Urteilskopf
118 Ia 473
63. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 17. Dezember 1992 i.S. F. gegen R. und Regierungsrat des Kantons Thurgau (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste
Regelung des persönlichen Verkehrs eines mit der Mutter des Kindes nicht verheirateten Vaters. Bundesrechtliche Rechtsmittel. Anforderungen an das kantonale Verfahren (
Art. 275 Abs. 1 ZGB
und
Art. 44 OG
;
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
,
Art. 361 ZGB
und
Art. 54 Abs. 2 SchlT ZGB
;
Art. 64 EMRK
).
1. Treffen die vormundschaftlichen Behörden Anordnungen über den persönlichen Verkehr des Vaters mit dem Kind, so kann dieses dagegen nicht Berufung beim Bundesgericht einlegen (Bestätigung der Rechtsprechung; E. 2).
2. Die vom Bundesrat zu Art. 6 Ziff. 1 EMRK 1988 abgegebene "auslegende Erklärung" stellt einen unzulässigen Vorbehalt dar. Die Kantone müssen deshalb die Zuständigkeiten im Vormundschaftsbereich so regeln, dass Anordnungen über den persönlichen Verkehr wenigstens im Rechtsmittelverfahren durch ein Gericht beurteilt werden können (E. 5 bis E. 7).
A.-
Am 19. Juni 1988 gebar Sandra F. die Tochter Elisabeth. Mit Urteil vom 4. Dezember 1989 wurde R. als Vater des Kindes Elisabeth festgestellt und seine Unterhaltspflicht geregelt.
B.-
Mit Eingabe vom 14. Juni 1990 ersuchte R. die Vormundschaftsbehörde Frauenfeld um Einräumung eines Besuchsrechts gegenüber der Tochter Elisabeth. Mit Entscheid vom 7. Mai 1991 wies die Vormundschaftsbehörde dieses Gesuch ab. Am 9. Juli 1991 schützte der Bezirksrat Frauenfeld diesen Beschluss auf Beschwerde von R. hin.
Eine gegen diesen Entscheid von R. eingereichte Vormundschaftsbeschwerde wurde am 28. April 1992 vom Regierungsrat des Kantons Thurgau gutgeheissen, und es wurde ein Besuchsrecht von einem halben Tag pro Monat festgesetzt. Zur Durchführung des Besuchsrechts wurde dem Kind Elisabeth ein Beistand nach
Art. 308 Abs. 2 ZGB
ernannt.
C.-
Das Kind Elisabeth gelangt mit Berufung an das Bundesgericht.
R. beantragt, die Berufung abzuweisen, soweit auf sie einzutreten sei.
Der Regierungsrat des Kantons Thurgau hat sich zur Berufung nicht vernehmen lassen.
Das Bundesgericht nimmt die Berufung als staatsrechtliche Beschwerde entgegen und heisst sie gut, aus folgenden
Erwägungen:
2.
Die Berufung richtet sich gegen einen Entscheid, der den persönlichen Verkehr des Vaters mit der minderjährigen Tochter regelt. Gemäss
Art. 275 Abs. 1 ZGB
ist dafür die Vormundschaftsbehörde zuständig. Entsprechend hat vorliegend der Regierungsrat als obere vormundschaftliche Aufsichtsbehörde entschieden. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist gegen solche Entscheide
BGE 118 Ia 473 S. 475
die Berufung nicht gegeben (
BGE 107 II 499
). Die Berufungsklägerin hat dennoch - der Rechtsmittelbelehrung im angefochtenen Entscheid folgend - Berufung eingereicht. Sie sieht in der genannten bundesgerichtlichen Rechtsprechung eine Verletzung von
Art. 4 BV
und
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
. Für den Fall, dass das Bundesgericht ihre Auffassung nicht teilen sollte, beantragt sie, die Berufung als staatsrechtliche Beschwerde entgegenzunehmen.
a)
Art. 44 OG
hält fest, dass die Berufung in nicht vermögensrechtlichen Zivilrechtsstreitigkeiten (contestations civiles; cause civili) zulässig ist, sowie in einzeln aufgeführten Zivilsachen, die nicht zur streitigen Gerichtsbarkeit gehören. Der im Gesetz aufgeführte Katalog der berufungsfähiges Fälle der nichtstreitigen Gerichtsbarkeit ist grundsätzlich abschliessend.
In
BGE 107 II 499
hat das Bundesgericht entschieden, die Regelung des Besuchsrechts durch die Vormundschaftsbehörde sei den nichtstreitigen Zivilsachen zuzurechnen und eine Berufung sei mangels Aufnahme in den Katalog von
Art. 44 OG
nicht gegeben.
b) Wie die Beschwerdeführerin vorbringt, ist dieser Entscheid in der Literatur auf Kritik gestossen.
HEGNAUER geht davon aus, dass der Ausschluss der Berufung
Art. 4 BV
und
Art. 14 EMRK
verletze, weil es eine durch nichts zu rechtfertigende Rechtsungleichheit sei, wenn die Besuchsrechtsfrage im Zusammenhang mit einem Scheidungs- oder Abänderungsverfahren vom Bundesgericht auf Berufung hin überprüft werde, das gleiche aber bei einer Besuchsrechtsregelung ausserhalb der Scheidung nicht möglich sei (HEGNAUER, Berner Kommentar, 1991, N 95 zu
Art. 275 ZGB
).
Diese Kritik richtet sich in erster Linie an den Gesetzgeber. Das Bundesgericht kann demgegenüber dieser Kritik ausschliesslich im Rahmen von
Art. 113 Abs. 3 BV
Rechnung tragen. Nur soweit die behauptete Grundrechtsverletzung nicht durch den Gesetzgeber vorgeschrieben wird, ist eine Änderung der Rechtsprechung möglich. Dies verkennt auch HEGNAUER nicht. Er hält aber den Begriff der "Zivilrechtsstreitigkeit" für genügend offen, um in verfassungskonformer Auslegung auch die Anordnungen über den persönlichen Verkehr dazu rechnen zu können.
POUDRET (Commentaire OG, Bd. II, Bern 1990, Titre II n. 1.2.24) erachtet die dogmatischen Erwägungen des Bundesgerichts für nicht stichhaltig. Die Abgrenzung erfolge nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung aufgrund von drei Elementen. Es müsse nämlich ein kontradiktorisches Verfahren vorliegen, das sich zwischen zwei oder
BGE 118 Ia 473 S. 476
mehreren Parteien abspiele und auf die endgültige oder dauerhafte Regelung von Rechten abziele (insbesondere:
BGE 107 II 505
;
BGE 115 II 239
). Die ersten beiden Elemente seien aber nicht ausschlaggebend, so dass nur das dritte für die Abgrenzung massgebend sein könne. Es sei insbesondere ohne weiteres möglich, dass eine Zivilrechtsstreitigkeit ohne Gegenpartei oder mit deren Einverständnis ausgetragen werde (POUDRET, Titre II. n. 1.1). Mit der Regelung des Besuchsrechts entscheide die Vormundschaftsbehörde über ein subjektives Recht des entsprechenden Elternteils, auch wenn sich dieser Anspruch nicht notwendigerweise gegen den andern Elternteil richte. Von daher handle es sich bei den entsprechenden Verfahren um streitige Gerichtsbarkeit. Für den Ausschluss der Berufungsfähigkeit bleibe als einziges Argument, dass der Gesetzgeber bewusst die Regelung des Besuchsrechts durch die vormundschaftlichen Behörden nicht in den Ausnahmekatalog von
Art. 44 OG
aufgenommen habe (POUDRET, Titre II, n. 1.2.24).
c) Die Abgrenzung der streitigen von der freiwilligen Gerichtsbarkeit erweist sich in der Tat als nicht einfach. Mit dem Ausnahmekatalog von
Art. 44 OG
zeigt der Gesetzgeber indessen auf, welche Art behördlicher Anordnungen in diesem Zusammenhang der freiwilligen Gerichtsbarkeit zuzuordnen sind. Es handelt sich um behördliche Anordnungen, die, ohne über den Bestand zu entscheiden, der Ausübung oder Erhaltung eines Rechts oder Interesses dienen (
BGE 104 II 165
; WURZBURGER, Les conditions objectives du recours en réforme au Tribunal fédéral, Diss. Lausanne 1964, S. 13 ff.). Dieser Charakter wird nicht dadurch verändert, dass durch den Einspruch einer Drittperson faktisch ein Zweiparteienverfahren entsteht (MESSMER/IMBODEN, Die eidgenössischen Rechtsmittel in Zivilsachen, Zürich 1992, Rz. 54).
Gemäss
Art. 275 Abs. 1 ZGB
trifft die Vormundschaftsbehörde die nötigen "Anordnungen über den persönlichen Verkehr". Nach dem dritten Absatz der gleichen Bestimmung kann ohne entsprechende Anordnungen der persönliche Verkehr nicht gegen den Willen jener Person ausgeübt werden, der die elterliche Gewalt beziehungsweise die Obhut zusteht. Die Vormundschaftsbehörde hat somit die Massnahmen zu treffen, die nötig sind, um das Recht überhaupt ausüben zu können. Sie muss das Recht auf persönlichen Verkehr konkretisieren. Es geht aber ebenso um die für die Durchsetzung nötigen Massnahmen. Die Vormundschaftsbehörde hat Vorkehren zu treffen, die den für die Ausübung des Besuchsrechts nötigen Rahmen schaffen. In diesem Zusammenhang kann sie
BGE 118 Ia 473 S. 477
jedoch ausnahmsweise genötigt sein, das Recht auf persönlichen Verkehr zu verweigern oder zu entziehen, weil mit seiner Ausübung das Interesse des Kindes gefährdet wird. Grundsätzlich hat die Vormundschaftsbehörde aber nicht über den Bestand eines Anspruches auf persönlichen Verkehr zu befinden. Die behördliche Intervention ist durch die Besonderheit nötig, dass dieses Recht gegen den Willen des anderen Elternteils nicht ohne behördliche Hilfe ausgeübt werden darf. Die Anordnung der Vormundschaftsbehörde hat von daher stark vollstreckungsrechtlichen Charakter, so dass es sich rechtfertigen kann, sie nicht zu den Zivilrechtsstreitigkeiten zu rechnen, auch wenn dies nicht ganz zu befriedigen vermag. Ausschlaggebend ist indessen ein Vergleich mit den anderen im Ausnahmekatalog von
Art. 44 OG
aufgeführten Gegenständen. Namentlich Art. 44 Buchst. d OG zeigt deutlich, dass der Gesetzgeber für die Frage der Berufungsfähigkeit diese Art von Entscheiden der vormundschaftlichen Behörden nicht den Zivilrechtsstreitigkeiten zugerechnet hat und das Rechtsmittel der Berufung nicht gewähren wollte. Andernfalls hätte der stärker in die Rechtsstellung der Eltern eingreifende und zudem in jedem Fall von einer kantonalen Gerichtsbehörde überprüfbare (vgl.
Art. 314 Ziff. 1 ZGB
) Entzug der elterlichen Gewalt nicht in den Ausnahmekatalog von
Art. 44 OG
aufgenommen werden müssen. Dieser gesetzgeberische Entscheid bindet das Bundesgericht (
Art. 113 Abs. 3 BV
), so dass die Frage der dogmatisch richtigen Einordnung der Anordnungen über den persönlichen Verkehr für den Ausgang des Verfahrens ohne Bedeutung bleiben muss.
Insofern ist auch die Kritik HEGNAUERS nicht beachtlich, der die Berufungsfähigkeit aus
Art. 4 BV
und der EMRK ableiten will (HEGNAUER, a.a.O. N 95 zu
Art. 275 ZGB
).
Auf die Eingabe kann nicht als Berufung eingetreten werden.
3.
Die Beschwerdeführerin beantragt, die Eingabe als staatsrechtliche Beschwerde entgegenzunehmen, falls die Sache nicht berufungsfähig sei. Dies ist ohne weiteres möglich, da die Frist mit der rechtzeitigen Einreichung beim Regierungsrat gewahrt worden ist (Art. 32 Abs. 4 Buchst. a OG) und die Eingabe grundsätzlich auch den an eine staatsrechtliche Beschwerde zu stellenden Anforderungen genügt.
4.
Für den Fall der Umwandlung der Berufung in eine staatsrechtliche Beschwerde bringt die Beschwerdeführerin vor, der angefochtene Entscheid verletze
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
, weil ausschliesslich Verwaltungsbehörden über den persönlichen Verkehr entschieden
BGE 118 Ia 473 S. 478
hätten. Zudem habe der Regierungsrat die Art. 273 f. ZGB willkürlich angewendet.
5.
a) Dass behördliche Verfügungen über den persönlichen Verkehr zwischen einem Vater und seiner minderjährigen Tochter zu den Entscheiden "über zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen" im Sinne von
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
zählen, steht aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ausser Zweifel (Urteil vom 8. Juli 1987 i.S. W. gegen Vereinigtes Königreich, Publications de la Cour européenne des droits de l'homme, Série A, vol. 121, EuGRZ 1990, S. 542 f., Ziff. 72 ff.). Es kann auch nicht bestritten werden, dass das bisherige Verfahren ausschliesslich vor Verwaltungsbehörden stattgefunden hat. Nach der Behördenorganisation des Kantons Thurgau ist der Gemeinderat als Waisenamt für alle Obliegenheiten der Vormundschaftsbehörde zuständig (§ 8 Ziff. 5 EG ZGB TG). Der Bezirksrat ist die vormundschaftliche Aufsichtsbehörde erster (§ 14 Ziff. 1 EG ZGB TG) und der Regierungsrat jene zweiter Instanz (§ 16 Buchst. C. Ziff. 1 EG ZGB TG). Diese Behörden genügen den Anforderungen von
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
nicht.
Wohl ist die Bezeichnung der Behörde mit Blick auf
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
ohne Bedeutung. Es kommt auf die tatsächliche Ausgestaltung der entsprechenden Behörde an. Diese muss unparteiisch (impartial) und unabhängig (indépendant/independent) sein sowie eine gesetzliche Grundlage (établi par la loi/established by law) aufweisen. Zudem hat das Verfahren vor diesem Gericht so organisiert zu sein, dass die Sache "... in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird" (
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
). Schliesslich muss es die rechtserheblichen Tatsachen selber erheben, die Rechtssätze auf diesen in einem rechtsstaatlichen Verfahren ermittelten Sachverhalt anwenden und für die Parteien bindende Entscheidungen in der Sache fällen (MIEHSLER/VOGLER, Internationaler EMRK-Kommentar, N 287 zu
Art. 6 EMRK
). Auch wenn dem Regierungsrat weder die gesetzliche Grundlage noch die Unparteilichkeit abgesprochen werden kann, so fehlt es doch an der Unabhängigkeit. Während für die richterlichen Behörden § 51 der Verfassung des Kantons Thurgau vom 16. März 1987 (im folgenden: KV TG [SR 131.228]) die Unabhängigkeit ausdrücklich festhält, fehlt eine entsprechende Bestimmung für den Regierungsrat. Dieser untersteht vielmehr in umfassender Weise der Aufsicht des Grossen Rates (§ 37 KV TG). Da er schon aus diesem Grund nicht als Gericht im Sinne von
Art. 6 Abs. 1 EMRK
angesehen werden kann, erübrigt es
BGE 118 Ia 473 S. 479
sich zu prüfen, ob im vorliegenden Fall die an ein gerichtliches Verfahren zu stellenden Anforderungen erfüllt worden sind, namentlich ob der Regierungsrat als entscheidende Behörde tatsächlich selber von den Akten Kenntnis genommen sowie die Sache beurteilt und nicht einfach den durch einen Beamten getroffenen Entscheid genehmigt hat.
Ein Weiterzug des regierungsrätlichen Entscheides an ein kantonales Gericht ist schon aufgrund von
Art. 361 ZGB
ausgeschlossen.
b) Mit Blick auf
Art. 113 Abs. 3 BV
fragt es sich indessen, ob das Bundesgericht überhaupt die Behördenorganisation überprüfen darf oder ob der Gesetzgeber sich verbindlich für die Freiheit der Kantone entschieden hat.
Art. 361 ZGB
sieht vor, dass die Kantone die Vormundschaftsbehörde sowie eine oder zwei Aufsichtsbehörden bestimmen. Handelt das Gesetz weder ausdrücklich vom Richter noch ausdrücklich von einer Verwaltungsbehörde, so sind die Kantone nach
Art. 54 Abs. 2 SchlT ZGB
frei, ob sie ein Gericht oder eine Verwaltungsbehörde als zuständig bezeichnen wollen. Wo das Gesetz demgegenüber von einem "Richter" spricht, dürfen die Kantone nur eine gerichtliche Behörde einsetzen, und wo es von einer "Verwaltungsbehörde" handelt, muss es eine solche sein (BECK, Berner Kommentar, 1932, N 2 zu
Art. 54 SchlT ZGB
). Dabei handelt es sich um eine Auslegungsregel, die besagt, dass das ZGB in dieser Frage wörtlich auszulegen sei. Darüber hinaus kommt
Art. 54 Abs. 2 SchlT ZGB
aber keine selbständige Bedeutung zu.
Fraglich kann somit nur sein, ob der Gesetzgeber mit
Art. 361 ZGB
bestimmt habe, dass den Kantonen die Wahl zwischen Gerichten und Verwaltungsbehörden im Vormundschaftswesen offenstehen müsse. Auch dieser Bestimmung kann aber nur entnommen werden, dass das ZGB die Kantone nicht in ihrer Organisationsfreiheit beschränkt. Es wäre jedoch verfehlt anzunehmen, es könne sich keine Einschränkung aus anderen Rechtssätzen ergeben. Soweit solche anderen Rechtssätze nach
Art. 113 Abs. 3 BV
für das Bundesgericht gleichfalls verbindlich sind, ist auf dem Wege der Auslegung eine Lösung zu suchen.
aa) Aus
Art. 361 ZGB
in Verbindung mit
Art. 54 Abs. 2 SchlT ZGB
ergibt sich, dass das Bundesrecht weder als Vormundschaftsbehörde noch als Aufsichtsbehörde ein Gericht vorschreibt. Mit Bezug auf
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
fragt sich nur, ob eine dieser Behörden ein Gericht sein muss. Aus der EMRK lässt sich jedoch keinesfalls schliessen, dies müsse immer die Aufsichtsbehörde oder immer die Vormundschaftsbehörde sein. Diese organisatorische Freiheit
BGE 118 Ia 473 S. 480
verbleibt in jedem Fall den Kantonen. Insofern kann aber auch gar kein Widerspruch zwischen
Art. 361 ZGB
und
Art. 54 Abs. 2 SchlT ZGB
einerseits und
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
andererseits erblickt werden. Selbst wenn die EMRK eine umfassende richterliche Überprüfung vorschreiben sollte, behält der im ZGB enthaltene Grundsatz Gültigkeit, dass die Kantone sowohl bei der Bezeichnung der Vormundschaftsbehörde als auch bei der Bezeichnung der Aufsichtsbehörden frei sind, ob sie diese als Gerichte ausgestalten wollen oder als Verwaltungsbehörden. Aus der EMRK ergäbe sich nur die zusätzliche Regel, dass die Kantone nicht alle Behörden als blosse Verwaltungsbehörden ausgestalten können. Das widerspricht dem ZGB nicht; dieses bestimmt nicht, es müsse den Kantonen freistehen, alle vormundschaftlichen Behörden gleichzeitig als blosse Verwaltungsbehörden ausgestalten zu können. Mangels eines Widerspruchs zwischen Gesetzesrecht und Staatsvertrag bleibt vorliegend
Art. 113 Abs. 3 BV
ohne Einfluss.
bb) Selbst wenn man einen Widerspruch zum ZGB annehmen wollte, stünde
Art. 113 Abs. 3 BV
einer Anwendung von
Art. 6 EMRK
nicht entgegen. Als späteres Recht ginge der Staatsvertrag dem früheren Gesetzesrecht ohne weiteres vor (vgl.
BGE 111 Ib 71
; HALLER, Kommentar BV, Basel/Zürich/Bern 1987, N 217 zu
Art. 113 BV
). Ob ein Staatsvertrag nicht schon aufgrund der Normenhierarchie dem Gesetz vorgeht, müsste somit auch bei dieser Betrachtungsweise nicht geklärt werden (vgl.
BGE 111 Ib 71
).
Art. 113 Abs. 3 BV
kann das Bundesgericht somit in keinem Fall daran hindern zu prüfen, ob aufgrund von
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
die Kantone wenigstens eine vormundschaftliche Behörde als Gericht mit umfassender Kognition ausgestalten müssen.
6.
a) Die Schweiz hat 1974 bei der Ratifizierung der EMRK eine auslegende Erklärung zu
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
abgegeben, nach der für den schweizerischen Bundesrat die in
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
enthaltene Garantie eines gerechten Prozesses, "sei es in bezug auf Streitigkeiten über zivilrechtliche Rechte und Pflichten, sei es in bezug auf die Stichhaltigkeit der gegen eine Person erhobenen strafrechtlichen Anklage, nur" bezwecke, "dass eine letztinstanzliche richterliche Prüfung der Akte oder Entscheidungen der öffentlichen Gewalt über solche Rechte und Pflichten oder über die Stichhaltigkeit einer solchen Anklage stattfindet" (AS 1974 2173).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seinem Urteil vom 29. April 1988 i.S. Belilos (Série A, Nr. 132 = EuGRZ 1989, S. 21 ff.) zu dieser Erklärung ausgeführt, dass diese einen durch
BGE 118 Ia 473 S. 481
Art. 64 Ziff. 1 EMRK
verbotenen "Vorbehalt allgemeiner Art" enthalte, da die Formulierung "letztinstanzliche richterliche Prüfung der Akte oder Entscheidungen der öffentlichen Gewalt über solche Rechte und Pflichten oder über die Stichhaltigkeit einer solchen Anklage" es nicht erlaube, die Tragweite der von der Schweiz übernommenen Verpflichtung genau festzulegen. Es sei weder genau ersichtlich, welche Arten von Streitsachen von der auslegenden Erklärung erfasst werden sollen, noch ob sich die letztinstanzliche richterliche Prüfung ausschliesslich auf Rechtsfragen oder auch auf Tatfragen beziehen soll. Aus diesem Grund kam der Europäische Gerichtshof zum Schluss, dass es sich bei der auslegenden Erklärung um einen nach
Art. 64 Abs. 1 EMRK
unzulässigen Vorbehalt allgemeiner Art handle (Urteil Belilos, Ziff. 55).
In der Folge dieses Entscheides hat der Bundesrat die auslegende Erklärung von 1974 in zwei Punkten "verdeutlicht" beziehungsweise geändert. Zum einen bezieht sie sich nur noch auf "Streitigkeiten über zivilrechtliche Rechte und Pflichten" und nicht mehr auch auf "die Stichhaltigkeit der gegen eine Person erhobenen strafrechtlichen Anklage". Zum andern hat der Bundesrat eine nicht abschliessende Liste mit kurzer Inhaltsangabe all jener eidgenössischen und kantonalen Bestimmungen der auslegenden Erklärung beigefügt, die von dieser betroffen seien. Dabei finden sich auch § 14 Ziff. 1 und § 16 Buchst. C. Ziff. 1 EG ZGB TG (Zuständigkeit des Bezirksrates und des Regierungsrates als vormundschaftliche Aufsichtsbehörden). Mit Bezug auf die Zuständigkeit des Gemeinderates als Vormundschaftsbehörde liegt ein offensichtliches Versehen vor, indem § 7 Ziff. 5 EG ZGB TG aufgeführt wird, statt § 8 Ziff. 5 EG ZGB TG.
Soweit diese Erklärung des Bundesrates besagt, dass eine letztinstanzliche gerichtliche Überprüfung den Anforderungen von
Art. 6 Abs. 1 EMRK
genüge, stimmt die Auslegung mit jener überein, die auch der Europäische Gerichtshof dieser Bestimmung beimisst. Demgegenüber widerspricht die Beschränkung der richterlichen Prüfungsbefugnis auf die Rechtsanwendung der Rechtsprechung des Gerichtshofes (Urteil vom 8. Juli 1987 i.S. W. Ziff. 82; Publications de la Cour européenne des droits de l'homme, Série A, vol. 121). Insofern handelt es sich nicht nur um eine auslegende Erklärung, sondern um einen eigentlichen Vorbehalt.
b) Die Zulässigkeit dieses Vorbehaltes ist in der Lehre umstritten (vgl. insbesondere GUILLOD, Les garanties de procédure en droit tutélaire, ZVW 1991, S. 52; SCHWEIZER, Auf dem Weg zu einem
BGE 118 Ia 473 S. 482
schweizerischen Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessrecht, ZBl 1990, S. 214 f.; STEFAN OETER, Die "auslegende Erklärung" der Schweiz zu
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
und die Unzulässigkeit von Vorbehalten nach
Art. 64 EMRK
, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, 1988, S. 522; GÉRARD COHEN-JONATHAN, Les réserves à la CEDH, Revue générale de droit international public, 1989, S. 313 f.; THOMAS SCHMUCKLI, Die Fairness in der Verwaltungsrechtspflege, Diss. Freiburg 1990, S. 120 f.). Das Bundesgericht hatte bis anhin keine Gelegenheit, diese Frage zu entscheiden (vgl.
BGE 115 Ia 70
ff., wo sich die Frage letztlich nicht stellte, weil die entsprechende Gesetzgebung des Kantons Waadt vom Vorbehalt nicht erfasst wird; Urteile vom 3. April 1992 i.S. S. und Mitbeteiligte [ZBl 94/1993, S. 39 ff.] E. 4, wo sich die entsprechende Verpflichtung schon aus dem Raumplanungsgesetz ergab). In
BGE 117 Ia 192
hat das Bundesgericht nur festgestellt, es bestehe keine Veranlassung, von der Erklärung abzuweichen.
Das Bundesgericht kann sich mit Bezug auf die Gültigkeit der auslegenden Erklärung nicht auf
Art. 113 Abs. 3 BV
berufen. Diese Bestimmung verbietet nur die Kontrolle der eidgenössischen Gesetze und der allgemeinverbindlichen Bundesbeschlüsse. Das Bundesgericht ist aber frei bei der Prüfung von Bundesbeschlüssen, die nicht dem Referendum unterstanden haben, wie dies für die Genehmigung der Konvention einschliesslich der Vorbehalte zutrifft (
BGE 106 Ib 186
;
104 Ib 423
; AUER, Die schweizerische Verfassungsgerichtsbarkeit, Basel 1984, Rz. 187 ff.; AUBERT, Traité de droit constitutionnel suisse, Neuchâtel 1967, Rz. 450, 1311 und 1518). Die Änderung der auslegenden Erklärung ist 1988 nicht vom Parlament genehmigt, sondern ausschliesslich vom Bundesrat beschlossen worden. Sie kann vom Bundesgericht auf ihre Gültigkeit hin überprüft werden.
c) Wie dargestellt, genügt es nach der Strassburger Rechtsprechung indessen, wenn es sich bei der letzten nationalen mit der Sache befassten Instanz um ein Gericht handelt, das eine umfassende Kognition in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht hat. Über die Gültigkeit des Vorbehaltes muss vorliegend somit nur befunden werden, sofern der Beschwerdeführerin nicht die Möglichkeit offengestanden hat, das Bundesgericht in einem Verfahren anzurufen, das eine umfassende Überprüfung erlaubt hätte. Dabei kann es nicht darauf ankommen, ob die Beschwerdeführerin dies auch getan hat. Es muss genügen, wenn sie die entsprechende Möglichkeit gehabt hätte. Der Beschwerdeführerin stand als einziges Rechtsmittel die staatsrechtliche Beschwerde offen.
BGE 118 Ia 473 S. 483
Eine mit Bezug auf den Sachverhalt auf den Blickwinkel der Willkür beschränkte gerichtliche Überprüfung genügt aber nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte den Anforderungen von
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
nicht (MIEHSLER/VOGLER, N 307 zu
Art. 6 EMRK
; vgl. Urteil EGMR vom 8. Juli 1987 i.S. R., Ziff. 87, Publications de la Cour européenne des droits de l'homme, Série A, vol. 121; Urteil i.S. W., EuGRZ 1990, S. 544, Ziff. 82;
BGE 115 Ia 70
E. 2c und 410;
117 Ia 386
E. c). Dies jedenfalls, wenn nicht nur die Rechtsanwendung, sondern auch die Sachverhaltsfeststellungen umstritten sind.
Dass das Bundesgericht die Anwendung von
Art. 6 Abs. 1 EMRK
frei prüft (
BGE 117 Ia 388
), hilft nicht weiter, da sich hier die freie Prüfung nur auf die Verfahrensgarantien, nicht aber auf den materiellen Gehalt des angefochtenen Entscheides bezieht.
Ein Entscheid über die Anordnung oder den Entzug des persönlichen Verkehrs stellt sowohl für den das Besuchsrecht begehrenden Elternteil als auch für das Kind einen Eingriff in das Recht auf Privat- und Familienleben im Sinne von
Art. 8 EMRK
dar (Urteil W., Ziff. 59 ff.;
BGE 115 Ib 4
ff.). Gleichzeitig handelt es sich um einen schweren Eingriff in das Grundrecht der persönlichen Freiheit. Dieses erfasst nicht nur die Bewegungsfreiheit und die körperliche Integrität, sondern darüber hinaus alle Freiheiten, die elementare Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung darstellen (
BGE 112 Ia 162
mit Hinweisen). Dazu gehört zweifellos auch das Recht auf den persönlichen Umgang mit seinen Nächsten beziehungsweise das Recht, mit diesen nicht verkehren zu müssen. Soweit es um schwere Eingriffe in die persönliche Freiheit geht, kommt dem Bundesgericht im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren - wie auch bei Eingriffen in die Eigentumsgarantie - mit Bezug auf die Rechtsanwendung nicht nur eine auf Willkür beschränkte Kognition zu (
BGE 117 Ia 395
). Soweit jedoch reine Sachverhaltsfeststellungen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht - unabhängig davon, ob es sich um einen leichten oder einen schweren Eingriff handelt - nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Instanz willkürlich sind (
BGE 117 Ia 74
mit Hinweisen;
BGE 115 Ia 70
E. 2c am Ende; vgl. auch
BGE 117 Ia 386
; AUER, S. 262 Rz. 487).
Der Beschwerdeführerin stand somit kein Rechtsbehelf zur Verfügung, der es erlaubt hätte, nicht nur die Rechtsanwendung, sondern auch die Sachverhaltsfeststellung von einem Gericht umfassend prüfen zu lassen.
BGE 118 Ia 473 S. 484
7.
Die Beschwerdeführerin macht mit ihrer Eingabe geltend, der Regierungsrat habe die Frage, ob das Besuchsrecht das Kindeswohl gefährde, nicht genügend abgeklärt. Sie stellt den Eventualantrag, die Sache zu weiteren Abklärungen an den Regierungsrat zurückzuweisen. Der Sachverhalt ist somit umstritten, und die Beschwerdeführerin fordert auch mit Bezug auf diesen ein
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
entsprechendes Verfahren. Die staatsrechtliche Beschwerde kann vorliegend das Fehlen einer gerichtlichen Prüfung im kantonalen Verfahren somit nur heilen, sofern die auslegende Erklärung des Bundesrates zu
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
gültig ist.
Gemäss
Art. 64 EMRK
kann jeder Staat "bei Unterzeichnung der Konvention oder bei Hinterlegung der Ratifikationsurkunde bezüglich bestimmter Vorschriften der Konvention einen Vorbehalt machen, soweit ein zu dieser Zeit in seinem Gebiet geltendes Gesetz nicht mit der betreffenden Vorschrift übereinstimmt". Vorbehalte allgemeiner Art sind indessen nicht zulässig, und jeder Vorbehalt muss mit einer kurzen Inhaltsangabe des betreffenden Gesetzes verbunden werden. Es erscheint unter verschiedenen Gesichtspunkten fraglich, ob der vom Bundesrat 1988 angebrachte und als auslegende Erklärung bezeichnete Vorbehalt diesen Voraussetzungen genügt.
a) Während der anlässlich der Ratifizierung 1974 angebrachte Vorbehalt vom Parlament zusammen mit der EMRK genehmigt worden ist, hat der Bundesrat die neue Formulierung der auslegenden Erklärung beschlossen, ohne sie dem Parlament zur Genehmigung vorzulegen. In der Lehre wird dieses Vorgehen vereinzelt als unzulässig bezeichnet, weil der neue Vorbehalt einen Staatsvertrag abändere und damit von der Bundesversammlung genehmigt werden müsse (THOMAS SCHMUCKLI, a.a.O., S. 120 f.).
Hat der Bundesrat mit seiner auslegenden Erklärung 1988 nur einen bereits bestehenden Vorbehalt verdeutlicht, geht diese Argumentation an der Sache vorbei, weil dann gar keine Änderung vorliegt. Sie vermag aber auch nicht zu überzeugen, falls die Erklärung von 1988 einen neu begründeten Vorbehalt darstellt. Wohl gelten für die Änderung völkerrechtlicher Verträge grundsätzlich die gleichen Regeln wie für deren Abschluss. Doch erfolgt eine Änderung nicht notwendigerweise im gleichen Verfahren wie der ursprüngliche Vertragsschluss. Vielmehr richtet sich das Verfahren und die Zuständigkeit nach der Tragweite der Vertragsänderung (ALDO LOMBARDI, Die Gestaltung des künftigen EWR-Rechts: Grundzüge des Verfahrens im EWR und im schweizerischen Recht, AJP 1992, S. 1339 f. mit Verweisen). Insbesondere kann der Bundesrat alleine handeln,
BGE 118 Ia 473 S. 485
wenn die Änderung keine neuen Pflichten begründet und keinen Verzicht auf Rechte bewirkt (HANGARTNER, Grundzüge des schweizerischen Staatsrechts, Bd. I, Zürich 1980, S. 190) oder wenn es sich um eine blosse Kündigung handelt (AUBERT, Traité de droit constitutionnel suisse, Neuchâtel 1967, N 1556). Die Erklärung, eine bestimmte staatsvertragliche Verpflichtung gelte für die Schweiz nicht, schafft für die Schweiz weder neue Pflichten, noch wird auf bestehende Rechte verzichtet. Die Zuständigkeit des Bundesrates ist somit ohne jeden Zweifel gegeben.
b)
Art. 64 Abs. 1 EMRK
sieht vor, dass die Vertragsstaaten anlässlich der Unterzeichnung oder anlässlich der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde einen Vorbehalt anbringen können. Die Schweiz hat 1974 die EMRK ratifiziert; die geltende Fassung der auslegenden Erklärung stammt von 1988.
aa) Stellt die Erklärung von 1988 nur eine Präzisierung und Einschränkung des 1974 angebrachten Vorbehalts dar, ist gegen dieses Vorgehen nichts einzuwenden. Auch wenn dies weder
Art. 64 EMRK
noch das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge von 1969 [SR 0.111] ausdrücklich regeln, so ist doch davon auszugehen, dass eine Neufassung eines bestehenden Vorbehaltes in der Regel jederzeit möglich sein muss, wenn damit ein bestehender Vorbehalt bloss eingeschränkt wird. Dadurch wird die völkerrechtliche Verpflichtung des entsprechenden Staates nicht vermindert, sondern in Übereinstimmung mit dem Vertragswerk vergrössert.
bb) In seinem Entscheid in Sachen Belilos hat der EGMR den von der Schweiz 1974 angebrachten Vorbehalt für den Bereich des Strafrechts als unwirksam erklärt (EuGRZ 1989, S. 21 ff.). Zum Bereich des Zivilrechts hat sich der Europäische Gerichtshof nicht geäussert. Die Gründe, die zur Unwirksamkeit des (ursprünglichen) Vorbehaltes im Bereich des Strafrechts geführt haben, lassen sich aber ohne weiteres auf das Zivilrecht übertragen.
Der Gerichtshof sah in der auslegenden Erklärung einen gegen Art. 64 Abs. 1 zweiter Satz EMRK verstossenden Vorbehalt allgemeiner Art. Die Wörter "letztinstanzliche richterliche Prüfung der Akte oder Entscheidungen der öffentlichen Gewalt über solche Rechte und Pflichten oder über die Stichhaltigkeit einer solchen Anklage stattfindet" erlaubten es nicht, die Tragweite der von der Schweiz übernommenen Verpflichtung genau festzulegen. Es sei nicht ersichtlich, ob sich die letztinstanzliche Prüfung nur auf Rechts- oder auch auf Tatfragen beziehe und welche Streitsachen im einzelnen gemeint seien (Urteil Belilos, Ziff. 55 = EuGRZ 1989, S. 29).
BGE 118 Ia 473 S. 486
Inwiefern diesbezüglich im Bereich des Zivilrechts etwas anderes gelten soll als im Bereich des Strafrechts, ist nicht zu sehen.
Zudem sah der Gerichtshof auch einen Verstoss gegen
Art. 64 Abs. 2 EMRK
als gegeben an. Der schweizerische Vorbehalt erwähne weder die einzelnen Normen, die
Art. 6 Abs. 1 EMRK
widersprächen, noch enthalte er eine kurze Inhaltsangabe der betreffenden Gesetze.
Art. 64 Abs. 2 EMRK
stelle aber nicht eine blosse Formsache dar. Die Nennung der Gesetze mit kurzer Inhaltsangabe sei für die Rechtssicherheit wichtig und diene den anderen Vertragsstaaten und den Konventionsorganen, um abzuschätzen, wie weit die völkerrechtliche Verpflichtung des Staates gehe, der den Vorbehalt angebracht habe. Der schweizerische Vorbehalt genüge diesen Anforderungen nicht und sei auch deshalb unwirksam (Urteil Belilos, Ziff. 56 ff. = EuGRZ 1989, S. 29 f.). Auch diese Argumentation lässt sich ohne Zweifel auf den Zivilrechtsbereich übertragen. Die auslegende Erklärung von 1974 erwähnte weder die von ihr betroffenen Straf- noch die entsprechenden Zivilrechtsnormen.
cc) Die vom Bundesrat anlässlich der Ratifizierung angebrachte auslegende Erklärung zu
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
konnte somit weder im strafrechtlichen noch im zivilrechtlichen Bereich Wirkungen entfalten. Daraus ergibt sich, dass die auslegende Erklärung von 1988 nicht als Einschränkung, Neuformulierung oder Präzisierung des bis anhin bestehenden Vorbehaltes angesehen werden kann, sondern einen erst nachträglich angebrachten Vorbehalt darstellt.
c) Die Konvention sieht nicht vor, dass auch nachträglich noch ein Vorbehalt angebracht werden könne. Mit Blick auf
Art. 64 EMRK
, der für die Abgabe eines Vorbehalts den Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung oder der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde vorsieht, muss bezweifelt werden, dass ein nachträglicher Vorbehalt noch zulässig ist (DIETER BRÄNDLE, Vorbehalte und auslegende Erklärungen zur europäischen Menschenrechtskonvention, Diss. Zürich 1978, S. 23 f.; SCHWEIZER, a.a.O., S. 215; vgl. auch Art. 19 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge [SR 0.111], das auf die EMRK allerdings keine Anwendung findet). Entsprechend hält GUILLOD (a.a.O., S. 52) fest, dass die Schweiz 1988 die Konvention kündigen und mit dem neuen Vorbehalt wieder hätte ratifizieren müssen.
aa) Es erscheint allerdings fraglich, ob ein entsprechendes Vorgehen nötig wäre, wenn damit tatsächlich ein Vorbehalt in der Art der auslegenden Erklärung von 1988 hätte angebracht werden können. Kann dieses Ziel mit einer Kündigung und neuerlichen
BGE 118 Ia 473 S. 487
Ratifizierung erreicht werden, so ist nicht einzusehen, warum der einfachere Weg eines nachträglichen Vorbehaltes nicht zulässig sein soll. Es wäre diesfalls auch zu erwägen, ob die Abgabe der auslegenden Erklärung als Kündigung mit gleichzeitiger neuer Ratifikation gedeutet werden könnte.
bb)
Art. 65 EMRK
sieht grundsätzlich die Möglichkeit einer Kündigung vor, aber erst nach einer Wirksamkeitsdauer der Konvention für den entsprechenden Staat von fünf Jahren und nur unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von sechs Monaten. Während der Kündigungsfrist bleiben die Verpflichtungen aus der Konvention bestehen (
Art. 65 Abs. 2 EMRK
). Die Kündigung mit Neuratifikation unter Vorbehalt bedeutete somit, dass die Schweiz ihre Gesetzgebung nicht der Konvention anpassen und damit ihre staatsvertraglichen Pflichten bis zur Wirksamkeit des Vorbehaltes verletzen wollte. Dass der Bundesrat aber bewusst eine Konventionsverletzung vornehmen wollte, ist - selbst wenn diese Verletzung nur vorübergehend wäre - nicht anzunehmen. Überdies erschiene es fraglich, ob der Bundesrat für ein solches Vorgehen allein zuständig wäre, ginge es doch um eine Neuratifikation und damit auch formell um eine neue Übernahme völkerrechtlicher Verpflichtungen. Von daher kann der nachträglichen auslegenden Erklärung nicht der Sinn einer Kündigung mit neuer Ratifizierung beigemessen werden.
cc) Es wäre zudem fraglich, ob ein solches Vorgehen mit dem Geist der Konvention überhaupt vereinbar wäre. Gemäss Art. 19 Buchst. c des Wiener Übereinkommens [SR 0.111] sind Vorbehalte unzulässig, die mit dem Ziel und dem Zweck des entsprechenden Vertrages unvereinbar sind.
Art. 64 Abs. 1 EMRK
sieht aber vor, dass ein Vorbehalt nur bezüglich Gesetzen angebracht werden kann, die zum Zeitpunkt der Ratifizierung im entsprechenden Staat gelten. Ein Vorbehalt zugunsten erst künftig zu erlassender Gesetze ist somit nicht möglich. Dies zeigt, dass die EMRK nur die Möglichkeit vorsieht, die völkerrechtliche Bindung mit der Zeit zu verstärken, indem Vorbehalte zurückgezogen werden, dass es aber nicht möglich sein soll, später die Wirksamkeit einzelner Bestimmungen der EMRK ausser Kraft zu setzen. Mit diesem Gedanken der Integration wäre es nicht vereinbar, die Konvention bloss deshalb zu kündigen, um sie sofort wieder mit einem Vorbehalt zu ratifizieren.
Schliesslich müsste ein solches Vorgehen wohl auch als rechtsmissbräuchlich angesehen werden. Die Kündigung hat den Zweck, die völkerrechtliche Verpflichtung zu beenden. Eine Kündigung mit der Absicht, den Vertrag sofort wieder zu ratifizieren, verfolgt aber
BGE 118 Ia 473 S. 488
gar nicht diesen Zweck, sondern dient nur dem Anbringen eines nachträglichen Vorbehaltes. Es läge eine zweckfremde Rechtsausübung vor.
d) Es erweist sich somit, dass die auslegende Erklärung des Bundesrates von 1988 als Vorbehalt nicht wirksam ist, weil ein solcher nicht erst nach der Ratifikation der Konvention angebracht werden kann und bis 1988 kein entsprechender gültiger Vorbehalt bestanden hat. Damit erübrigt es sich zu prüfen, ob die neue Formulierung der Erklärung noch immer zu unbestimmt gehalten ist (vgl. SCHWEIZER, a.a.O., S. 215).