Urteilskopf
118 II 273
54. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 9. September 1992 i.S. R. S. gegen A. und Mitbeteiligte (Berufung)
Regeste
Form beim öffentlichen Testament (Art. 501 f. ZGB).
Hat der Erblasser die Urkunde zwar selber unterschrieben, jedoch nicht selber gelesen, so muss der Beamte ihm die Urkunde in Gegenwart der beiden Zeugen vorgelesen haben. Ist dem Erblasser die Urkunde vor dem Beizug vorgelesen worden, so ist das Testament ungültig, selbst wenn es der Erblasser selber unterschrieben hat.
A.-
Die am 8. Oktober 1989 verstorbene P. A. hatte drei Kinder. A., B. und C. sind die Nachkommen der zwei vorverstorbenen Kinder. R. S. ist der Sohn des dritten, noch lebenden Kindes der Erblasserin, von G. S.
Am 15. Dezember 1988 hatte die Witwe P. A. eine öffentliche letztwillige Verfügung errichtet, in der sie unter anderem die Nachkommen ihrer beiden vorverstorbenen Kinder, nämlich A., B. und C., auf den Pflichtteil gesetzt und den dadurch frei werdenden Teil des Nachlasses dem einzigen Sohn der noch lebenden Tochter, nämlich R. S., zugewiesen hatte. Ihrer noch lebenden Tochter, G. S., beliess sie den gesetzlichen Erbteil.
B.-
Im April 1990 klagten die auf ihre Pflichtteile gesetzten A., B. und C. gegen den eingesetzten Erben R. S. auf Ungültigerklärung des Testamentes wegen Formfehler. Mit Urteil vom 11. März 1991 wies das Amtsgericht Luzern-Stadt, I. Abteilung, die Klage ab.
BGE 118 II 273 S. 274
Auf Appellation von A., B. und C. hin hiess das Obergericht des Kantons Luzern (I. Kammer) am 10. Januar 1992 die Klage gut und erklärte die am 15. Dezember 1988 errichtete letztwillige Verfügung für ungültig.
C.-
R. S. gelangt mit Berufung an das Bundesgericht. Er verlangt die Aufhebung des obergerichtlichen Urteils und die Abweisung der Ungültigkeitsklage. A., B. und C. beantragen die Abweisung der Berufung und die Bestätigung des angefochtenen Entscheides. Das Obergericht hat sich nicht vernehmen lassen.
Das Bundesgericht weist die Berufung ab aus folgenden
Erwägungen:
2.
Es ist unbestritten, dass die Beurkundungsfeststellung des Notars und die an das öffentliche Testament anschliessenden Zeugenbescheinigungen den Beurkundungsvorgang so wiedergeben, wie er sich tatsächlich zugetragen hat. Daraus ergibt sich, dass die Erblasserin die Urkunde nicht selber gelesen hat. Vielmehr hat der Notar sie ihr vorgelesen - dies allerdings in Abwesenheit der Zeugen. Erst anschliessend hat er die beiden Zeugen gerufen, vor denen die Erblasserin die Urkunde unterzeichnet und alsdann erklärt hat, dass ihr die Urkunde vom Notar vorgelesen worden sei und die Verfügungen ihrem ausdrücklichen Willen entsprächen.
Das Obergericht stellte die Ungültigkeit des Testamentes fest, weil keine der beiden für das öffentliche Testament vorgesehenen Formen eingehalten sei. Gemäss der Hauptform der öffentlichen letztwilligen Verfügung habe der Erblasser die Urkunde selber zu lesen und zu unterschreiben (
Art. 500 Abs. 1 und 2 ZGB
). Er habe sodann den zwei Zeugen in Gegenwart der Urkundsperson zu erklären, dass er die Urkunde gelesen habe und sie seine letztwillige Verfügung enthalte (
Art. 501 Abs. 1 ZGB
). Den Zeugen obliege es anschliessend, diesen Vorgang zu bestätigen und zu bescheinigen, dass sich der Erblasser nach ihrer Wahrnehmung im Zustande der Verfügungsfähigkeit befunden habe (
Art. 501 Abs. 2 ZGB
). Daneben stellt das ZGB eine zweite Form für das öffentliche Testament zur Verfügung. Nach dieser hat die Urkundsperson die Urkunde in Gegenwart der beiden Zeugen vorzulesen, und der Erblasser hat daraufhin zu erklären, die Urkunde enthalte seine Verfügung (
Art. 502 Abs. 1 ZGB
). Die Zeugen haben diesfalls nicht nur die Erklärung des Erblassers und ihre Wahrnehmung über seine Verfügungsfähigkeit zu
BGE 118 II 273 S. 275
bezeugen, sondern auch mit ihrer Unterschrift zu bestätigen, dass die Urkunde in ihrer Gegenwart dem Erblasser von der Urkundsperson vorgelesen worden ist (
Art. 502 Abs. 2 ZGB
).
Vorliegend entspricht die Urkunde weder der einen noch der anderen Form vollständig. Der Hauptform entspricht sie nicht, weil die Erblasserin den Text der Verfügung nicht selber gelesen hat, und die Nebenform ist nicht erfüllt, weil der Notar die Verfügung der Erblasserin nicht in Gegenwart der Zeugen vorgelesen hat.
3.
Dass es zulässig sein kann, die beiden Formen zu mischen, ist unbestritten, sofern damit wenigstens alle Erfordernisse einer der beiden gesetzlichen Formen eingehalten worden sind. So ist beispielsweise nichts dagegen einzuwenden, wenn die verfügende Person die Urkunde auch noch selber unterschreibt, obgleich ihr die Urkunde vor den Zeugen vorgelesen worden ist und sie den Inhalt diesen gegenüber als ihrem Willen entsprechend bezeichnet hat (
BGE 89 II 365
;
BGE 56 II 160
ff.;
BGE 50 II 116
;
BGE 46 II 13
; PIOTET, Erbrecht, SPR Bd. IV/1, Basel 1978, S. 230 f.). Umstritten ist demgegenüber, ob es auch zulässig sei, einzelne Elemente der einen mit einzelnen Elementen der andern Form zu kombinieren, ohne dass alle Elemente der einen oder der andern Form erfüllt sind.
a) Die sich vorliegend stellende Frage, ob das Testament auch in Abwesenheit der Zeugen vorgelesen werden könne, sofern die testierende Person selber unterschreibe, hatte das Bundesgericht bereits in
BGE 66 II 89
verneint (vgl. auch
BGE 89 II 365
, wo diese Frage nicht erneut entschieden werden musste). Es ist zu prüfen, ob im Lichte der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts zu den Formfragen beim Testament an dieser Auffassung festgehalten werden kann.
b) Das Beurkundungsverfahren wird grundsätzlich durch das kantonale Recht geregelt (
Art. 55 SchlT ZGB
). Im Bereich der öffentlichen Verfügungen von Todes wegen enthält allerdings das Bundesrecht ausführliche Bestimmungen über die Beurkundung. Diese sind zwingender Natur und die Kantone können das Beurkundungsverfahren bei Verfügungen von Todes wegen nicht abweichend regeln. Die Ausführungen des Beklagten zu den kantonalen Bestimmungen über das Beurkundungsverfahren sind deshalb vorliegend ohne Bedeutung.
In konstanter Rechtsprechung hat das Bundesgericht die bundesrechtlichen Formbestimmungen beim Testament als Gültigkeits- und nicht nur als Ordnungsvorschriften angesehen (
BGE 112 II 23
;
BGE 76 II 277
;
BGE 42 II 204
E. 1). Entsprechend hat sich das Bundesgericht in seiner
BGE 118 II 273 S. 276
bisherigen Rechtsprechung stets für eine genaue Einhaltung der bei der öffentlichen Verfügung von Todes wegen vorgeschriebenen Form ausgesprochen, wobei allerdings regelmässig auch festgehalten worden ist, dass für die Auslegung von Formvorschriften nach deren Zweck zu fragen sei (
BGE 45 II 139
E. 3;
BGE 58 II 206
;
BGE 103 II 87
) und diese nicht über den Gesetzeswortlaut hinaus ausgedehnt werden dürften (
BGE 103 II 87
). Von zwei möglichen Gesetzesauslegungen ist jene zu wählen, welche die Gültigkeit des Testamentes begünstigt (
BGE 112 II 25
).
aa) Entsprechend hat das Bundesgericht über das Vorliegen aller im Gesetz vorgesehenen Elemente streng gewacht, es aber auch immer abgelehnt, weitere, im Gesetz nicht ausdrücklich erwähnte Formerfordernisse zusätzlich zu verlangen. Demgemäss hat das Bundesgericht in seiner bisherigen Rechtsprechung entschieden, damit eine öffentliche Verfügung von Todes wegen gültig sei, müsse der Erblasser - bzw. beim Erbvertrag wohl beide Parteien (
BGE 48 II 65
ff.;
60 II 269
ff., offener dann aber
BGE 93 II 227
f. und
BGE 105 II 47
) - den Zeugen erklären, dass er die Urkunde gelesen habe sowie dass diese seinen Willen enthalte (
BGE 48 II 66
ff.;
BGE 60 II 276
), und die Zeugen müssen mit ihren Unterschriften bestätigen, dass ihnen diese Erklärungen gemacht worden seien (
BGE 53 II 104
f.).
Art. 501 ZGB
setze für die Gültigkeit eines Testamentes auch voraus, dass bei dieser Erklärung der Urkundsbeamte anwesend sei. Dass die Zeugen dies zu bestätigen hätten, lasse sich demgegenüber dem Gesetz nicht entnehmen und bilde deshalb auch keine Gültigkeitsvoraussetzung (
BGE 103 II 87
). Werde die Form nach
Art. 501 ZGB
gewählt, so hätten die Parteien beim Erbvertrag - im Gegensatz zum Erblasser bei der letztwilligen Verfügung (
BGE 103 II 86
E. 2a) - diesen in Anwesenheit der Zeugen zu unterschreiben (
Art. 512 Abs. 2 ZGB
); auch dies brauche aber nicht von den Zeugen bestätigt zu werden (
BGE 76 II 276
ff.;
BGE 89 II 190
;
BGE 105 II 46
;
BGE 112 II 23
). Mit Bezug auf die Form der Zeugenerklärung hat das Bundesgericht festgehalten, dass diese nicht als solche erscheinen müsse. Es genüge, wenn sich die zu bescheinigenden Tatsachen aus der Urkunde ergäben und diese von den Zeugen unterschrieben worden sei (
BGE 50 II 117
f.). Auch mit Bezug auf die Unterschriften der Vertragsparteien hat sich das Bundesgericht genau an die vom Gesetz vorgeschriebene Form gehalten. Das Handzeichen des Erblassers (nach
Art. 15 OR
) genüge deshalb beim Testament nicht (
BGE 45 II 138
f.), wohl aber beim Erbvertrag, sofern die Form nach
Art. 502 ZGB
eingehalten sei (
BGE 46 II 14
ff.); da sei es aber nicht nötig, da die öffentliche Beurkundung
BGE 118 II 273 S. 277
nach
Art. 502 ZGB
die Unterschrift ersetzen könne (
BGE 66 II 101
ff.).
Ob es als Gültigkeitsvoraussetzung angesehen werden muss, dass der Urkundsbeamte im Verfahren nach
Art. 502 ZGB
die Urkunde selber vorliest, wie dies das Bundesgericht 1919 entschieden hat (
BGE 45 II 141
), muss mit Blick auf die damals gegebene Begründung und den inzwischen eingetretenen technischen Wandel als zweifelhaft angesehen werden.
bb) Demgegenüber hat das Bundesgericht in bezug auf die Reihenfolge der einzelnen Formhandlungen ein Abweichen vom Gesetzeswortlaut zugelassen, weil (und soweit) keine sachlichen Gründe für einen bestimmten Handlungsablauf ersichtlich sind. Entsprechend ist es für die Einhaltung der Form ohne Bedeutung, ob die Erklärungen der Parteien nach
Art. 501 Abs. 1 ZGB
beim Erbvertrag vor oder nach dem Unterschreiben durch diese abgegeben worden sind (
BGE 60 II 276
). Der Urkundsbeamte darf die Urkunde auch datieren, bevor sie vom Erblasser unterschrieben worden ist (
BGE 55 II 236
ff.). Die Form ist selbst dann gewahrt, wenn der Notar die Urkunde erst nach den Zeugen unterschreibt (
BGE 58 II 206
f.).
cc) Schliesslich hat sich die bundesgerichtliche Rechtsprechung mit Bezug auf den Nachweis, ob die Form eingehalten sei oder nicht, zu Gunsten der Aufrechterhaltung eines Testamentes entwickelt. Ob auch Beweismittel ausserhalb der Urkunde zulässig sind, ist ursprünglich verneint (
BGE 45 II 139
f.), dann offengelassen (
BGE 60 II 276
;
BGE 76 II 276
ff.;
BGE 93 II 227
;
BGE 105 II 46
) und schliesslich bejaht worden (
BGE 112 II 24
f.).
c) Nachdem das Bundesgericht während Jahren in konstanter Rechtsprechung die inhaltliche Richtigkeit des Datums und der Ortsangabe beim eigenhändigen Testament als Gültigkeitsvoraussetzung angesehen hat (vgl. die Wiedergabe der Rechtsprechung in
BGE 116 II 119
f.), führt nach der neusten Rechtsprechung eine irrtümlich falsche Datums- oder Ortsangabe nicht mehr zur Ungültigkeit, sofern die Richtigkeit des Datums im konkreten Fall ohne jede materielle Bedeutung ist (
BGE 116 II 129
; zur falschen Ortsangabe:
BGE 117 II 146
ff.). Auch bei dieser neuen Rechtsprechung hält es aber daran fest, dass die vom Gesetz verlangten Formelemente vollständig erfüllt sein müssen (
BGE 116 II 128
f.). Entsprechend hat es ein Testament für ungültig erklärt, bei dem zwar Errichtungsort, -monat und -tag enthalten gewesen sind, aber jeder Hinweis auf ein Errichtungsjahr gefehlt hat (
BGE 117 II 247
ff.). Das Bundesgericht hat sich die von BREITSCHMID (Testament und Erbvertrag, in: St. Galler
BGE 118 II 273 S. 278
Studien zum Privat-, Handels- und Wirtschaftsrecht, Bd. 26, 1991, S. 48 f.; vgl. auch BREITSCHMID, Formvorschriften im Testamentsrecht, Diss. Zürich 1982, Rz. 453 ff.) vertretene Meinung, eine versehentlich unvollständige, aber wenigstens im Ansatz vorhandene Datierung müsse nicht zwangsläufig zur Ungültigkeit des Testamentes führen, nicht zu eigen gemacht (
BGE 117 II 249
ff.). Es geht vielmehr von der Unterscheidung zwischen einer vollständigen Datierung einerseits und der Richtigkeit der Datierung andererseits aus, auf die bereits WALTER BURCKHARDT (Über die Form des eigenhändigen Testamentes, ZBJV 1936, S. 386 ff., insb. S. 389) hingewiesen hat. Die Gültigkeit eines Testamentes setzt somit auch nach dieser neuen Rechtsprechung voraus, dass alle vom Gesetz vorgeschriebenen Formelemente tatsächlich erfüllt sind. Der blosse Nachweis, dass der Testator sie erfüllen wollte, genügt nicht. Demgegenüber führt ihre inhaltliche Unrichtigkeit nicht notwendig zur Ungültigkeit der Verfügung. Dass das Erfordernis einer vollständigen (nicht aber unbedingt richtigen) Datierung zur Ungültigkeit einer nachweislich gewollten Verfügung führen kann, liegt in der Natur jedes Formerfordernisses. Diese praktische Konsequenz ist auch gegeben, wenn ein Testament nicht vom Erblasser selber von Hand geschrieben worden ist, jedoch zweifelsfrei nachgewiesen ist, dass dieser den Inhalt als seine letztwillige Verfügung gewollt hat.
4.
Das Bundesgericht hält somit auch nach seiner neusten Rechtsprechung an der vollständigen Erfüllung der vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Form als Gültigkeitserfordernis fest. Wie jede Gesetzesnorm bedürfen allerdings auch die Formvorschriften der Auslegung. Mit Bezug auf die Datierung hat das Bundesgericht festgehalten, dass eine solche nur vorliegt, wenn auch das Jahr genannt wird, weil der Gesetzestext selber ausdrücklich diese Angabe verlangt (
BGE 117 II 247
ff.; kritisiert von BREITSCHMID, Rechtsprechung/Erbrecht, SZW 1992, S. 119 f.). Es bleibt somit zu prüfen, ob die Art. 501 f. ZGB tatsächlich vorschreiben, dass die Urkunde dem Erblasser in Anwesenheit der Zeugen vorgelesen wird, selbst wenn dieser sie unterschreibt.
a) Eine wörtliche Auslegung des deutschen Gesetzestextes muss vorliegend ohne weiteres zur Ungültigkeit des Testamentes führen. Nach
Art. 502 ZGB
hat das Vorlesen in Anwesenheit der Zeugen stattzufinden, "wenn der Erblasser die Urkunde nicht selbst liest und unterschreibt". Die Erblasserin hat diese nicht selber gelesen und unterschrieben, sondern vorgelesen bekommen und unterzeichnet. Auch die wörtliche Auslegung von
Art. 501 ZGB
kann zu keinem
BGE 118 II 273 S. 279
anderen Ergebnis führen, da nach dieser Norm die Urkunde von der testierenden Person selber gelesen werden muss. Die romanischen Texte weisen nicht in eine andere Richtung ("ne lit ni ne signe"; "se il testatore non legge o non firma").
b) Der Entwurf des Bundesrates von 1904 (Art. 506) hatte demgegenüber in allen drei Amtssprachen ein "oder" verwendet ("Kann oder will der Erblasser die Urkunde nicht lesen oder nicht unterschreiben"; "Si le testateur ne veut ou ne peut lire ou signer"; "Se il testatore non può o non vuole leggere o firmare"). Dadurch war der Text zweifellos weniger klar. Während der deutsche Text des Entwurfes nur den Schluss zulässt, dass die Voraussetzungen für das Vorlesen vor Zeugen gegeben war, wenn der Testator entweder den Text nicht selber lesen oder nicht unterschreiben konnte (oder wollte) oder beides nicht konnte (oder wollte), liessen die romanischen Texte auch die Auslegung zu, dass die Voraussetzungen nur gegeben seien, wenn es dem Testator nicht möglich sei, selber zu lesen oder zu unterschreiben (bzw. er dies nicht wolle). Die Unklarheit rührt daher, dass im deutschen Text die Verneinung wiederholt worden ist, in den romanischen Texten aber nicht.
Im Nationalrat wurde sodann auf Antrag der Ratskommission (Prot. Komm. NR, Sitzung v. 28. April 1905) jeder Hinweis darauf gestrichen, warum der Erblasser die Urkunde nicht selber liest und unterschreibt (Sten.Bull. 1905, S. 1375 ff.). Gleichzeitig wurde - dies aber ohne jede Begründung - im deutschen Text das zweite "nicht" gestrichen ("Wenn der Verfasser die Urkunde nicht selbst liest oder unterschreibt,)..."). Damit entstand auch im deutschen Text eine Zweideutigkeit, die dann allerdings vom Ständerat durch das Ersetzen des Wortes "oder" durch "und" wieder beseitigt wurde (Sten.Bull. 1906, S. 192). Den französischen Text passte demgegenüber der Nationalrat dem deutschen Text des bundesrätlichen Entwurfes an, indem er die Verneinung wiederholte ("Si le testateur ne lit ou ne signe pas l'acte lui-même,)..."; Sten.Bull. 1905, S. 1378). Der Ständerat ersetzte dann allerdings das "ou" durch ein "et", womit wieder ein Unterschied zum von ihm beschlossenen deutschen Text entstand (Sten.Bull. 1906, S. 194). Die unterschiedlichen Fassungen zwischen National- und Ständerat wurden offenbar nicht als eigentliche Differenzen angesehen, so dass über den entsprechenden Gesetzesartikel vom Nationalrat nicht mehr gesondert Beschluss gefasst wurde (Sten.Bull. 1907, NR, S. 292 und 295). In der Redaktionskommission wurde sodann im französischen Text das "et ne ... pas" durch ein "ni ne" ersetzt, und es
BGE 118 II 273 S. 280
wurden einige weitere, hier nicht interessierende redaktionelle Änderungen vorgenommen.
Nachdem sowohl im National- als auch im Ständerat in der hier entscheidenden Frage regelmässig der deutsche und der französische Text voneinander abgewichen haben und die diesbezüglichen Änderungen in den Beratungen mit keinem Wort begründet worden sind, lässt sich entgegen der Ansicht des Beklagten nicht behaupten, es hätten den Räten zwei unterschiedliche Konzepte vorgelegen. Den Materialien ist damit nichts zu entnehmen, was ein Abweichen vom Wortlaut des Gesetzes erlauben würde. Es muss vielmehr geschlossen werden, dass der Gesetzgeber sich der Folgen seiner Formulierungen wenig bewusst war.
5.
Ergeben sich aus der Entstehungsgeschichte keine eindeutigen Anhaltspunkte dafür, ob der Gesetzgeber tatsächlich das Ergebnis gewollt hat, zu dem eine wörtliche Auslegung des Gesetzestextes führt, so rechtfertigt es sich ganz besonders, nach dem Zweck der Norm zu fragen.
a) Die öffentliche Beurkundung hat beim Testament einerseits die Funktion, der testierenden Person die Wichtigkeit des Geschäfts zu zeigen und andererseits sicherzustellen, dass das Testament tatsächlich ihrem wohlüberlegten Willen entspricht. Sowohl aus Art. 501 als auch aus
Art. 502 ZGB
ergibt sich, dass die Zeugen insbesondere garantieren sollen, dass der Text der öffentlichen Urkunde dem Willen des Erblassers entspricht (a. M. EDWIN GAUTSCHI, Die öffentliche Beurkundung der Verfügung von Todes wegen, Diss. Zürich 1932, S. 48 f. und S. 97), wenn sie auch nicht dafür einstehen können, dass der Inhalt tatsächlich gewollt ist. Diese Aufgabe der Zeugen zerfällt in zwei Teile. Zum einen helfen diese mit, zu sichern, dass der Erblasser vom Inhalt der Urkunde tatsächlich Kenntnis genommen hat (sogenannte Rekognition; vgl. MARTI, Notariatsprozess, Bern 1989, S. 109) und zum andern bestätigen sie die Genehmigung der Urkunde durch die Urkundspartei.
Die Rekognition kann auf zwei Arten erfolgen. Entweder liest der Erblasser die Urkunde selber oder sie wird ihm vorgelesen. Im ersten Fall erfolgt eine direkte Wahrnehmung des Urkundeninhalts, im zweiten demgegenüber eine indirekte. Indirekte Wahrnehmungen bergen immer die Gefahr eines Übermittlungsfehlers in sich. Dabei ist in erster Linie nicht an irgendwelche unlauteren Machenschaften zu denken (Unterschieben einer anderen Urkunde, Weglassen einzelner Teile) - solche lassen sich durch keine formellen Vorkehren vollständig ausschliessen -, sondern an unabsichtliche Lesefehler.
BGE 118 II 273 S. 281
Daraus erklärt sich auch, dass der Gesetzgeber in
Art. 502 ZGB
für die mittelbare Rekognition eine zusätzliche Sicherung eingebaut hat, in dem zwei Zeugen zugegen sein müssen, die kontrollieren (und mit ihrer Unterschrift bestätigen), dass tatsächlich der ganze Text der Urkunde korrekt vorgelesen worden ist. Insofern kann BREITSCHMID nicht gefolgt werden, der die Anwesenheit der Zeugen bei der Rekognition als unbedeutendstes aller Formelemente beim öffentlichen Testament bezeichnet (Diss., Rz. 632). Entsprechend ist auch den Kommentatoren (ESCHER, Zürcher Kommentar, 1959, N 7 zu
Art. 502 ZGB
; TUOR, Berner Kommentar, 1952, N 8b zu
Art. 502 ZGB
; vgl. auch EDWIN GAUTSCHI, a.a.O., S. 74 f.) nicht zuzustimmen, die das Vorlesen ohne Zeugen als gleich sicher ansehen, wie das Vorlesen in Gegenwart der Zeugen, sofern der Erblasser mit seiner Unterschrift bestätige, dass ihm die Urkunde tatsächlich vorgelesen worden sei. Der Erblasser, der die Urkunde nicht selber gelesen hat, sondern nur vorgelesen bekommen hat, kann nicht - auch nicht mit seiner Unterschrift - bezeugen, dass ihm tatsächlich die ganze Urkunde vorgetragen worden ist. Ob die Rekognition korrekt stattgefunden hat oder nicht, könnte somit nur noch von der Urkundsperson selber bestätigt werden; diese kann aber nicht gleichzeitig vorlesen und selber kontrollieren, ob sie richtig vorliest. Es wäre eine Überbewertung der Unterschrift, wenn diese als hinreichenden Grund angesehen würde, um auf die Gegenwart der Zeugen beim Vorlesen zu verzichten (vgl. CLAUDE ROSSIER, La forme authentique du Testament, Diss. Lausanne 1964, S. 89 ff.; ROLF RASCHEIN, Die Ungültigkeit der Verfügungen von Todes wegen, Diss. Bern, 1954, S. 39 f.; PIOTET, Erbrecht, SPR Bd. IV/1, Basel 1978, S. 231).
Es trifft allerdings zu, dass mit dieser strengeren Auslegung ausgeschlossen wird, dass die Urkundspartei, welche die Urkunde nicht selber lesen kann, den Inhalt des Testamentes vor den Zeugen geheim hält. Dieser Nachteil darf allerdings nicht überbewertet werden. Dass die Zeugen der gleichen Geheimhaltung unterstehen, wie die Urkundsperson selber, steht ausser Zweifel
; 321 StGB
erfasst nicht nur die Notare, sondern auch ihre Hilfspersonen.
b) Zeigt sich, dass ein bestimmtes Formelement sehr wohl den Zweck fördert, die Übereinstimmung von wohlüberlegtem Willen und Urkunde zu sichern, so besteht kein Grund, von den im Gesetz vorgesehenen Formelementen abzuweichen. Eine der gesetzlichen Formvorschrift nicht entsprechende Urkunde ist nach
Art. 520 ZGB
als ungültig zu erklären, selbst wenn im konkreten Fall kein Zweifel darüber besteht, dass sie tatsächlich dem Willen der Erblasserin
BGE 118 II 273 S. 282
entspricht. Es handelt sich eben um eine formelle Voraussetzung der Gültigkeit. Entsprechend ist es auch von vornherein unbehelflich, wenn der Beklagte geltend macht, das vorliegende Testament habe dem Willen der Erblasserin entsprochen.
Die Berufung erweist sich somit als unbegründet und der angefochtene Entscheid ist zu bestätigen.