Mietstreitigkeiten sämtliche rechtserheblichen Unterlagen vorzulegen; darüber hinaus hat der Richter aufgrund der Untersuchungsmaxime den Sachverhalt von sich aus zu ergänzen, soweit dies für die Beurteilung der gestellten Begehren notwendig ist (SVIT-Kommentar Mietrecht, N. 18 f. zu Art. 274d OR ; ZIHLMANN, a.a.O. S. 230). Sodann gilt auch für den Anfechtungs- und Erstreckungsanspruch des Mieters, dass ein definitiver, der materiellen Rechtskraft teilhaftiger Entscheid über einen bundesrechtlichen Anspruch eine erschöpfende Abklärung der tatsächlichen wie rechtlichen Grundlagen voraussetzt (KUMMER, Grundriss des Zivilprozessrechts, 4. A. 1984, S. 256). Mit bloss glaubhaft gemachten Tatsachen und eingeschränkten Beweismitteln darf sich der Richter nur bei Urteilen begnügen, welche die materielle Rechtslage nicht endgültig festlegen (VOGEL, Grundriss des Zivilprozessrechts, 2. A. 1988, S. 258 Rz. 154 a.E.; KUMMER, a.a.O. S. 257). Hat daher die Kompetenzattraktion des Art. 274g OR zur Folge, dass im summarischen Ausweisungsverfahren endgültig über den Anfechtungs- und Erstreckungsanspruch des Mieters geurteilt wird, dann hat dieser Entscheid den Anforderungen zu entsprechen, die für in materielle Rechtskraft erwachsende Urteile über bundesrechtliche Ansprüche gelten (vgl. auch HABSCHEID, Schweizerisches Zivilprozess- und Gerichtsorganisationsrecht, 2. A. 1990, S. 375 ff.; STRÄULI/MESSMER, N. 7 zu § 212 ZPO /ZH).
Der angefochtene Entscheid hält auch in dieser Hinsicht vor Bundesrecht stand, hat doch das Kantonsgericht die Gültigkeit der streitigen Kündigung auf den 1. Dezember 1990 einlässlich überprüft, obwohl nur die Zuständigkeit des Ausweisungsrichters Gegenstand der Rekursvorbringen war. Nachdem der Einzelrichter die Beklagten vergeblich aufgefordert hatte, Beweismittel dafür beizubringen, dass die ausstehenden Mietzinse bis zum angesetzten Termin des 22. Oktober bezahlt worden waren, stand im übrigen ausser Zweifel, dass das Mietverhältnis seit anfangs Dezember 1990 aufgelöst war ( Art. 259d OR ), zumal sich die Frage der Erstreckung nicht stellte ( Art. 272a OR ) und die Auflösung des Mietverhältnisses wegen des unstreitig nicht zustande gekommenen Vergleichs einzig von der Gültigkeit der Kündigung abhing.

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