BGE 117 IV 107 vom 8. März 1991

Datum: 8. März 1991

Artikelreferenzen:  Art. 58 StGB, Art. 60 StGB , Art. 270 Abs. 1 BStP, Art. 58 Abs. 1 lit. a StGB, Art. 58 und Art. 60 StGB, Art. 60 Abs. 1 StGB, Art. 58 Abs. 4 StGB, Art. 60 Abs. 3 StGB

BGE referenzen:  120 IV 365, 122 IV 365, 123 II 595, 124 I 6, 129 IV 322, 139 IV 209, 145 IV 237 , 115 IV 154, 105 IV 171, 89 IV 174

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

117 IV 107


23. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 8. März 1991 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Bern gegen S. (Nichtigkeitsbeschwerde)

Regeste

1. Art. 270 Abs. 1 BStP ; öffentlicher Ankläger des Kantons; Befugnis zu dessen Vertretung.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern ist öffentlicher Ankläger des Kantons im Sinne von Art. 270 Abs. 1 BStP . Für die Beantwortung der Frage, ob der stellvertretende Prokurator im Einzelfall als Vertreter der Staatsanwaltschaft zur Führung der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde befugt und diese damit gültig erhoben ist, ist das kantonale Organisationsrecht massgebend (E. 1a).
2. Art. 58 und Art. 60 StGB ; Wahrung der Interessen des Staates, des Täters und des Geschädigten bei der Einziehung des unrechtmässigen Vermögensvorteils.
Die Einziehung nach Art. 58 Abs. 1 lit. a StGB ist stets anzuordnen, solange der Täter über den unrechtmässigen Vermögensvorteil verfügt (E. 2a). Um den Täter vor der Gefahr der Doppelzahlung zu schützen, hat der Richter die Einziehung zu verfügen unter dem Vorbehalt der Rückübertragung eingezogener Vermögenswerte auf den Täter, sofern und soweit dieser dem Geschädigten Schadenersatz geleistet hat (E. 2b). Sind die Voraussetzungen des Art. 60 StGB gegeben, muss der Richter dem Geschädigten eingezogene Vermögenswerte zuerkennen (E. 2c; Änderung der Rechtsprechung).

Sachverhalt ab Seite 108

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A.- S. war Geschäftsführer der im Weinhandel tätigen R. AG. In der Zeit vom Sommer 1976 bis Ende 1981 bezog er mehrfach Wein anstatt unmittelbar für die R. AG auf Rechnung der von ihm beherrschten V. SA und fakturierte die Lieferung anschliessend zu einem erhöhten Preis seiner Arbeitgeberfirma weiter.

B.- Am 8. Juni 1989 erklärte das Wirtschaftsstrafgericht des Kantons Bern S. der fortgesetzten qualifizierten ungetreuen Geschäftsführung schuldig und verurteilte ihn zu 18 Monaten Gefängnis bedingt, unter Auferlegung einer Probezeit von zwei Jahren, sowie zu einer Busse von Fr. 5'000.--. Die von der R. AG adhäsionsweise eingereichte Zivilklage sprach es dem Grundsatz nach zu und wies diese zur Berechnung der Höhe des geschuldeten Betrags an den Zivilrichter. Von der Einziehung des unrechtmässigen Vermögensvorteils gemäss Art. 58 StGB sah es ab.

C.- Gegen diesen Verzicht auf die Einziehung führt die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde. Sie beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zwecks Erkennung auf eine Ersatzforderung des Staates im Betrag von Fr. 540'000.-- an die Vorinstanz zurückzuweisen.

D.- Der Beschwerdegegner beantragt Abweisung der Beschwerde. Die R. AG verzichtet auf die Stellung eines Antrags.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. a) Der Beschwerdegegner macht geltend, der stellvertretende Prokurator 1 sei zur Nichtigkeitsbeschwerde nicht legitimiert; die Beschwerdebefugnis stehe ausschliesslich dem Generalprokurator zu.
aa) Dieser Einwand geht fehl. Beschwerdeführer ist nicht der stellvertretende Prokurator 1, sondern die Staatsanwaltschaft des
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Kantons Bern. Deren Aufgabe besteht gemäss Art. 89 des bernischen Gesetzes über die Organisation der Gerichtsbehörden (GOG/BE; BSG 161.1) unter anderem darin, die Schuldigen vor den Strafgerichten zur Verantwortung zu ziehen. Sie ist mithin öffentlicher Ankläger des Kantons im Sinne von Art. 270 Abs. 1 BStP und zur Nichtigkeitsbeschwerde legitimiert ( BGE 115 IV 154 E. 4). Fragen kann man sich nur, ob der stellvertretende Prokurator 1 befugt war, als Vertreter der Staatsanwaltschaft zu handeln. Sollte dies zu verneinen sein, wäre die Beschwerde nicht gültig erhoben worden.
bb) Art. 84 Abs. 1 GOG/BE legt fest, welches die Beamten der Staatsanwaltschaft des Kantons Bern sind. Gemäss Art. 84 Abs. 2 Satz 1 GOG/BE kann der Grosse Rat stellvertretende Prokuratoren einsetzen. Dies hat er mit Dekret vom 29. August 1983 über den Ausbau der Staatsanwaltschaft getan (BSG 164.21). Den Aufgabenbereich der stellvertretenden Prokuratoren hat die Anklagekammer des Obergerichts in Ausführung von Art. 84 Abs. 2 Satz 2 GOG/BE auf Antrag des Generalprokurators mit Verfügung vom 10. April 1987 festgelegt. Danach führen die stellvertretenden Prokuratoren 1 bis 3 die Aufsicht über Voruntersuchungen in Wirtschaftssachen und vertreten die Anklage in diesen Geschäften; Einzelanordnungen über die Zuweisung der Wirtschaftsstrafsachen trifft die Anklagekammer. Eine solche Anordnung erging am 30. Oktober 1984. Darin wurde in der Untersuchungssache gegen den Beschwerdegegner dem stellvertretenden Prokurator 1 auf Antrag des Generalprokurators die Ausübung der staatsanwaltschaftlichen Funktionen übertragen. Damit ging aber auch die Befugnis auf den stellvertretenden Prokurator 1 über, als Vertreter der Staatsanwaltschaft die zur Verfügung stehenden Rechtsmittel einzulegen.
cc) Die Nichtigkeitsbeschwerde ist demnach gültig erhoben worden.

2. Die Vorinstanz verzichtete auf eine Einziehung im wesentlichen mit der Begründung, diese könnte zu einer vom Gesetz nicht gewollten Doppelzahlung durch den Beschwerdegegner führen, nämlich dann, wenn die Geschädigte gestützt auf die Zusprechung ihrer Klage dem Grundsatz nach ungeachtet der Einziehung vom Beschwerdegegner Schadenersatz verlangen würde; dies stünde ihr, der Geschädigten, frei, da sie zu einem Vorgehen nach Art. 60 StGB nicht verpflichtet sei. Dem hält die Staatsanwaltschaft entgegen, es sei bundesrechtswidrig, von einer Gewinnabschöpfung
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abzusehen, wenn nicht gleichzeitig eine Zivilforderung endgültig zugesprochen werde; denn wenn die Zivilpartei ihre Forderung nicht weiterverfolge, verbleibe dem Täter der Gewinn.
a) Gemäss Art. 58 Abs. 1 lit. a StGB verfügt der Richter ohne Rücksicht auf die Strafbarkeit einer bestimmten Person die Einziehung von (...) Vermögenswerten, die durch eine strafbare Handlung (...) erlangt worden sind (...), soweit die Einziehung zur Beseitigung eines unrechtmässigen Vorteils oder Zustandes als geboten erscheint; sind (...) Vermögenswerte bei demjenigen, der durch sie einen unrechtmässigen Vorteil erlangt hat und bei dem sie einzuziehen wären, nicht mehr vorhanden, so wird nach Art. 58 Abs. 4 StGB auf eine Ersatzforderung des Staates in der Höhe des unrechtmässigen Vorteils erkannt. Sinn und Zweck dieser Bestimmungen ist es, zu verhindern, dass der Täter im Genuss eines durch eine strafbare Handlung erlangten Vermögensvorteils bleibt; strafbares Verhalten soll sich nicht lohnen ( BGE 105 IV 171 E. c mit Hinweisen).
Dieser Forderung ist entsprochen, wenn der Täter dem Geschädigten den Schaden ersetzt hat und über den unrechtmässigen Vermögensvorteil deshalb nicht mehr verfügt. Anders verhält es sich, wenn er noch keine Schadenersatzleistungen erbracht hat. Diesfalls steht ihm der unrechtmässige Vorteil noch zu, und zwar selbst dann, wenn der Geschädigte Schadenersatz beansprucht und der Richter eine entsprechende Klage bereits gutgeheissen hat. Erst mit der Erfüllung der Schadenersatzpflicht ist sichergestellt, dass der Täter die Früchte des strafbaren Verhaltens verloren hat, und erst dann rechtfertigt sich der Verzicht auf eine Einziehung. Entsprechend dem Grundgedanken des Art. 58 Abs. 1 lit. a StGB ist die Einziehung somit stets anzuordnen, solange der Täter noch im Besitz des unrechtmässigen Vermögensvorteils ist.
Es ist indes einzuräumen, dass sich der Täter damit der Gefahr der Doppelzahlung ausgesetzt sieht. Denn der Schadenersatzanspruch des Geschädigten geht mit der Einziehung des unrechtmässigen Vermögensvorteils nicht unter. Zudem ist der Geschädigte nicht verpflichtet, vom Staat die Zuwendung der eingezogenen Vermögenswerte nach Art. 60 StGB zu verlangen; er kann vielmehr weiterhin gegen den Täter vorgehen. Dessen doppelte Inanspruchnahme kann auch der Richter nicht dadurch verhindern, dass er eingezogene Vermögenswerte von sich aus dem Geschädigten zuerkennt und damit den Täter vor der Geltendmachung von Schadenersatz durch diesen schützt. Denn eine entsprechende
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Zuwendung setzt gemäss Art. 60 Abs. 3 StGB einen Antrag des Geschädigten voraus; ausserdem kann sie nur erfolgen, wenn der Täter dem Geschädigten den Schaden voraussichtlich nicht ersetzen wird und der Schadenersatz, anders als hier, der Höhe nach gerichtlich oder durch Vergleich festgesetzt ist ( Art. 60 Abs. 1 StGB ).
b) Gewahrt bleibt sowohl das Interesse des Staates an der Gewinnabschöpfung als auch jenes des Täters, den unrechtmässigen Vorteil nur einmal herauszugeben, wenn der Richter eine Einziehung verfügt mit dem Vorbehalt der Rückübertragung der eingezogenen Vermögenswerte auf den Täter, sofern und soweit dieser dem Geschädigten Schadenersatz geleistet hat. Damit besteht Gewähr, dass dem Täter der unrechtmässige Vermögensvorteil entzogen wird, ohne dass er Gefahr läuft, doppelt zu bezahlen. Zur Verhinderung von Missbräuchen ist die Rückübertragung eingezogener Vermögenswerte vom Nachweis des Täters abhängig zu machen, dass die erbrachte Schadenersatzleistung tatsächlich geschuldet war.
c) Die Einziehung des unrechtmässigen Vermögensvorteils kann es mit sich bringen, dass der Geschädigte beim Täter kein ausreichendes Haftungssubstrat mehr vorfindet (vgl. zur Kollision der Interessen des Staates, des Täters und des Geschädigten ALBIN ESER, Die strafrechtlichen Sanktionen gegen das Eigentum, Tübingen 1969, S. 294 ff.). Diesfalls kann er jedoch vom Richter die Zuerkennung der eingezogenen Vermögenswerte gemäss Art. 60 Abs. 1 StGB verlangen. Zwar wurde in BGE 89 IV 174 gesagt, der Geschädigte habe selbst dann keinen Anspruch auf die Zuwendung eingezogener Vermögenswerte, wenn die Voraussetzungen des Art. 60 StGB gegeben seien. Daran kann jedoch nicht festgehalten werden. In den Fällen, in denen vom Täter Schadenersatz nicht erhältlich ist, würde die Weigerung des Richters, dem Geschädigten eingezogene Vermögenswerte bis zur Höhe des gerichtlich oder durch Vergleich festgesetzten Schadenersatzes zuzuerkennen, zu einer Bereicherung des Staates auf Kosten des Geschädigten führen. Dies ist klarerweise nicht der Sinn der Einziehung. Sind die Voraussetzungen des Art. 60 StGB erfüllt, muss daher der Richter dem Geschädigten eingezogene Vermögenswerte zuwenden (ebenso SCHULTZ, Die Einziehung, der Verfall von Geschenken und anderen Zuwendungen sowie die Verwendung zugunsten des Geschädigten gemäss StrGB rev. Art. 58 f., ZBJV 114 (1978), S. 334/5).
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Diese Lösung rechtfertigt sich auch mit Blick auf die heutigen Bestrebungen, die Rechtsstellung des Geschädigten zu verbessern, und sie entspricht der im Rahmen des Erlasses eines Opferhilfegesetzes vorgeschlagenen Änderung von Art. 60 StGB , wonach dem Geschädigten ein Rechtsanspruch auf Zuerkennung eingezogener Vermögenswerte eingeräumt werden soll, wenn die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. Botschaft zu einem Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten vom 25. April 1990, BBl 1990 II, S. 961 ff., insb. S. 996).

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