Urteilskopf
118 II 404
80. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 27. Oktober 1992 i.S. Armin, Monique und Martina W. gegen S. Versicherungsgesellschaft (Berufung)
Regeste
Genugtuungsanspruch der Angehörigen nach
Art. 47 OR
.
Der Umstand, dass Angehörige die Genugtuung erben, die ein Verunfallter für seine Verletzungen erhalten hat, kann bei der Festsetzung ihrer Genugtuung für den späteren Tod des Geschädigten mitberücksichtigt werden (E. 3a). Eine Genugtuung für den Tod entfällt auch nicht, wenn ein Angehöriger dadurch von seelischem Leid befreit wird (E. 3b/cc).
A.-
Reto W. (Sohn von Kläger 1 und Klägerin 2, Bruder der Klägerin 3) erlitt am 12. April 1979 im Alter von fast sieben Jahren bei einem Verkehrsunfall eine schwere Hirnverletzung mit nachfolgender Tetraplegie. Der Unfall wurde von einem bei der S. versicherten
BGE 118 II 404 S. 405
Lenker verursacht. Der Verunfallte wurde 1980 nach Hause entlassen und ab diesem Zeitpunkt von seiner Mutter gepflegt, welche deswegen ihren Beruf aufgegeben hatte. Die Versicherungsgesellschaft entschädigte die Mutter für diese Arbeit, übernahm die Heilungskosten sowie verschiedene andere Unkosten und bezahlte gemäss Vergleich vom 27. Juli/4. August 1982 u.a. eine Genugtuung, welche "definitiv auf Fr. 100'000.-- festgelegt" wurde. Über Genugtuungsansprüche der Eltern wurde damals offenbar nicht ausdrücklich gesprochen. Der heutige Rechtsvertreter der Kläger übernahm 1983 das Mandat und hat gegenüber der Versicherungsgesellschaft in mehreren Besprechungen die Frage erörtert, ob den Eltern als Angehörigen eines Schwerstverletzten auch Genugtuungsansprüche zustünden. Die Diskussionen dauerten bis zum November 1984 und führten zu keinem Ergebnis. Am 25. November 1987 forderte der Vertreter der Angehörigen von Reto W. die Versicherungsgesellschaft auf, den Eltern je eine Genugtuung von Fr. 50'000.-- zu bezahlen. Mit Hinweis auf die inzwischen eingetretene Verjährung wurden diese Ansprüche am 27. November 1987 abgelehnt. Am 19. November 1988 starb Reto W. an den Spätfolgen des Unfalls.
B.-
Armin, Monique und Martina W. klagten am 30. Oktober 1990 beim Appellationshof des Kantons Bern gegen die Versicherungsgesellschaft auf Zahlung von je Fr. 60'000.-- und Fr. 25'000.-- an Armin und Monique W. sowie von Fr. 30'000.-- und Fr. 15'000.-- nebst Zins an Martina W. Mit Urteil vom 7. November 1991 wies der Appellationshof die Klage ab. Er befand, dass die Genugtuungsansprüche der Angehörigen für die Verletzungen von Reto W. verjährt und überdies durch den Vergleich vom 27. Juli/4. August 1982 abgegolten seien; sodann fehle es an der nach der alten Fassung von
Art. 49 OR
noch vorausgesetzten Schwere des Verschuldens. Eine Genugtuung für die Tötung eines Angehörigen nach
Art. 47 OR
erachtete der Appellationshof als unbillig, weil die Eltern spätestens beim Ableben von Reto W. durch Erbgang in den Genuss seiner Genugtuung gekommen seien.
C.-
Armin, Monique und Martina W. haben gegen das Urteil des Appellationshofes Berufung eingereicht. Sie beantragen, den angefochtenen Entscheid aufzuheben und die Beklagte zu folgenden Zahlungen zu verurteilen:
a) An den Kläger 1:
- Fr. 60'000.-- nebst Zins zu 5% seit 12.4.1979
- Fr. 25'000.-- nebst Zins zu 5% seit 19.11.1988
BGE 118 II 404 S. 406
b) An die Klägerin 2:
- Fr. 60'000.-- nebst Zins zu 5% seit 12.4.1979
- Fr. 25'000.-- nebst Zins zu 5% seit 19.11.1988
c) An die Klägerin 3:
- Fr. 15'000.-- nebst Zins zu 5% seit 19.11.1988.
Die Versicherungsgesellschaft beantragt im wesentlichen Abweisung der Berufung, soweit darauf eingetreten werden könne, und Bestätigung des angefochtenen Urteils. Das Bundesgericht heisst die Berufung teilweise gut
aus folgenden Erwägungen:
3.
Der Appellationshof hat eine Genugtuung der Eltern für den späteren Tod ihres Sohnes Reto W. abgelehnt, weil die Hälfte der von der Versicherung im Jahre 1982 bezahlten Genugtuungssumme von Fr. 100'000.-- für die Eltern bestimmt gewesen sei. Er kam zum Schluss, dass die Eltern den für Reto W. ausbezahlten Teil der Genugtuungssumme entweder schon zu Lebzeiten des Kindes erhalten und für sich verwendet hätten, sei dies, dass sie diese Summe für seinen Unterhalt verbraucht und so Minderkosten gehabt hätten, oder dass sie diesen Betrag in ihr Haus verbaut und so einen ihnen zukommenden Mehrwert erzeugt hätten. Im Ergebnis hätten die Eltern - wird dann weiter ausgeführt - so oder anders von der Beklagten unter dem Titel Genugtuung die Summe erhalten, welche sie heute aus dem Todesfall geltend machten. Es würde daher Recht und Billigkeit widersprechen, wenn ihnen aus Todesfall noch eine weitere Genugtuung zugesprochen würde.
Die Kläger rügen, der Appellationshof lasse die Frage offen, ob sich die Angehörigen die seinerzeit dem Verletzten ausbezahlte und nach dem Tod geerbte Genugtuungssumme anrechnen lassen müssen, gehe aber dennoch davon aus, dass diese Anrechnung stattfinden solle. Diese Auffassung sei dogmatisch unhaltbar und führe zu widersprüchlichen Ergebnissen. Wisse ein Verletzter um die Anrechnungspflicht, so werde er das Geld verprassen und den Haftpflichtigen zu einer kumulierten Entschädigung zwingen, während der Sparsame letzterem oder seinem Versicherer einen Gefallen tue.
Der Einwand der Kläger, dass die Vorinstanz eine Anrechnung der für Reto W. bezahlten Genugtuung vorgenommen hat, trifft zu. Im folgenden ist zu prüfen, ob das zulässig ist.
a) Gemäss
Art. 47 OR
kann der Richter bei Tötung eines Menschen oder Körperverletzung unter Würdigung der besonderen Umstände dem Verletzten oder den Angehörigen des Getöteten eine angemessene Geldsumme als Genugtuung zusprechen. Genugtuungsansprüche können vererbt werden, wenn der Berechtigte sie selbst noch geltend gemacht hat (
BGE 81 II 389
E. 2,
BGE 88 II 462
; statt vieler BREHM, N 123 ff. zu
Art. 47 OR
und die dort zitierte Lehre). Das Bundesgericht hatte bis heute die Frage nicht zu beurteilen, ob die Angehörigen, welche die dem Verletzten ausbezahlte oder von diesem bereits verlangte Entschädigung erben, beim Ableben des Angehörigen zusätzlich einen eigenen Anspruch geltend machen können.
Nach OFTINGER haben die Angehörigen selber einen Anspruch aus eigenem Recht, wenn der Verletzte später an den Unfallfolgen stirbt; ohne Begründung versagt dieser Autor jedoch dem Getöteten für die noch zu Lebzeiten zugefügte Unbill einen eigenen Genugtuungsanspruch und erachtet damit nur die eine oder die andere Forderung für gerechtfertigt (Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. I, 4. Aufl., S. 294). HÜTTE (Die Genugtuung, 2. Aufl., I/20, Ziff. 1.11) hält dafür, dass ein vom Verletzten mit dem Haftpflichtigen abgeschlossener Vergleich beim späteren Tod des Verletzten keine neuen Ansprüche der hinterbliebenen Angehörigen entstehen lasse; durch die Abfindung seien sämtliche Ansprüche nach
Art. 47 OR
abgegolten. Beiden Auffassungen kann nicht gefolgt werden. Stirbt der Verletzte erst nach geraumer Zeit, so sind die Angehörigen genugtuungsberechtigt, wenn der Kausalzusammenhang feststeht und die Verjährung noch nicht eingetreten ist. Dass der Betroffene selbst schon eine Genugtuung erhalten hat, welche nun die Hinterbliebenen erben, ist nicht massgeblich; grundsätzlich haben beide Ansprüche nebeneinander Platz, wobei im Ergebnis jener des Verletzten auf die begrenzte Zeit seines Leidens abzustimmen ist (KELLER, Haftpflicht im Privatrecht, Bd. II, S. 113; ähnlich auch BREHM, N 118 ff. zu
Art. 47 OR
, S. 326, und TERCIER, Die Genugtuung, in Strassenverkehrsrechts-Tagung 1988, S. 2, sowie BEAUVERD, L'action des proches en réparation de la perte de soutien et du tort moral, Diss. Freiburg 1986, S. 120 ff., Rz. 233).
Abzulehnen ist eine Anrechnung der geerbten Genugtuung im Sinne BREHMS (N 120 zu
Art. 47 OR
), denn die Ansprüche beruhen auf verschiedenen Rechtsgründen, was einer Kompensation grundsätzlich entgegensteht. Zudem handelt es sich bei der Genugtuung um einen Anspruch, der sich ziffernmässig nicht errechnen lässt
BGE 118 II 404 S. 408
- wie etwa ein Invaliditäts- oder Versorgerschaden -, sondern der vom Richter nach seinem Ermessen "unter Würdigung der besonderen Umstände" bloss geschätzt werden kann. die Sach- und Rechtslage ist auch völlig anders als bei einer erbrechtlichen Vorteilsausgleichung im Rahmen eines Versorgerschadens, wo es um einen Bilanzausgleich geht. Hier ist nicht auszugleichen, sondern abzuwägen, inwieweit die Tatsache, dass die Angehörigen die Genugtuung des Verletzten erben, bei der Festsetzung ihrer eigenen Entschädigung mitberücksichtigt werden soll. So ist zu differenzieren, ob der Ansprecher ohnehin einmal Erbe geworden wäre oder ob den Angehörigen durch den Todesfall Vorteile erwachsen, die ihnen bei einem natürlichen Ableben des Geschädigten aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zugefallen wären. Solche Umstände können im Rahmen des Ermessensentscheids bei der Festsetzung der Entschädigung mitberücksichtigt werden.
b) Die Kläger verlangen für beide Elternteile eine Genugtuungssumme von je Fr. 25'000.--, für die Schwester eine solche von Fr. 15'000.--.
aa) Die Genugtuung bezweckt ausschliesslich eine Abgeltung für erlittene Unbill, indem das Wohlbefinden anderweitig gesteigert oder dessen Beeinträchtigung erträglicher gemacht wird. Ob und in welcher Höhe Genugtuung zuzusprechen ist, hängt neben der Schwere der Unbill von der Aussicht ab, dass die Zahlung eines Geldbetrages den körperlichen oder seelischen Schmerz spürbar lindern wird (
BGE 115 II 158
E. 2 mit Hinweisen).
Reto W. erlitt beim Unfall vom 12. April 1979 im Alter von fast sieben Jahren äusserst schwere Hirnverletzungen mit nachfolgender Tetraplegie. Er wurde 1980 nach Hause entlassen und von seiner Mutter gepflegt, welche deswegen ihren Beruf aufgegeben hatte. Der vollinvalide Sohn hat durch die Pflege im Kreise seiner Angehörigen mehr Zuwendung und Wärme erfahren als in einem Pflegeheim. Die räumliche Nähe und der grosse Schmerz, der den Eltern erwuchs, haben trotz der entstandenen Unannehmlichkeiten die persönliche Beziehung der Betroffenen zum Geschädigten ohne Zweifel noch vertieft. Es bedarf deshalb nicht vieler Worte, dass der Tod von Reto W. den hinterbliebenen seelisches Leid verursacht hat und dass eine Entschädigung für diese erlittene Unbill geschuldet ist.
bb) Die Frage, ob und in welchem Ausmass eine Mitberücksichtigung in Betracht gezogen werden soll, hängt entscheidend von den Gegebenheiten des Einzelfalles ab, wobei auch hier dem Richter - wie bei der Bemessung einer Genugtuung an sich - ein breiter
BGE 118 II 404 S. 409
Ermessensspielraum zusteht (
BGE 117 II 60
E. 4a/aa). Vorliegend rechtfertigt es sich, den Eltern eine Genugtuung von je Fr. 15'000.-- nebst Zins zu 5% seit dem 19. November 1988 zuzusprechen.
cc) Die Vorinstanz hat der Schwester von Reto W. eine solche Abfindung auch deshalb versagt, weil nach Aussagen der Eltern Retos Tod bei ihr nicht nur Betroffenheit ausgelöst habe. Dem Mädchen, das in diesem Zeitpunkt vierzehn Jahre alt gewesen war, sei damit eine jahrelange Last weggenommen worden. Dass Martina W. durch das Ableben ihres hilflosen Bruders, mit dessen Leid sie tagtäglich konfrontiert war, ihrerseits von einer seelischen Pein erlöst worden war, ist einfühlbar. Ebenso verständlich ist, dass ihre Lebensfreude während dieser Zeit eingeschränkt war. Diese Umstände allein erlauben indessen nicht, von der Zusprechung einer Genugtuung abzusehen. Vorweg sprechen ethische Gesichtspunkte klar dagegen, den Tod eines Menschen, für den ein Haftpflichtiger verantwortlich ist, als Erlösung zu betrachten und eine Betroffenheit der Hinterbliebenen leichthin zu verneinen. Martina W. hat gemäss dem angefochtenen Urteil Mühe bekundet, ihren invaliden Bruder zu akzeptieren, ist zu einem ruhigen Mädchen geworden und hat sich zurückgezogen. Diese Persönlichkeitsveränderungen hätten ohne Zweifel für die Zusprechung einer Entschädigung für seelische Unbill nach
Art. 49 OR
ausgereicht, wäre dieser Anspruch nicht verjährt gewesen (E. 2e). Die Schwierigkeiten, die Martina W. mit der psychischen Verarbeitung der Invalidität ihres Bruders hatte, und die in derartigen Fällen grösser als im Fall des Todes sein können (
Art. 49 OR
; vgl.
BGE 112 II 223
E. c) und die mit dem Hinschied von Reto W. weggefallen sind, dürfen grundsätzlich nicht mit dem seelischen Schmerz für den Verlust ihres Bruders nach
Art. 47 OR
gegeneinander abgewogen werden, denn diese Ansprüche bestehen unabhängig voneinander. Martina W. wird sich zeitlebens an die mit ihrem Bruder verbrachte Kindheit erinnern, die durch den Unfall jäh abgebrochen wurde, und sein Tod hat sie nach dem angefochtenen Urteil erschüttert. Es erscheint deshalb angemessen, ihr für diesen Schmerz eine Genugtuung von Fr. 6'000.-- zuzubilligen, welche ab Todestag zu verzinsen ist.