BGE 118 IA 129 vom 8. April 1992

Datum: 8. April 1992

Artikelreferenzen:  Art. 40 ZPO, Art. 4 BV, Art. 207 SchKG , Art. 41 ZPO, Art. 17 BZP, § 49 Abs. 2 ZPO

BGE referenzen:  119 IA 433, 124 I 170, 128 III 156, 130 III 550, 131 I 57, 133 III 180, 138 III 512, 139 V 316, 139 III 504, 147 V 2 , 116 II 597, 114 II 346, 108 II 217, 115 II 465, 117 IA 294, 116 II 29, 114 II 336, 113 IA 106, 117 IA 294, 116 II 29, 114 II 336, 113 IA 106

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

118 Ia 129


19. Urteil der I. Zivilabteilung vom 8. April 1992 i.S. P. gegen N. T. AG und Appellationshof des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde).

Regeste

Art. 4 BV ; Parteiwechsel während eines hängigen Zivilprozesses.
1. Die Sachlegitimation ist vom Richter jeder Stufe von Amtes wegen zu prüfen, unter der Herrschaft der Verhandlungsmaxime allerdings bloss nach Massgabe des behaupteten und festgestellten Sachverhalts (E. 1).
2. Die Zulassung eines gewillkürten Parteiwechsels auf der Klägerseite ist ohne Zustimmung des Beklagten verfassungswidrig (E. 2).

Sachverhalt ab Seite 129

BGE 118 Ia 129 S. 129
Am 8. Mai 1984 beschädigte P. bei einem Selbstunfall einen tags zuvor von der I. AG gemieteten Personenwagen. Die Vermieterin belangte ihn deswegen mit Klage vom 8. Mai 1985 auf Schadenersatz im Betrage von Fr. 7'999.-- nebst Zins. Der Gerichtspräsident I von Konolfingen schützte das Begehren am 26. Oktober 1987 im Teilbetrage von Fr. 5'340.-- nebst Zins. Die Aktivlegitimation der Klägerin war in diesem Verfahren nicht in Frage gestellt worden. P. zog dieses Urteil an den Appellationshof des Kantons Bern weiter. Noch vor der Aktenüberweisung an die Rechtsmittelinstanz wurde
BGE 118 Ia 129 S. 130
über die I. AG der Konkurs eröffnet. In der Folge blieb das Verfahren vorerst gemäss Art. 207 SchKG eingestellt. Mit Eingaben vom 3. Oktober 1990 und 22. März 1991 ersuchte der Rechtsvertreter der Klägerin um Fortsetzung des Verfahrens. Zur Begründung führte er an, die streitige Forderung sei von der Konkursverwaltung freigegeben worden, da die I. AG sie im Rahmen einer Globalzession bereits im Jahre 1979 der Bank X. und diese am 15. August 1990 der N. T. AG abgetreten habe. Letztere erkläre auf seiten der Klägerin die Rechtsnachfolge im Prozess. Der Appellationshof verwarf mit Urteil vom 14. Oktober 1991 den vom Beklagten im Appellationsverfahren erhobenen Einwand, der I. AG habe die Aktivlegitimation gefehlt, und bestätigte zugunsten der N. T. AG das erstinstanzliche Urteil.
P. erhebt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV . Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut

Erwägungen

aus folgenden Erwägungen:

1. Die Sachlegitimation als materiellrechtliche Voraussetzung des eingeklagten Anspruchs ist vom Richter jeder Stufe von Amtes wegen zu prüfen ( BGE 116 II 597 , BGE 114 II 346 , BGE 108 II 217 ), unter der Herrschaft der Verhandlungsmaxime allerdings bloss nach Massgabe des behaupteten und festgestellten Sachverhalts ( BGE 115 II 465 ). Dem Appellationshof ist daher ohne weiteres beizupflichten, dass der erstinstanzliche Richter nicht gehalten war, von Amtes wegen der unerörtert gebliebenen Frage einer Rechtsbegebung durch die I. AG nachzugehen (OTT, Die unbestrittene Sachlegitimation, SJZ 78/1982 S. 17 ff.). Ebensowenig ist eine Verfassungsverletzung darin zu erblicken, dass die Rechtsmittelinstanz auch für die Legitimationsfrage auf die Verhältnisse im Zeitpunkt ihres Urteils abgestellt hat. Zu prüfen bleibt indessen, ob sie, wie vom Beschwerdeführer geltend gemacht, durch Zulassung eines Parteiwechsels auf seiten der Klägerin kantonales Prozessrecht willkürlich angewandt hat.

2. Willkür liegt nach ständiger Rechtsprechung nicht schon dann vor, wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre. Vielmehr hebt das Bundesgericht einen kantonalen Entscheid wegen materieller Rechtsverweigerung nur auf, wenn er offensichtlich unhaltbar ist, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft ( BGE 117 Ia 294 , BGE 116 II 29 mit Hinweisen).
BGE 118 Ia 129 S. 131
a) Parteiwechsel nennt man den prozessualen Vorgang, bei dem in einem hängigen Verfahren eine Hauptpartei ausscheidet und durch einen Dritten ersetzt wird. In der Durchbrechung der subjektiven Identität unterscheidet er sich von der Parteierweiterung durch Parteibeitritt, insbesondere zufolge Intervention, von der alternativen oder eventuellen subjektiven Klagehäufung wie auch von der blossen Berichtigung einer Parteibezeichnung ( BGE 114 II 336 , BGE 113 Ia 106 , 110 V 349; RUDOLF POHLE, Gedanken zum gesetzlich nicht geregelten, gewillkürten Parteiwechsel, in: The Year Book of the School of Law and Economic Science of the Aristotelian University of Thessaloniki, Band XII/2 (1967), S. 133 f.). Das bernische Prozessrecht regelt den Parteiwechsel einerseits in Art. 40 ZPO für die erbrechtliche Universalsukzession und anderseits in Art. 41 ZPO für die übrigen Fälle von Rechtsnachfolge (dazu namentlich LEUCH, N 1 zu Art. 41 ZPO ). Beide Bestimmungen setzen begriffsnotwendig voraus, dass die Beteiligung am streitigen Rechtsverhältnis während hängigem Prozess von einer oder von beiden Parteien auf einen oder mehrere Dritte übergeht, der ausscheidenden Partei mithin die Sachlegitimation bei oder nach eingetretener Rechtshängigkeit zustand. Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall nicht erfüllt, hatte die I. AG den eingeklagten Anspruch doch als künftige Forderung bereits lange vor Prozessbeginn abgetreten.
b) Prozessual zulässig kann auch ein sogenannt schlichter oder gewillkürter Parteiwechsel sein, d.h. der Eintritt eines Dritten anstelle einer Hauptpartei, ohne dass während hängigem Verfahren eine Rechtsnachfolge stattgefunden hätte, namentlich wenn sich zeigt, dass die Sachlegitimation auf der einen oder auf der andern Seite fehlt und der Prozess mit dem wahren Berechtigten oder Verpflichteten fortgesetzt werden soll (HABSCHEID, Schweizerisches Zivilprozess- und Gerichtsorganisationsrecht, 2. Auflage (1990), S. 162 Rz. 296; WALDER-BOHNER, Zivilprozessrecht, 3. Auflage (1983), S. 193 ff.; ROSENBERG-SCHWAB, Zivilprozessrecht, 14. Auflage (1986), S. 226 ff.; POHLE, a.a.O., S. 135 ff.). Die Prozessordnungen des Bundes und einzelner Kantone kennen dieses Institut, wobei sie den Parteiwechsel von der Zustimmung mindestens der Gegenpartei abhängig machen ( Art. 17 BZP ; für das kantonale Recht etwa § 49 Abs. 2 ZPO /ZH). Nach der publizierten Rechtsprechung des Appellationshofs ist dagegen ein gewillkürter Parteiwechsel ausserhalb der in Art. 41 ZPO geregelten Rechtsnachfolge dem bernischen Recht fremd (ZBJV 61/1925 S. 570).
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Ob die Zulassung eines solchen Parteiwechsels nach geltendem bernischen Prozessrecht schlechthin verfassungswidrig wäre, kann offen bleiben; sie ist es jedenfalls auf der Klägerseite gegen den Willen bzw. ohne Zustimmung des Beklagten, sobald sich dieser in den Prozess, namentlich in die Hauptsache, eingelassen hat. Zwar kann nicht vom Willen des Beklagten abhängen, ob er in ein weiteres Verfahren verwickelt werde, doch kann ihm nicht zugemutet werden, seine auf einen bestimmten Gegner ausgerichtete Prozessführung auch gegenüber einem andern Kläger gegen sich gelten lassen zu müssen. Beschränkt ein Beklagter beispielsweise seine einlässliche Verteidigung darauf, die fehlende Aktivlegitimation des Klägers darzutun, und bringt er daher seine Einwände gegen Bestand und Inhalt der eingeklagten Forderung bloss in groben Zügen vor, hat er es nicht auf sich zu nehmen, dass durch einen Parteiwechsel seine Hauptabwehr entkräftet und die subsidiäre, nur summarisch vorgetragene Verteidigung als nicht durchschlagend abgetan wird. Sodann ist ihm insbesondere auch die Möglichkeit zu lassen, gegenüber dem Nichtberechtigten allenfalls versäumte oder ungenügend substantiierte tatsächliche Vorbringen oder Einwände erneut und rechtsgenüglich dem wahren Berechtigten entgegenzuhalten, was bei blossem Parteiwechsel angesichts der prozessualen Formstrenge (Eventualmaxime) oftmals nicht mehr möglich wäre. Gleiches gilt für die Möglichkeit neuer Einreden. Wenn sich der gewillkürte Parteiwechsel aus Gründen der Prozessökonomie auch insofern rechtfertigen liesse, als er ein Behauptungs- und Beweisverfahren, welches über Bestand und Inhalt des Anspruchs bereits durchgeführt worden ist, nicht nutzlos werden lässt, so ist doch nicht zu übersehen, dass er im Ergebnis der Rücknahme einer hängigen und dem Anbringen einer neuen Klage durch oder gegen den wahren Sachlegitimierten gleichkommt. Beim Klägerwechsel darf daher der Beklagte gegen seinen Willen nicht schlechter gestellt werden, als wenn sich derselbe Wechsel durch Beendigung eines hängigen und Einleitung eines neuen Prozesses verwirklichen würde. Daraus folgt, dass ein solcher Parteiwechsel stets der Zustimmung des Beklagten bedarf, wie dies jene schweizerischen Prozessordnungen, die das Institut kennen, auch ausdrücklich verlangen (GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Auflage (1979), S. 237). Anders zu entscheiden, wäre mit dem Gedanken des Rechtsstaats nicht zu vereinbaren (POHLE, a.a.O., S. 150). Damit kommt dem Zustimmungserfordernis über Art. 4 BV Verfassungsrang zu; mit seiner Verletzung wird entsprechend das Willkürverbot missachtet.
BGE 118 Ia 129 S. 133
c) Der Beschwerdeführer hat dem Parteiwechsel von der I. AG auf die N. T. AG im kantonalen Verfahren nicht zugestimmt. Das zugunsten der Beschwerdegegnerin gegen ihn ergangene Sachurteil des Appellationshofs ist daher als verfassungswidrig aufzuheben.

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