Urteilskopf
118 IV 213
38. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 9. Juli 1992 i.S. H. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zug (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste
Art. 42 Ziff. 1 StGB
; Verwahrung, Verhältnismässigkeit.
Bei der Verwahrung ist in bezug auf die Anlasstat und die zu erwartenden Delikte der Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu beachten: Eine Verwahrung ist umso zurückhaltender anzuordnen, je geringer die zu erwartenden Straftaten sind; auch im Falle von mittelschweren Anlasstaten kann auf eine Verwahrung verzichtet werden.
A.-
Der österreichische Staatsangehörige H. wurde durch das Bezirksgericht Unterrheintal am 8. Juni 1977 auf Lebenszeit des
BGE 118 IV 213 S. 214
Landes verwiesen. Nachdem er danach dennoch in der Schweiz wiederholt straffällig geworden war, wurde er durch das Bezirksgericht Werdenberg am 27. November 1986 erstmals als Gewohnheitsverbrecher verwahrt. Am 15. Juli 1989 wurde er bedingt aus der Verwahrung entlassen, unter Ansetzung einer Probezeit von drei Jahren. Trotz erneuter Straffälligkeit wurde zweimal auf eine Rückversetzung verzichtet (18.1.1990 und 10.5.1990).
Am 19. Oktober 1990 reiste H. erneut in die Schweiz ein. Gleichentags drang er in das Einfamilienhaus der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde des Kantons Zug in Zug ein und entwendete Fr. 100.--, Manschettenknöpfe im Wert von Fr. 150.-- und zwei paar Handschuhe. Am 21. Oktober 1990 brach er unmittelbar hintereinander in die Büroräumlichkeiten der Firmen Baur AG und Varga AG in Rotkreuz ein, wobei er am ersten Ort Hartgeld im Werte von ca. Fr. 60.-- bis Fr. 70.-- mitnahm. In der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 1990 drang er schliesslich in das Fabrikgebäude der Firma Wetra/Trachsel AG in Weite/SG ein, wo eine Fotofalle Alarm auslöste, was H. zur Flucht zwang. Bei den Einbrüchen entstand Sachschaden von rund Fr. 1'700.--. Am 24. Oktober 1990 wurde H. in Lausanne durch die Polizei angehalten.
H. wurde seit 1976 in der Schweiz insgesamt elfmal wegen Verbrechen und Vergehen, davon achtmal wegen Diebstahls oder gewerbsmässigen Diebstahls verurteilt.
B.-
Am 19. Juli 1991 sprach das Strafgericht des Kantons Zug H. des gewerbsmässigen Diebstahls, der wiederholten Sachbeschädigung, des wiederholten Hausfriedensbruchs sowie des Verweisungsbruchs schuldig und bestrafte ihn mit neun Monaten Gefängnis (unter Anrechnung der Untersuchungshaft und des vorzeitigen Strafvollzuges); anstelle des Vollzuges der Freiheitsstrafe wurde gestützt auf
Art. 42 Ziff. 1 StGB
die Verwahrung angeordnet.
Am 8. April 1992 wies das Strafobergericht des Kantons Zug die Berufung von H. ab und bestätigte das Urteil des Strafgerichts.
C.-
Gegen dieses Urteil wendet sich H. mit staatsrechtlicher Beschwerde und Nichtigkeitsbeschwerde ans Bundesgericht. Die Nichtigkeitsbeschwerde richtet sich insbesondere gegen die angeordnete Verwahrung. In diesem Punkt beantragt er Aufhebung des angefochtenen Urteils und Entlassung aus der Strafanstalt. Im weitern beansprucht er für die zuviel verbüssten Tage in der Strafanstalt eine Haftentschädigung.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zug beantragt, die Nichtigkeitsbeschwerde abzuweisen.
BGE 118 IV 213 S. 215
Aus den Erwägungen:
2.
a) Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz habe bei der Prüfung der Voraussetzungen von
Art. 42 StGB
nicht die Schwere der Einzeltaten, sondern die Vielzahl der Taten berücksichtigt und damit das Verhältnismässigkeitsprinzip und
Art. 42 StGB
verletzt.
b) Ausgangspunkt bildete für die Vorinstanz die Frage, ob mit konkreten resozialisierenden Massnahmen eine Fortsetzung der seit rund 25 Jahren andauernden Einbruchserie des Beschwerdeführers abgewendet werden könnte. Auch wenn seine Einzeltaten, bei denen der durch Einbruch angerichtete Sachschaden den Wert des Diebesgutes vielfach überstiegen habe, wirtschaftlich nicht als gravierend beurteilt werden müsse, sei angesichts der Häufung der Delikte auch gegenüber einem solchen Täter, der sich zudem seit Jahren immer wieder der Landesverweisung widersetze, der geltenden Rechtsordnung Nachachtung zu verschaffen. Das strafbare Verhalten des Beschwerdeführers gründe offensichtlich auf der durch seine soziale Entwurzelung beruhenden oder ihm dadurch aufgenötigten Einstellung, seinen Lebensunterhalt deliktisch zu bestreiten. Sein Vorleben lasse ihn mit Blick auf die Zahl der Einzeldelikte und früheren Verurteilungen wegen immer gleicher Straftaten im Zusammenhang mit Einbrüchen ohne weiteres als "Gewohnheitstäter" erscheinen. Eine Besserung sei auch nach der Vielzahl der vollzogenen Freiheitsstrafen nicht eingetreten. Eine erneute schuldangemessene Gefängnisstrafe allein vermöchte den Beschwerdeführer nicht nachhaltig von neuen Straftaten abzuhalten.
c) Die Verwahrung gemäss
Art. 42 StGB
setzt unter anderem voraus, dass ein Täter schon zahlreiche Verbrechen oder Vergehen vorsätzlich verübt hat und ihm deswegen durch Zuchthaus- oder Gefängnisstrafen oder eine Arbeitserziehungsmassnahme oder eine Verwahrung als Gewohnheitsverbrecher die Freiheit während insgesamt mindestens zwei Jahren entzogen wurde; ferner, dass er innert fünf Jahren seit der endgültigen Entlassung ein neues vorsätzliches Verbrechen oder Vergehen, das seinen Hang zu Verbrechen oder Vergehen bekundet, begeht (Ziff. 1 Abs. 1).
aa) Dieser Bestimmung lässt sich nichts über die Schwere sowohl der Anlasstat als auch früher begangener und in Zukunft zu erwartender Delikte entnehmen. Hatte das Bundesgericht in seiner älteren Praxis dieser Frage noch keine nähere Beachtung geschenkt (vgl.
BGE 73 IV 223
; insbesondere zur Schwere der früheren Delikte
BGE 70 IV 58
und
BGE 101 IV 269
), so hielt es in
BGE 102 IV 14
fest,
BGE 118 IV 213 S. 216
die Schwere der früheren und neuen Delikte sei nicht völlig bedeutungslos. Denn seien die in
Art. 42 Ziff. 1 Abs. 1 StGB
erwähnten Voraussetzungen gegeben, so "könne" der Richter die Verwahrung anordnen. Demnach gelte entsprechend dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit, dass je geringfügiger die zu erwartenden Straftaten seien, desto zurückhaltender die Anordnung einer Verwahrung erfolgen müsse.
In Fortführung dieser Rechtsprechung hielt der Kassationshof in seinem Urteil vom 27. September 1991 i.S. G. fest, es treffe zwar zu, dass bei Übertretungen und Bagatelldelikten eine Verwahrung nicht angeordnet werden könne. Dies heisse aber nicht, dass sie bei mittelschweren Delikten, die insbesondere keine Übertretungen mehr darstellten, verfügt werden müsse. Es sei insbesondere auch im Falle von mittelschweren Delikten auf die Anordnung einer Sicherungsverwahrung zu verzichten, wenn sie unverhältnismässig wäre.
bb) Die Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit bei der Verwahrung wird in der Literatur weitgehend begrüsst. STRATENWERTH (Schweiz. Strafrecht, Allg. Teil II,
§ 10 N 28
, insbesondere N 31, und
§ 9 N 25
) hält dazu fest, dass die Verwahrung überhaupt erst dort in Betracht gezogen werden dürfe, wo die vom Täter zu befürchtenden Delikte eine bestimmte Mindestschwere erreichten. Was bleibe, sei die Schwierigkeit, die erforderliche Mindestschwere möglicher weiterer Delikte exakter zu umschreiben. Die Zäsur müsse im breiten Mittelfeld der Delinquenz erfolgen: Straftaten, die für sich genommen, Freiheitsstrafe von nicht mehr als einigen Monaten rechtfertigen würden, genügten in keinem Falle, auch bei häufiger Begehung nicht. Erst wo die Grenze von einem oder gar anderthalb Jahren Freiheitsstrafe überschritten werde, könne die Verwahrung allenfalls als verhältnismässig erscheinen, weshalb
BGE 102 IV 14
im Ergebnis verfehlt sei. Für SCHULTZ (Einführung in den allgemeinen Teil des Strafrechts, 2. Band, 4. Auflage, S. 135) bedeutet der Grundsatz der Verhältnismässigkeit, dass eine sichernde Massnahme nur dann angeordnet werden darf, wenn sie der Art und Schwere der vom Täter begangenen Tat und der von ihm zu erwartenden Delikte sowie der Höhe der Wahrscheinlichkeit neuer Straftaten entspricht (vgl. auch seine Zustimmung zum Verhältnismässigkeitsprinzip S. 195). Auch er hält deshalb
BGE 102 IV 14
im Ergebnis für problematisch (ZBJV 1977, 113, S. 526/527; vgl. auch seine Kritik an einem Urteil der II. Strafkammer des Kantons Bern vom 12. November 1963, die wegen eines Diebstahls eines schwer vorbestraften Angeschuldigten im Deliktsbetrag von Fr. 166.-- eine
BGE 118 IV 213 S. 217
Verwahrung anordnete, in ZBJV 1973, 109, S. 126/127). ALBRECHT (Die allgemeinen Voraussetzungen zur Anordnung freiheitsentziehender Massnahmen gegenüber erwachsenen Delinquenten, Basel/Frankfurt 1981, S. 55/56) will dem Verhältnismässigkeitsprinzip insofern Rechnung tragen, als eine freiheitsentziehende Massnahme stets auszuschliessen sei, falls lediglich Übertretungen begangen wurden; dasselbe müsse für Verbrechen oder Vergehen gelten, soweit sie im konkreten Fall mit einer Freiheitsstrafe von höchstens drei Monaten geahndet würden. - Die Berücksichtigung des Verhältnismässigkeitsprinzipes bei der Anlasstat befürwortet - ohne nähere Begründung - auch TRECHSEL (Kurzkommentar StGB,
Art. 42 N 6
); ebenso offenbar auch HOFMANN (Die Verwahrung nach
Art. 42 StGB
, insbesondere in der Praxis der Ostschweizer Konkordatskantone, Diss. Zürich 1985, insbesondere S. 119). Einzig REHBERG (Fragen bei der Anordnung und Aufhebung sichernder Massnahmen nach Art. 42 bis 44 StGB, ZStrR 93, 1976, S. 218/19) vertrat unter Berufung auf den Gesetzgeber (kritisch dazu STRATENWERTH, a.a.O.,
§ 9 N 25
und
§ 10 N 30
) die Auffassung, dass es sich beim Anordnungsdelikt und bei den künftig zu befürchtenden Delikten um geringfügige Taten handeln könne; heute scheint er indessen einer Berücksichtigung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes nicht mehr zu opponieren (Grundriss Strafrecht II, 5. Auflage, Zürich 1989, S. 105; vgl. auch HAUSER/REHBERG, Textausgabe StGB, 12. Auflage S. 70).
cc) Aus dem vom Bundesgericht in bezug auf die Anlasstat und die zu erwartenden Delikte angewandten und von der Lehre befürworteten Grundsatz der Verhältnismässigkeit folgt nach dem Gesagten, dass die Anordnung einer Verwahrung umso zurückhaltender zu erfolgen hat, je geringer die zu erwartenden Straftaten sind, und dass auch im Falle von mittelschweren Delikten auf die Anordnung einer Sicherungsverwahrung unter Umständen verzichtet werden kann.
d) Im Lichte dieser Ausführungen ist im vorliegenden Fall folgenden Gesichtspunkten Rechnung zu tragen:
aa) Was die früher begangenen Delikte anbelangt, so ist nicht zu verkennen, dass der Beschwerdeführer allein in der Schweiz zwischen 1976 und 1990 elfmal verurteilt werden musste; dies vorwiegend wegen spezifischer Einbruchsdelikte (Diebstahl, Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung), sowie wegen Verweisungsbrüchen. Es wurden dabei Strafen zwischen fünf Tagen und 22 Monaten Gefängnis ausgefällt. Hinzu kommen mehrere Verurteilungen wegen Vermögensdelikten im Ausland. Das Bezirksgericht
BGE 118 IV 213 S. 218
Werdenberg sprach denn auch am 17. November 1986 gegen den Beschwerdeführer die erste Verwahrung aus. Es erkannte auf eine Grundstrafe von 14 Monaten Gefängnis und ging dabei bei acht Einbruchdiebstählen von einer Deliktsumme von ca. Fr. 5'000.-- und von einem Sachschaden im Werte von Fr. 5'500.-- aus.
bb) Indessen ist nach dem Gesagten bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit auch die Schwere der Anlasstat zu berücksichtigen. Zwar wendet sich der Beschwerdeführer einzig gegen die Anordnung der Verwahrung. In diesem Zusammenhang ist aber - und zwar von Amtes wegen (iura novit curia) - zu prüfen, ob die neuen Delikte rechtlich zutreffend gewürdigt worden sind. Im vorliegenden Fall umfassen die eigentlichen Anlasstaten drei oder vier Einbrüche zwischen dem 19. und 23. Oktober 1990, bei denen der Beschwerdeführer den Betrag von Fr. 160.-- sowie Manschetten im Werte von Fr. 150.-- und zwei Paar Handschuhe behändigte; dabei entstand ein Sachschaden von Fr. 1'700.--. Wie schon das Strafgericht ging auch die Vorinstanz davon aus, dass der Beschwerdeführer des gewerbsmässigen Diebstahls im Sinne von
Art. 137 Ziff. 1bis StGB
schuldig und daher eine Strafe von neun Monaten Gefängnis angemessen sei; auch sie ordnete anstelle des Vollzugs der Freiheitsstrafe eine Verwahrung an. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts (
BGE 116 IV 319
) können die erwähnten Anlasstaten indessen nicht als gewerbsmässig begangen bezeichnet werden, womit sich die ausgefällte Strafe klar als zu hoch erweist. Da die in Frage stehenden Delikte darüber hinaus als geringfügig zu bezeichnen sind, erscheint die Anordnung einer Sicherungsverwahrung im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung als offensichtlich unverhältnismässig. Der angefochtene Entscheid ist daher aufzuheben.