Urteilskopf
118 III 46
15. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 4. Juni 1992 i.S. Konkursmasse der G. AG gegen H. (Berufung)
Regeste
Art. 219 Abs. 4 erste Klasse lit. a SchKG; Konkursprivileg des Arbeitnehmers.
Voraussetzungen, unter denen dem Arbeitnehmer für seine Forderungen aus dem Arbeitsverhältnis ein Konkursprivileg der ersten Klasse (Lohnprivileg) zusteht (Zusammenfassung der Rechtsprechung, E. 2).
Das für die Gewährung des Lohnprivilegs erforderliche tatsächliche Unterordnungsverhältnis fehlt bei einem Arbeitnehmer, welcher nicht nur Geschäftsführer, sondern auch Mitglied des Verwaltungsrats der in Konkurs gefallenen Gesellschaft war und dem daher Organstellung zukam (E. 3).
A.-
H. war ab Februar bis Ende August 1986 als Geschäftsführer bei der G. AG angestellt. Während der Dauer seiner Anstellung war H. überdies einzelzeichnungsberechtigtes Mitglied des Verwaltungsrats dieser Firma. Verwaltungsratspräsident der G. AG, die sich bereits im Zeitpunkt der Anstellung von H. in finanziellen Schwierigkeiten befand, war der deutsche Staatsangehörige U.
Ende August 1986 wurde über die G. AG der Konkurs eröffnet. H., der bis zu diesem Zeitpunkt keine einzige Lohnzahlung erhalten hatte, meldete seine diesbezüglichen Ansprüche im Konkurs zur Kollokation an. Diese Forderung verwies die Konkursverwaltung in die fünfte Klasse und machte überdies Verrechnung mit Verantwortlichkeitsansprüchen gegen H. als Verwaltungsratsmitglied und Geschäftsführer geltend.
B.-
Auf Kollokationsklage von H., mit welcher er seine Lohnansprüche in der ersten Klasse kolloziert sehen wollte, kollozierte der zuständige Einzelrichter mit Urteil vom 1. Februar 1990 die Forderung in reduziertem Betrage in der fünften Klasse und wies im übrigen die Klage ab. Der Richter betrachtete hingegen die Verrechnungseinrede der Konkursmasse als unbegründet, weil weder ein schadenverursachendes Verhalten des Klägers habe nachgewiesen werden können noch die Verantwortlichkeitsansprüche ausgewiesen seien.
Das Obergericht des Kantons Zürich hiess indessen die Klage am 5. Juli 1991 teilweise gut und kollozierte die Forderung von H. in reduziertem Betrage (unter Abzug bezogener Insolvenzleistungen der Arbeitslosenversicherung) in der ersten Klasse; im Mehrbetrag wies es die Klage ebenfalls ab.
C.-
Mit Berufung vom 26. August 1991 beantragt die Konkursmasse der G. AG, Ziffer 1 des vorinstanzlichen Urteilsdispositivs
BGE 118 III 46 S. 48
insofern abzuändern, als H. mit der Forderung in dem ihm zugesprochenen Betrage in die fünfte Klasse zu verweisen sei.
Während das Obergericht auf Gegenbemerkungen zur Berufung verzichtet hat, beantragt H. die vollumfängliche Abweisung der Berufung.
Das Bundesgericht heisst die Berufung gut, soweit es darauf eintritt. Es hebt das angefochtene Urteil auf und kolloziert die Forderung von H. in der fünften Klasse.
Aus den Erwägungen:
2.
Art. 219 Abs. 4 erste Klasse lit. a SchKG bestimmt zur Rangordnung der Konkursgläubiger, dass die Forderungen von Arbeitnehmern und Heimarbeitern aus dem Arbeitsverhältnis, die in den letzten sechs Monaten vor der Konkurseröffnung entstanden sind, in der ersten Klasse aufzuführen, d.h. zu kollozieren sind.
a) Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur alten, bis 1964 geltenden Fassung des Art. 219 Abs. 4 erste Klasse lit. a SchKG (AS 11 529), in welcher verschiedene Kategorien von Arbeitnehmern (Dienstboten, Kommis und Büroangestellte, Fabrik- und andere in Tag- oder Wochenlohn gedungene Arbeiter) dem Privileg zugeordnet wurden, stellte sich auf den Standpunkt, dass eine solche Bevorzugung gegenüber den andern Gläubigern lediglich bei Personen gerechtfertigt sei, die wegen ihrer schwachen sozialen Stellung und der wirtschaftlichen Abhängigkeit von ihrem Arbeitgeber nicht in der Lage seien, ihren Lohnanspruch rechtzeitig und ungehindert durchsetzen zu können (
BGE 52 III 147
E. 3 mit Hinweisen;
BGE 36 II 134
E. 3a). In Lehre und Rechtsprechung wurde der Kreis der Arbeitnehmer, die des Konkursprivilegs teilhaftig werden sollen, klar gegenüber den nicht privilegierten abgegrenzt.
So gehörten zu den letzteren all jene, die eine wirtschaftlich selbständige Tätigkeit ausüben, also etwa Mitglieder von Verwaltungsräten und Kontrollbehörden (so BLUMENSTEIN, Handbuch des schweizerischen Schuldbetreibungsrechts, Bern 1911, S. 684), dann aber auch Geschäftsführer, Direktoren und andere, die eine arbeitgeberähnliche Stellung ausüben, d.h. über mehr oder weniger grosse Unabhängigkeit verfügen, massgeblich an der Geschäftspolitik teilhaben, Einsicht in die Geschäftsunterlagen haben und nicht in einem Unterordnungsverhältnis stehen (
BGE 52 III 147
f.; JAEGER,
BGE 118 III 46 S. 49
Schuldbetreibung und Konkurs, Bd. II, Zürich 1911, N 15 zu
Art. 219 SchKG
).
b) Diese einschränkenden Kriterien wurden durch die Änderung des Art. 219 Abs. 4 erste Klasse lit. a SchKG gemäss
Art. 63 des Bundesgesetzes über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel (ArG; SR 822.11)
im Jahre 1964 nicht in Frage gestellt (vgl. BÉATRICE GROB-ANDERMACHER, Die Rechtslage des Arbeitnehmers bei Zahlungsunfähigkeit und Konkurs des Arbeitgebers, Diss. Zürich 1982, S. 59; FRANZ K. BRÖNNIMANN, Der Arbeitgeber im Konkurs, Diss. Basel 1982, S. 64). Davon gehen verschiedene kantonale Gerichtsbehörden ebenfalls aus (ZBJV 127/1991 S. 143; BlSchK 53/1989 S. 193 f.; ZR 77/1978 S. 52 f.; SJZ 74/1978 S. 363). In einem unveröffentlichten Entscheid vom 23. Februar 1985 in Sachen H. c. O. hat das Bundesgericht im besonderen darauf hingewiesen, dass die Änderung von 1964 nicht bezweckt habe, das Erfordernis des Nachweises eines Unterordnungsverhältnisses zu beseitigen; diese Änderung sei vielmehr durch den Wunsch bestimmt worden, die zeitliche Abstufung durch eine einheitliche Frist, die neu für alle Arbeitnehmer gelten soll, zu ersetzen und dieses Privileg, das bisher nur für Lohnforderungen galt, auf alle Forderungen aus dem Arbeitsverhältnis auszudehnen (vgl. Botschaft des Bundesrates vom 30. September 1960, in BBl 1960 II 1011 f.; HUG, Kommentar zum Arbeitsgesetz, Bern 1971, S. 32 f.; BIGLER, Kommentar zum Arbeitsgesetz, 3. A. Bern 1986, S. 32; CLAUS HUTTERLI, Der leitende Angestellte im Arbeitsrecht, Diss. Zürich 1982, S. 109). Bestätigt wurde diese Auffassung in einem unveröffentlichten Entscheid des Bundesgerichts vom 8. September 1989 in Sachen T. c. G., dem der Sachverhalt, wie er in ZBJV 127/1991 S. 142 ff. geschildert wird, zugrunde lag.
c) Unter diesen Umständen ist anzunehmen, Art. 219 Abs. 4 erste Klasse lit. a SchKG bezwecke nach wie vor, aus sozialpolitischen und humanitären Gründen die wirtschaftlich und persönlich vom Arbeitgeber abhängigen Arbeitnehmer wenigstens in einem zeitlich begrenzten Rahmen gegenüber andern Gläubigern zu bevorzugen (vgl. AMONN, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 4. A. Bern 1988, S. 343; FRANZ K. BRÖNNIMANN, a.a.O., S. 61 und 64; GUGLIELMO BRUNI, Die Stellung des Arbeitnehmers im Konkurs des Arbeitgebers, in BJM 1982 S. 293 f.). Das Bundesgericht geht daher seit längerem davon aus, dass es nebst dem erforderlichen Bestehen eines Dienst- oder Arbeitsvertrages (vgl. dazu die Kritik von GUGLIELMO BRUNI, a.a.O., S. 295) für die Gewährung des Lohnprivilegs entscheidend darauf ankomme, ob ein tatsächliches
BGE 118 III 46 S. 50
Subordinationsverhältnis vorhanden ist (a.M. FRANZ K. BRÖNNIMANN, a.a.O., S. 65 und insbesondere 79 ff.). Ein solches Subordinationsverhältnis fehlt dann, wenn Arbeitnehmer, wie etwa Direktoren einer Aktiengesellschaft oder einer Genossenschaft, über eine mehr oder weniger grosse Unabhängigkeit und Selbständigkeit verfügen (
BGE 52 III 147
E. 3). Im bereits erwähnten Entscheid vom 8. September 1989 (siehe E. 2b) wurde darauf hingewiesen, dass es nicht auf die Bezeichnung eines Arbeitnehmers - etwa als Direktor oder Prokurist - ankomme; so wurde einem Generaldirektor einer Aktiengesellschaft das Konkursprivileg zuerkannt, weil er den Weisungen des Verwaltungsrats unterstand.
3.
Das Obergericht hat festgestellt, dass dem Kläger, der einzelzeichnungsberechtigtes Mitglied des Verwaltungsrats der G. AG gewesen sei, in rechtlicher Hinsicht zweifellos eine eigentliche Führungsposition mit hoher Entscheidkompetenz zugekommen sei. Dass er diese Position nicht ausgefüllt habe, könne er weder der Konkursmasse noch den andern Gläubigern entgegenhalten, so wenig wie ihn dies von der Verantwortlichkeit als Organ entbinden könne. Das heisse aber nicht, dass er deswegen des Lohnprivilegs verlustig gehen müsse. Denn er stehe - obgleich Mitglied des Verwaltungsrats - zur Beklagten unstreitig in einem Arbeitsverhältnis. Soweit ihn die Konkursmasse in die fünfte Klasse verweisen wolle, dürfe dies nicht nur aus sozialen Überlegungen geschehen, weil diese Kategorie von Arbeitnehmern - trotz der hohen Besoldung - ebenso in Schwierigkeiten geraten könne wie andere Angestellte (dazu BÉATRICE GROB-ANDERMACHER, a.a.O., S. 59 und 64). Es könne daher - so das Obergericht - nicht ausschliesslich auf die hierarchische Stellung des Arbeitnehmers im Betrieb ankommen, sondern ebenso darauf, ob eine Kollokation in der ersten Klasse deshalb als ungerechtfertigt erscheine, weil sich der Arbeitnehmer in Wirklichkeit - wenn nicht rechtlich, so doch wirtschaftlich - in der Stellung des Arbeitgebers befinde und daher das volle Unternehmerrisiko, wie es sich im Konkurs verwirklicht, tragen soll. Das sei der Fall, wenn der Arbeitnehmer nicht nur Geschäftsführer, Direktor und/oder Mitglied des Verwaltungsrats sei, sondern wirtschaftlich massgeblich am Unternehmen beteiligt sei, also z.B. ein entsprechendes Aktienpaket zu Eigentum halte. Fehle es aber - wie hier, wo von einer wirtschaftlich beherrschenden Stellung des Klägers keine Rede sein könne und auch kein Aktienbesitz nachgewiesen sei - an der tatsächlichen Firmenherrschaft und befinde sich der leitende Angestellte wirtschaftlich in einer Position der Abhängigkeit, so bestehe kein
BGE 118 III 46 S. 51
Anlass, ihn bei der Kollokation nicht in der ersten Klasse zu berücksichtigen.
a) Dem Obergericht kann in dieser Argumentation nicht gefolgt werden. Nach dessen Auffassung - wie sie sich auch im Schrifttum findet (insbesondere BÉATRICE GROB-ANDERMACHER, a.a.O., S. 64) - wäre für den Entscheid wesentlich, ob der betreffende leitende Angestellte (Geschäftsführer, Direktor und/oder Mitglied des Verwaltungsrats) wirtschaftlich massgeblich am Unternehmen beteiligt ist, so beispielsweise ein entsprechendes Aktienpaket zu Eigentum hält. Das Kriterium der wirtschaftlich massgeblichen Beteiligung würde eine Ausdehnung des Lohnprivilegs auf höchste Angestellte mit Organstellung erlauben, die zwar über keinen oder nur einen bescheidenen Aktienbesitz, wohl aber infolge ihrer Doppelfunktion zwangsläufig über eine grosse Unabhängigkeit verfügen, wirtschaftlichen Einfluss ausüben und entsprechende Verantwortung zu tragen haben. Wie bereits ausgeführt (siehe E. 2c), ist indessen nach wie vor das Bestehen eines rechtlichen und tatsächlichen Subordinationsverhältnisses wesentliche Voraussetzung dafür, dass ein Arbeitnehmer in den Genuss des Lohnprivilegs kommen kann. Ob der Arbeitnehmer in einem solchen Subordinationsverhältnis zum Arbeitgeber steht oder, im Gegenteil, über eine mehr oder weniger grosse Unabhängigkeit und Selbständigkeit im Betrieb verfügt, beurteilt sich nach der tatsächlichen Stellung des Arbeitnehmers innerhalb der Unternehmung. Über diese interne Stellung lässt sich aus der Anzahl Aktien, die ein Arbeitnehmer zu Eigentum hält, kein Rückschluss ziehen; der Aktienbesitz als solcher ist daher ein sachfremdes Kriterium. Die Entstehungsgeschichte des Lohnprivilegs und die bisherige bundesgerichtliche Praxis zu Art. 219 Abs. 4 erste Klasse lit. a SchKG, an der festzuhalten ist, sprechen klar gegen die Ausdehnung einer konkursrechtlichen Privilegierung auf alle formell unter den Begriff des Arbeitnehmers fallenden Personen (etwa in Anlehnung an den weitgefassten Arbeitnehmerbegriff des Sozialversicherungsrechts; vgl. dazu
BGE 115 V 55
ff.). Vielmehr soll wie bis anhin nur demjenigen Arbeitnehmer ein Konkursprivileg zustehen, für welchen ein erhöhtes Schutzbedürfnis besteht, d.h. welcher in ausgeprägter Weise vom Arbeitgeber abhängig ist und mit Blick auf seine Unterordnung auch bei gefährdeter Finanzlage des Unternehmens notgedrungen nicht rechtzeitig anders disponieren, geschweige denn auf Geschäftsgang und Firmenpolitik entscheidenden Einfluss nehmen kann (vgl. SJZ 74/1978 S. 363).
BGE 118 III 46 S. 52
b) Der Verwaltungsrat ist oberstes Exekutivorgan der Aktiengesellschaft. Ihm obliegt die eigentliche Geschäftsführung (
Art. 722 Abs. 1 OR
), und er vertritt die Gesellschaft nach aussen (Art. 717 f. OR; vgl. dazu GUHL/KUMMER/DRUEY, Das schweizerische Obligationenrecht, 8. A. Zürich 1991, S. 692 ff.). Jedes Verwaltungsratsmitglied ist berechtigt, in der Sitzung des Verwaltungsrats von den geschäftsführenden Personen Auskunft über den Geschäftsgang und über einzelne Geschäfte zu verlangen, und ausserdem kann der Verwaltungsrat die Vorlegung der Bücher und Akten anordnen (
Art. 713 Abs. 1 OR
). M.a.W. kommt einem Mitglied des Verwaltungsrats, wie die Vorinstanz mit Recht ausführt, in rechtlicher Hinsicht eine eigentliche Führungsposition mit hoher Entscheidkompetenz zu. Der Kläger, welcher Geschäftsführer und einzelzeichnungsberechtigtes Mitglied des Verwaltungsrats der in Konkurs gefallenen Unternehmung war, stand zwar in einem Arbeitsverhältnis, aber es fehlte wegen seiner Organstellung in tatsächlicher Hinsicht an einem Unterordnungsverhältnis. Daran vermag nichts zu ändern, wenn das Verwaltungsratsmitglied die im Gesetz umschriebene Funktion nicht ausfüllte und untätig blieb bzw. als Strohmann bloss die Anordnungen anderer ausführte; denn für den Geschäftsgang trägt es - zusammen mit den andern Mitgliedern der Verwaltung - auch in solchen Fällen die Verantwortung und untersteht für pflichtwidriges Handeln der Organhaftung (
Art. 754 Abs. 1 OR
). Unter den hier gegebenen Umständen rechtfertigt es sich somit nicht, vom Prinzip der Gleichbehandlung der Gläubiger im Konkurs des Schuldners abzuweichen. Dem Kläger steht für seine Lohnforderung kein Konkursprivileg zu.